In the Bordertowns of Despair / Einwurf / Die Kraniche kehren wieder um

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Ich ergehe mich hier in neueren und steintoten Gefühlsscheitereien, beleuchte emotionale Niederlagen, wühle in alten Pappkartons und schiebe farbstichige Dias in den Projektor. Ante portas aber bellum vincit! Geht’s noch?

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Vorgestern ab 5.55 Uhr hat ein Faschist zurückgeschossen. Er möchte ein Land entnazifizieren. Ein waffenstarrender und dauerbeleidigter Mafioso will also ein benachbartes Land entmilitarisieren. Von einer drogensüchtigen Mischpoke befreien müsse er es auch noch, zetert er mit aufgedunsenem Medikamentengesicht in die Kamera. Europa empört sich. Da die Panzer unseres Landes aber noch nicht auf E – Mobilität umgerüstet sind, empfiehlt das Verteidigungsministerium den Bürgern von Kiew sich mit Sekundenkleber auf dem Maidan festzukleben. Im Kreml sei das Aceton ausgegangen. Habeck spricht aus, was alle denken. Wir können nicht helfen. Zynisch?

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Seit acht Jahren befindet sich der Osten der Ukraine im Bürgerkrieg auf Moskaus Geheiß. Ach ja, das ist ja kein Krieg. Betrifft uns nicht. Erst ab Brennpunktdringlichkeit schauen wir hin. Solange lassen wir das Gas einströmen. Man will es ja schon muckelig warm haben im mitteleuropäischen Winter. Man handelt stets den eigenen Verlust vermeidend. Gut, lügen wir uns nicht in die Tasche, unsere Gesellschaft befindet sich seit Jahren auf der Flucht ins bunte Land GEHTMICHNIXAN.

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Eben erwischte mich ein heftiger Schneeschauer. Kalter Ostwind. Ich lief einfach weiter. Die sorgenfreiesten Jahre meines Lebens durchlebte ich während des sogenannten Kalten Krieges. Dachte ich vor mich hin. Geht’s noch? Glaub schon. Mein Mantel suppte durch. Ich hörte Kraniche schreien. Ich konnte sie nicht sehen. Der Himmel riß auf. Unverschämt strahlendes Blau. Da waren sie. Die Kraniche. Sie flogen zurück. Gen Westen. Ihre Flugformation war wirr und zerrissen. Was hatten sie gesehen, dass sie zur Umkehr bewegte?

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Geht’s noch? Von den erkalteten Lieben schreiben in Zeiten des Krieges, der wahrscheinlich noch gar nicht begonnen hat? Und ob. Aus der Riege der Welterklärer und Deuter den ungeordneten Rückzug antreten? Gewiß. Ich zweifle mehr und mehr an der Lernfähigkeit unserer Art. Zuallererst an der eigenen. Vor allem an dieser. Was tun? Fliehen? Nur wohin? Fröhlicher Defätismus? Radikale Akzeptanz? Die bevorstehenden Verluste dabei einspeisen?  Auf alle Fälle.

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Die Welt ist seit gestern keine andere geworden, wie sie nun alle beteuern wollen. Nein, sie zeigt mal wieder ihr tatsächliches Antlitz. Als Entlohnung quasi gestern die erste Tagesschau seit Menschengedenken ohne das Virus. Keine Atempause: es geht voran. Zynisch?

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Musik der Gleichgültigkeit

Herz Zeit Luft Feuer Sand

der Ruhe Einsturz der Lieben

übertöne ihre Stimmen damit

ich mich nicht mehr

schweigen höre

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(Samuel Beckett)

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In the Bordertowns of Despair / Three

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Bob Dylan / Bicycle

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3

Er war damals geflohen. Nach Kreta. Einer seiner ältesten Freunde hatte sich dort ein Haus gebaut. Ganz im Süden. Eine der letzten Ecken, welche noch keine Teerstraße erreicht hatte. Stolz saßen sie dort: die Lehrer, die Sozialarbeiter, die arbeitslosen Traumtänzer, die davon lebten Oktopusse aus dem Meer zu harpunieren und jene ewig betrunkenen Witwen, die versuchten ihren Söhnen zu erklären, das Sucht kein Ausweg ist, das Weinglas in der Hand haltend. Vor der Kneipe, in welcher sich alles traf, die Illusion und das Elend, das Warten und die freundliche Euphorie stand eine Telefonzelle. Hat jemand jemals die Erfindung der Telekommunikation verflucht? Telefonkarte um Telefonkarte fraß sich in den Schlitz, um aus weiter Ferne eine eiskalte Stimme erklingen zu lassen. „Lieber Anrufer, ich tue Dinge, die sinnvoll sind und Spaß machen.“ Warmes holländisches Bier ran durch seine zittrigen Hände und er verstand einfach nichts, nur das Rauschen in seinen Ohren. Sein alter Freund staunte ihn an.

Sie hatte sich damals in Auflösung befunden. Ihre Regisseurin, eine hagere engelhafte Diva, vom Tode gekennzeichnet, der sie wenige Wochen nach der Premiere ereilen sollte, jagte sie über die Bühne, ihre nackten Brüste schleiften über den Bühnenboden, sie betete und barmte, aber keine Träne floss aus ihrem Auge. Ein kleiner blonder Junge stand neben ihr. Er trug seinen Namen, der auch der Name ihres Vaters war.

Die Bahnhofshalle brummte, der ortsansässige Bundesligaverein, gerade wieder aufgestiegen, empfing den ewigen Meister. Mit stolzgeschwellter Brust, melancholisch und maßlos wie es das Naturell der Bewohner dieser Stadt nun mal war, strebten sie einer sicheren Niederlage entgegen. Er wanderte durch ein Meer von Watte. Gott sei Dank war er im Besitz einer Fahrkarte. Es gibt ja Tage, an denen man seine eigenen Hände nicht findet, wenn man sich kratzen will. Heute war ein guter Tag um eine Niederlage zu feiern, ja, zu feiern.

Sie betrat das Bad, blickte in den Spiegel, schrie nicht, nein schrie nicht, sondern begann zu bauen, zu formen, zu gestalten, was sie sein wollte, sollte, musste in den nächsten Tagen, Stunden. Geheimnisvoll, strahlend und bewundernswert. Bodenlos einnehmend. Sich selbst in alle erdenklichen Formen gießen. Das Bad ist ihre Heimat. Sie wusste, er erwartete ihren Anruf. Auf der Hinteren Bleiche klingelte ein Fahrrad.

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(Mainz / Oktober 2000)

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