„Den lauten Bildern keine Macht mehr über dich erlauben!“, rief der Maulwurf noch und fiel sogleich in Ohnmacht

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Ehemaliger Grenzstreifen VR Polen – DDR / Insel Usedom / 10. August 2012

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Welch fürchterliche Enttäuschung! Ich hatte mich streng chronologisch und der fürchterlichen Versuchung standhaltend vorzublättern – jeder wußte und erzählte dem jungen und aufgeregten Buchstabenfresser, daß der edle Häuptling der Apachen im dritten Teil der Geschichte in die Ewigen Jagdgründe einziehen mußte – bis an die Stelle gelesen, wo es geschah. Das Wissen und die bange Erwartung, jedoch auch eine seltsame Gier darauf vom angekündigten Tod endlich zu lesen und zu erfahren, ach, zu erleiden, was dies mit der solidarischen Seele des Buben anstellen sollte, wühlte ich mich, mehrmals zurückblätternd, durch die Seiten und verfluchte unter Tränen den tödlichen Pfeil eines Oglalas, quasi einem Schalker unter den Rothäuten und schwor Rache, Rache für den, der vor meinem Leseauge gegangen war. Hingestreckt lag er, dreckverschmiert, mit gebrochenen Knochen und die Siedler, zu deren Rettung er beigetragen hatte, sangen seiner Leiche ein Ave Maria. Warum der Apache denn Christ sein wollte, nun begriffen habe ich es nicht, aber geweint trotzdem. Obwohl er mir mehrfach angekündigt war dieser Tod, auch von des Vaters dräuender Stimme („Da mach Dich mal auf was gefasst!“), es traf mich wie ein unerwarteter Hieb. Später sollte ich solchen süßbitteren Schmerz nurmehr schmecken müssen, wenn ein geliebtes Wesen sich davon machte. So eine Art von prägender Einstiegserfahrung in Sachen Abschiede.

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Schnell lesen mußte ich den langen Rest des Buches  – es zog sich doch recht mürbe dahin nach dem Tod des Häuptlings – und die Wangen mußten ja ebenso trocknen, hingen doch schon in den Schaukästen meiner Geburtsstadt Plakate, welche die Verfilmung des dritten Teils ankündigten. Und dann diese Enttäuschung! Da oben auf der Leinwand. Mit unzerzauster Perücke, im reinen Kostüm, das dezent eingeblutet, blickt der mir nicht unsympathische Franzose und Darsteller in die Ferne, der Brustkorb hob und senkte sich theatralisch den Ewigen Jagdgründen entgegen, kitschige Musik schwappte ins Auditorium, strahlende Sonne und ein sentimentales Glockengebimmel versuchten an meinem Tränensäckel rumzuquetschen. Nein. Ohne mich. Der Tod, den ich gelesen, war düster gewesen, nächtlich, blutig, röchelnd, neblig, schorfig, erdverschmiert, rauh, laut und jäh verstummend im pubertären Entsetzen. Da fiel keiner im formvollendeten Stunt die kroatischen Felsen hinab. Nein. Es brachen und splitterten die Knochen. Es schrien die Geister. Und jetzt dies hier. Ich begann den fremden, allzusehr auf Wirkung und Versöhnung schielenden Bildern zu mißtrauen und entschied mich früh der Leinwand vor meinem inneren Auge die Erstaufführungsrechte in Sachen Phantasie (dem absoluten Gegenteil von Fantasy) einzuräumen.

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Mein Vater hat – keine alte Klage, es war halt so – nicht vom Krieg gesprochen. Einmal oder vielleicht zweimal sprach er von einem der Erlebnisse, welche er machen mußte. Als vielleicht achtzehnjähriger Soldat, Mann gegen Mann. Häuserkampf. Das reichte mir, um genügend eigene Bilder aus diesen kargen Worten zu ziehen. Nachhaltig. Meine Mutter, die mit ihrer Mutter und den fünf Geschwistern – die waren zwischen 11 und anderthalb Jahren alt – zu Fuß von Prag über Dresden nach Ilmenau floh, reagierte meist mit größerem Unverständnis, wenn ich erzählte, daß ich in Dresden war oder Prag und es mir dort gefallen habe. „Ich muß da nicht mehr hinfahren.“ Ich möchte mit den Bildern im Kopf meiner Mutter nicht einschlafen müssen. Letzte Woche hatte ich sie besucht. Sie sprach davon, was der Krieg in der Ukraine bei ihr und ihren Geschwistern wieder lostritt dieser Tage. Zum Abschied riet ich hilflos, sie möge auf die Brennpunkte verzichten und das Anschauen bildergetränkter Nachrichtensendungen stark einschränken.

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Den Redakteuren und Bildmächtigen sei ans Herz gelegt, die tägliche Dosis etwas runterzufahren. Ich glaube nicht an die Wirkung der großen Bilderwelle. Es kann schnell pornographisch werden. Und das soll ja abstumpfen. Emotionale Fluchthilfe statt Anregung über das Tun nachzudenken. Wer zuviel glotzt, schaut vielleicht am Ende weg.

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Mit eignen Fingern

Streiche über die Narben

Augen geschlossen

Und renne nicht weg

Vor der Leinwand die hinter

Deinen Lidern glüht

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Nachricht heute: Ein 96-jähriger Mann, der den Holocaust in den Lagern Buchenwald, Peenemünde, Dora und Bergen – Belsen überlebt hat, wird Opfer einer der Terrorbomben, die Putin auf Charkiw abwerfen ließ.

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