Gerhard „Gundi“ Gundermann wäre 66

Oder:

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Und wenn ich nicht mehr rennen kann

Da kann ich noch n bissel gehn

Und wenn ich nicht mehr gehn kann

Will ich hier noch n bissel rumstehn

Wenn ich nicht mehr stehn kann

Da schaffe ich es noch zu kriechen

Und wenn ich nicht mal mehr liegen kann

Dann fang ich eben wieder an zu fliegen

Jaja

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Als ich im letzten Herbst aus dem Gundermann – Abend am Stadttheater ein Solo – Programm bastelte, wurde mir erst richtig klar, wieviel Trost die Texte von Gundermann bereithalten. Die meisten Lieder entstanden in den Neunzigern, als die verbliebene Bevölkerung der untergegangenen DDR mannigfache Einbrüche, Umbrüche, Zusammenbrüche zu durchleben hatte, neu gewonnene Freiheit hin oder her. Was ist die eigene Biographie wert? Was bleibt von einem Leben?

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Und wofür waren all die Jahre

Die ich mein Fleisch ins Eisen schlug

Und wofür ließ ich meine Haare

Wofür bin ich nun hart genug

Daß ich meine Taschen fülle

Und mein Konto endlich auch

Und daß ich volle Flaschen kille

Und trage statt mein Kreuz ein Bauch

Hör die Wölfe heulen

Wale fallen wie Tränen auf die Strände

Ach, es ist noch nicht zu Ende

Hör die Wölfe heulen

Wale fallen wie Tränen auf die Strände

Ach, es ist noch nicht zu Ende

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Zweimal hat Freundchen Corona meinen „Gundermännern“ letztes Jahr den Stecker gezogen. Erst im März, dann im November. Es wird jedoch weitergemacht. Hier von 4:30 an.

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Immer wieder wächst das Gras

Klammert all die Wunden zu

Manchmal stark und manchmal blaß

So wie ich und du

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Zum Schluß hier ein großes Danke schön an Heiner Kondschak. Ohne den kein Gundermann im Westen. Und den König von Deutschland verdanke ich ihm auch. Noch ein Trostlied. (Schöne Erinnerungen an die Terrasse bei Tübingen. Damals mehr Sommer und sehr viel Hoffnung!) Überlebt wird ganz gewiß bis Übermorgen. Und mehr.

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PS: Die Fotos hier: Gundermanns Schaltzentrale in der KuFa Hoyerswerda. Uwe Proksch und Reinhard „Pfeffi“ Ständer hatten mir damals sehr geholfen, als ich im Sommer 2019 vor Ort den Gundermann – Abend verfasste.

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Immer wieder Sonntags …

… ein Blick zum Himmel und in den Kopf / sechs

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Seit fünf Wochen jeden Sonntag ein Blick in den Himmel im Kopf. Stelle mir vor, ich begebe mich in den Winterschlaf wie ein Bär. Erwache erst, wenn der ganze Mist vorüber. Träume mich durch alte Lieder. Ab und an hebe ich ein Augenlid, blicke in den Himmel und schaue nach, ob es sich lohnt, mich wieder zu bewegen. Jeden Sonntag. Seit fünf Wochen.

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ich hatte gestern

und dann wer ist das

denn

wer bist du

bist du der

vom letzten jahr

von anfang an

wer bist du

was willst du

wer warst du von anfang an immer

einer immer einer

immer nur einer

und gerne der andere und der zeigefinger lang

wie lange schafft man es in den spiegel zu schauen ohne

die anderen

immer die anderen

die anderen immer immer immer

immer die anderen

die langeweile an sich selber

diese lange weile von zeit an sich selber

reiben reiben sich reiben woran

immer immer immer die anderen

der spiegel

das gesicht

das gesicht gegen das gesicht das

eigene gesicht

das ist das eigene gesicht

das gesicht

es anschauen

stille halten

still

das eigene gesicht betrachten

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Der fröhliche Fensterputzer

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Ein alter Klassenkamerad hat einen alten Karton gefunden. Mit Briefen und Karten. Dabei auch ein Brief seiner Mutter, die ihm, dem heimatfernen Studenten, von ihren Begegnungen in der Stadt am See berichtete. Erst der Fensterputzer, darauf ein alter Freund von mir. Ein getippter Brief einer Mutter an den fernen Sohn. Im Oktober 1977 verfasst. Wie ergreifend. Im Rückblick. Damals wohl kaum so recht begriffen.

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Gäbe es den Zeittunnel, heut‘ würde ich eine kleine Reise zurück buchen und elegant das Fensterleder schwingen. Einer meiner schönsten Jobs. Und gut bezahlt. 10 DM auf die Hand. Und fertig. Wenn wir schnell waren, und das waren wir, die Schtudende, gab es am Freitag noch einen Zehner bis Zwanziger Akkordlohn für die Woche dazu. Und ein, zwei Viertele. Ernie hieß der Mann, mit Nachnamen wohlgemerkt, sprach breitestes Mannemerisch und verabschiedete mich nach Köln mit den Worten: „Ei, des is en Zigeune! Dä muss fott!“

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Vor ein paar Wochen, als ich begann diese Erzählseite ins Leben zu rufen, stieß ich in einem Regal auf einen längst vergessenen Ordner. Hunderte beschriebene Zettel. Die frühen Versuche des Schreibens. Ende der Schulzeit. Die „wilden Jahre“. Lieben. Reisen. Schauspielschule. Ob ich mich da ran wage? Uff.

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Alltag

Irgendwann kommt der Punkt

An dem wir die Fähigkeit

Die Zeit zu formen und zu kontrollieren

Verlieren

Und wir werden zu Zeigern auf einer

Der ständig hetzenden Uhren

Selbst Einzigartigkeit und Tiefe

Krachen hohnlachend durch die dünne Eisdecke

Die sie vom Mittelmaß getrennt hatten

Und ertrinken

Und dann wenden wird sehnend den

Blick und über uns gehen Neue

Auf dünnen Eisdecken

(Und so unendlich sicher)

(Konstanz / Oktober 1977)

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Wenn der Anu Branco wüßte …

… wie teuer die Liebe sein mag

Ich wette nie würde er singen

Nie wieder wecken den Tag

(Teil 5)

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In diesem Sommer `82 hatte etwas begonnen, oder es tat nur so, hatte begonnen, um sofort wieder zu enden. Als hätte dieser Anfang stets schon den Virus der Auflösung in sich getragen. War das zu sehen? Zu spüren? Oder ist das einfach nur normal? Ich weiß es nicht. Erinnerung verdichtet und interpretiert ja gerne. Eine Sicht vom damaligen Stand der Dinge von heutiger Warte aus.

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Möglicherweise war es der eine Tag, der wie unter einem Brennglas zusammenzufassen vermag, was ich meine. Der 1. Oktober 1982 war ein ziemlich warmer Tag, sagen mir die spärlichen Schnappschüsse meines zurückblickenden Hirns. (Natürlich habe ich meine vagen Erinnerungen googelnd verifiziert und also ja, in Richtung 20 Grad stieg das Thermometer.) In der Fabrikhalle im Hinterhof der Luxemburgerstrasse, in „unserem“ Theater, lief das Radio. Liveschalte nach Bonn. Helmut Kohl hatte es geschafft ein Mißtrauensvotum gegen Helmut Schmidt in die Wege zu leiten. Wir Schauspielschüler, nun beileibe nicht alle glühende Sozis und Schmidtverehrer, aber in Furcht vor dem, was da auf „dieses, unseres Land“ aus der Pfalz zuwalzte, hörten gebannt zu, während wir Bühnenbild, Requisiten, Kostüme und den Text des „Speckhuts“ transportfähig zusammenklaubten. Umzug in die Schlosserei. So hieß die kleine Spielstätte des Schauspiel Köln. Für ein paar Vorstellungen hinaus in die große, weite Theaterwelt. Noch zu Hause, in Vorfreude und Sicherheit: Empörung. Flüche. Gelächter. Zynische Traurigkeit. Hamm – Brücher war mutig, stellte sich gegen ihre Partei. Fanden wir gut. Der schwarze M. und ich mußten vor der Zeit gehen. Proben für „Gerettet“ in eben jener Schlosserei. War es einer der ersten Abläufe? Ich weiß es nicht mehr. Auf alle Fälle herrschte Krisenstimmung. Normal im Rückblick. Die erste Inszenierung einer jungen Frau. Der Intendant JF., ein bundesweiter Platzhirsch, murrte.  Und eigentlich wollten alle sowieso lieber vor dem Radio oder dem Fernseher sitzen in diesen geschichtsträchtigen Stunden. Mitten in die Probe platzte der Inspizient vom Großen Haus. „Die haben den Schmidt gestürzt!“ Das brüllte er von der Empore hinunter. Abbruch der Probe. Die Schauspieler wollen in die Kantine. A., die Regisseurin, protestiert. Ist rechtschaffen empört. Der Ablauf, überhaupt das Theater habe Vorrang, stünde über den Zeitläuften. Hin und her, es wurde laut und wenig später saßen wir in der Kantine, schauten fern, brauchten das ein oder andere Kölsch zur Beruhigung, als wir sahen, wie Schmidt aufstand, um Kohl zu gratulieren und der Berg von einem Mensch senkte sein Haupt wie ein Klosterschüler, voller Ehrfurcht. Geburtsstunde der Birne. In der Schlosserei wartete die Regisseurin auf uns, über den Text gebeugt, beleidigt. Es wurde einer der eher schlechten Abläufe.

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Am nächsten Tag, ein Samstag, Vorstellung „Speckhut“ an selber Stelle. Der Versuch in einem sterilen Raum (Betonfußboden, Metallgeländer, riesige Fensterscheiben, es hallte und knallte, in den Eimer sollte besser nicht gepinkelt werden, da, na ja, frisch durchgewischt) die versiffte Fabrikhallenatmosphäre aus der Luxemburgerstrasse herzustellen mußte scheitern. Genauso wenig gelang es das Vibrieren des vergangenen Sommers – die hohen Außentemperaturen erschienen wie ein letztes laues Gnadenbrot vor dem Einzug des geistig – moralischen Winters der Wende – in uns wieder hervorzurufen. Ich saß in der Maske, ließ mir die Perücke aufsetzen, war nicht mehr ich selbst. Fremdes Haar war mir gegeben, ohne Leben. Noch lange kein Profi. Gott sei Dank? Bei uns allen stieg die Aufregung, einiges an prominentem Publikum, bewunderte „Kollegen“ vom Schauspiel, Bürger der Stadt und die schlimmsten Druckvergrößerer: ELTERN!!! Und es geschah was ich in den folgenden, fast 40 Berufsjahren sehr oft noch erleben durfte (vor allem als zuschauender Regisseur): steigt der vermeintliche Druck, meist sich selbst auferlegt, rücken die Mimen nicht zusammen, vergessen Vereinbarungen und werden zu Solisten, auf der Suche nach dem Glanz, der Zuneigung, buchstabiere mir Erfolg und die Erzählung zerbröselt in unreflektierte Posen. Die Vorstellung war keine gute. Eitel. Ohne Hirn und Herz. Wir waren untröstlich. O., unser Regisseur hatte es kommen sehen und betrank sich nach der Vorstellung mit aller ihm zur Verfügung stehenden Wut.

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Die zweite Vorstellung war, wie unter Schock, um einiges näher an dem was wir erzählen wollten. Leider hat die kaum jemand gesehen. Schon gar keine Wichtigen. Aber – so brüllten die Plakate draußen – ab sofort werde sich „Leistung wieder lohnen.“ In Oggersheim wurde derweil angestossen.

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(wird fortgeschrieben)

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Am Aschermittwoch fängt es erst an

oder: Gotta serve somebody

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„Im Zeichen der Asche sehen wir unsere Bruchstückhaftigkeit und Vergänglichkeit. Alles hat Fehler und Mängel – alles hat ein Ende – alles vergeht.“

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„Wie bitte? Als habe man nicht genügend Verzicht geübt im letzten Jahr!“

„Nee, hat man nicht!“

„Was soll das jetzt wieder heißen?“

„Das letzte Jahr war geprägt von bescheidenen Übungen in Vernunft!“

„Sie spinnen doch!“

„Na ja, ich meine nur, Verzicht ist eigentlich eine freiwillige Angelegenheit!“

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„Bedenke Mensch, daß du Staub bist und zum Staub zurückkehrst.“

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bagatelle neunzehn

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Weil wir die Geschichten vergaßen

Wieder und wieder sangen wir

Die Lieder Perücken auf dem Haar und hielten

Den Frisierspiegel vor das Gesicht uns

Eitel

Sieh ob Deine Lippe sich noch bewegt und die

Umrandeten Augen noch im Glanz als die

Pailletten der Kostüme glitzerten die Schmerzen

Hinaus aus den Geschichten

Die zu erzählen wir

Vergaßen wieder und wieder

Hinter Masken

Die einzig zahlenden Zuschauer

Im Theater des eigenen Lebens blieben wir

Erfreut auf die Schenkel uns schlagend

Über jede Bagatelle die eine Erinnerung

An jene vergessenen Geschichten

Uns schlug ins getriebene Herz

Warum nannten wir uns

Schauspieler

Mimen

Traurige Clowns waren wir

Als Arbeiter an den Erinnerungen

Gescheitert leer gefallsüchtig

Ohne Zorn und Hader

Narren

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Immer wieder Sonntags …

… ein Blick zum Himmel und in den Kopf / fünf

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Seit vier Wochen jeden Sonntag ein Blick in den Himmel im Kopf. Stelle mir vor, ich begebe mich in den Winterschlaf wie ein Bär. Erwache erst, wenn der ganze Mist vorüber. Träume mich durch alte Lieder. Ab und an hebe ich ein Augenlid, blicke in den Himmel und schaue nach, ob es sich lohnt, mich wieder zu bewegen. Jeden Sonntag. Seit vier Wochen.

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ich hatte gestern

immer wieder den zweifel

dieser zweifel

das zweifeln

ob

ob das

oder aber eher nicht

nein

leg dich wieder hin

hinlegen wieder

nicht neues

in der nacht bleiben

haften

haftenbleiben

nichts mehr umlegen

keine schalter

keine bewegung

wohnen bleiben

und godot soll bleiben wo auch immer

weg

ich warte nicht mehr

nichts umlegen kein

kein neuer morgen

keiner mehr mehr

keine neuen pferde

kein ritt in die untergehenden sonnen

kein neues pony

wie lange noch

wieviel länger noch

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