Von all den Kälten auf den Fluchten vor seinem schlimmsten Feind: sich selbst / Fangen wir wieder an zu rauchen 03

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Gießen / Enjoy Bar / 11. Oktober 2006

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Draußen graue Unwetterwolkenberge. Meine Rechner meldet mir: 20 °C sonnig. Ja, im Laufe der letzten Jahre / Jahrzehnte haben sich die Einschätzungen, was denn nun eine gemeinsame Realität sein könnte massivst verschoben. Es gibt sie die Paralleluniversen, die verschiedenen Wahrnehmungen. Man kann sich kaum mehr einigen auf die Bedeutung eines Wortes. Turmbau zu Babel revisited. Blick aus dem Fenster versus Blick auf den Bildschirm. Nachsinnen versus Ratgeber. Gleich der erste Donnerschlag. Ich höre ihn. Es regnet. Jemand biegt um die Ecke, klingelt bei mir und sagt: „Das siehst Du ganz falsch!“

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RAUCHPAUSE / Teil 03

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Schon kalt, gell. Wenn ich hier draußen stehe, habe ich immer das Gefühl gleich kommt jemand um die Ecke, hält mir ein Thermometer unter die Nase und sagt: „Ich habe hier eine einstweilige Erfrierung gegen sie.“ Aber nicht mit mir. Ich bin nicht so dick. Das täuscht. (zeigt seine mehreren Schichten Kleidung) Ich habe jetzt, als das alles am Horizont so sichtbar wurde mit dem NRSG, da habe ich mir Aktien gekauft von so einer Firma für Funktionsunterwäsche. An dieser Firma bin ich jetzt prozentual beteiligt. Ich schaffe neue Arbeitsplätze. Nicht nur in diesem Bereich. Hier draußen wird ja nun einiges benötigt. Lange Unterhosen. Heizpilze. Schirme. Stehtische. Meditonsin. Wick Medinait. Und. Und.

Es gibt Firmen, die bauen alte Bushäuschen zu Kabinen um, in denen man es tun darf. Oder bewegliche Abzugshauben über dem Schreibtisch, die sehen aus, wie die Trockenhauben beim Friseur. Du fühlst die Sucht kommen und zack. Kauf ich auch noch Aktien von. So ein Hype momentan. Sonst könnte ich mir meinen – sagen wir – leicht gestrigen Lebensstil auch gar nicht mehr leisten.

Überschlagen wir mal: 4€ – 8€ am Tag. Mal 365. Macht: 2920€ per anno. Nicht schlecht. Könnte ich bis zu 4-mal für 2 Wochen nach Malle fliegen. Mit diesen gesunden Flugzeugen, die alle inzwischen mit genmanipuliertem Rapsöl betrieben werden. Kleiner Witz. Oder 4 bis 5 mal meinen Offroadporsche volltanken.  Die machen wahrscheinlich auch frische Luft, diese Geländewagenpanzer, in denen meistens 1,60 m große Nebenerwerbsgattinen zum Shoppen fahren. Vielleicht gibt es ja inzwischen Katalysatoren, die man uns einbauen kann, und dann ist alles, was aus uns rauskommt Ambrosia.

Verdammte Scheiße. Saukalt. Ich meine nicht die Außentemperaturen. Ich meine das jetzt eher seelisch. Ein Riß geht durch unser Land. Verfolgt das Unrecht nicht zu sehr, in Bälde/ Erfriert es schon von selbst, denn es ist kalt. / Bedenkt das Dunkel und die große Kälte/ In diesem Tale, das von Jammer schallt. Bertolt Brecht. An Bronchitis will ich nicht sterben oder Kälteschock oder Lungenentzündung. So ein Bronchialkatarrh klingt einfach anders als das morgendliche rituelle Abhusten. Da arbeite ich mich jahrzehntelang in Richtung Karzinom, und jetzt. Wenn man sich für eine Krankheit entschieden hat, soll man schon da dranbleiben. Da bin ich anders als meine Altersgenossen. Das ist ja das Manko meiner Generation, dieser ständige Wechsel. Alles mal ausprobieren müssen, erst Jusos, dann KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland), dann Kiffen, dann Bhagwan, dann CDU wählen, dann heiraten, Scheidung, dann wieder Haare wachsen lassen, 10 Ausbildungen und 3 Studienrichtungen angefangen, doppelt so viele abgebrochen, mal diese Frau, mal jene, das Erbe verjubelt – falls es eines gab – mit 45 noch Punkmusik machen und wenn man sich dann im Wald verläuft, Papa anrufen, daß der einen abholt. Ist jetzt kurz gefaßt. Ich bin da anders. Konsequent. Leben wie ein Pfeil. Einmal abgeschossen.

Gestern oder vorgestern, als ich aus diesem Italiener raus bin, bin ich in ein Cafe, Zeitung lesen und für Hansi einen Gedenkgrappa trinken. Der macht das ja nicht mehr. Also, ich sitz da, will Zeitung lesen und kann mich nicht konzentrieren, weil meine Hände verrückt spielen. Die machen unkontrollierte Wellenbewegungen, fuchteln rum, als würde ich ein unsichtbares Orchester dirigieren. Das Stichwort ist: Konditionierung. Wenn ich eine Zeitung lese und einen Kaffee trinke, sind meine Hände es gewohnt gewisse Dinge zu tun. Da hat sich was auf der Festplatte festgebrannt. Vergleichendes Beispiel. Also wir jetzt: Menschen, Männer meines Alters. Du kannst mich nachts wecken und sagen: „Leg eine Schallplatte auf.“ Kein Problem, selbst mit 1,2 Promille. Jede Bewegung sitzt, obwohl das bald 20 Jahre her ist: Platte im Regal suchen, erst mit einem Finger leicht an sich ranziehen, dann mit zwei Fingern rausziehen, Cover anschauen, Cover umdrehen, rausholen mit Innenhülle, Innenhülle abstreifen, A- Seite auf Kratzer untersuchen, B- Seite dito, Staubfussel wegmachen, auf Plattenteller legen, kurz zur Freundin rüberblinzeln: „für Dich“, Tonarm auf den vierten Song: „lalalalala, lalala, etc There’s a lady who’s sure all that glitters is gold And she’s buying a stairway to heaven.“ Knutschen, Geschlechtsverkehr, und danach? Ja: eine anzünden.

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(Gießen / Spätherbst 2009 / to be fortgesetzt)

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Ich habe sie bezahlt, meine 9 Euro / Dafür will ich aber auch den vollen Service / Fangen wir wieder an zu rauchen 02

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Oppenheim / Am Rheinufer / 7. September 2006

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Ist ja so eine Sache mit dem sogenannten Preisleistungsverhältnis. Und der Verführbarkeit. Die Billigangebote nutzen müssen oder wollen, möglichst wenig selber investieren können oder auch wollen und bei Nichtgefallen kostenfrei alles zurück. Diese Schuhe waren mir ein Irrtum. Und überhaupt. Die Rechnung zu begleichen wird zum Fremdwort. Dienstlich. Privat. Und sonst noch wo. Nennen wir es Leben und Lieben und Handeln nach Art des Hauses Zalando. Ich hab ein Recht auf Ryan – Air, mein Leben isch halt au so schwer. Meine volle Solidarität in den nächsten drei Monaten und darüber hinaus allen Zugbegleitern und Zugbegleiterinnen. Und jenen, die bereit sind auch über Zinsen nachzudenken. Oder gar Zinseszinsen.

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RAUCHPAUSE / Teil 02

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(mit oder gegen Ende des Textes vom Band beginnt der Mann zu sprechen)

Ich geh da nicht mehr rein. Rein. Raus. Tür auf. Tür zu. Was das kostet.  Heizung. CO2 ohne Ende. NSRG. Wenn das mal gesund ist. Und außerdem: Die können mich alle mal. Diese Weicheier. Feiglinge. Nachtragendes Scheißpack. „25 Jahre haben wir unter Dir gelitten. Jetzt bist Du dran. Sei ein Mann, klage nicht und friere.“ Oder: „Wieso? Ist doch spannend. Wie früher. Draußen am Lagerfeuer. Nimm es sportlich.“ Nee. Und da drinnen: Die zählen einem jetzt jede einzelne rein. Früher wurde das gar nicht bemerkt. Jetzt: „Oh, mußt Du schon wieder. Jetzt ist grad so nett. Du bist aber ungemütlich.“ Selbst der Hansi: „Jetzt bleib halt mal. Keine Selbstbeherrschung. Solidarität mit der schützenswerten Kreatur heißt das Gebot der Stunde, alter Genosse.“ Und dann blöd kichern. Der Hansi. Früher. Wir zwei. Schon morgens um sechs, aber volle Kanne. Und kein so Weicheierzeugs. Die „rote Hand“ und der „schwarze Krauser“ waren unsere Kampfnamen. Na ja. Und wie das jetzt stinkt da drin. Das hat man ja sonst gar nicht mitgekriegt früher. Jetzt riecht plötzlich jeder anders. Also riecht jetzt überhaupt. Plötzlich fällt dir nicht nur optisch, sondern auch quasi nasal auf: da sind andere Menschen. Ich komm mir plötzlich vor wie ein Hund, der an jeder Ecke die hinterlassenen Kommunikationsangebote seiner Artgenossen riecht. Man sagt ja, wir Raucher hätten durch jahrelangen Mißbrauch unser Riechorgan irreversibel zerstört. Vergiß es. Ich bestehe zurzeit nur noch aus Nase. Überall Düfte, Ausdünstungen. Odeur. Das ist schon gewöhnungsbedürftig. Von rechts kommt was – so Afterwork-Stress-Odeur. Schweiß. Schweiß. Schweiß. Riecht so nach: „Heute hat mein Chef mich wieder fertig gemacht.“ Und von links: „Ich habe mich noch schnell frisch gemacht.“ Duschgel, Marke Waldbeere, Vanilla oder Granatapfel. Ja sitze ich in einer Kneipe oder gehe ich im Botanischen Garten spazieren? Von gegenüber Hustenbonbons mit japanischen Heilpflanzenöl. Olfaktorischer Terror ist das. Und überhaupt: Parfüm. Weshalb Leute sich eigentlich parfümieren? Weil die sich selbst nicht riechen können, also nicht im übertragenen Sinne, sondern buchstäblich. Im Gegensatz zu mir haben die offensichtlich keine Nase.

In Kanada gibt es jetzt eine Bürgerinitiative gegen Parfüm. Jawohl, in Ministerien und Institutionen darf keiner mehr Parfüm tragen. Offiziell wegen Asthma und Allergien. Das stimmt. Sollte man hier zu Lande auch mal drüber nachdenken, anstatt uns zu Outcasts zu stempeln. Vor kurzem, gestern, war ich essen. Ich sitz beim Italiener, richtig gut und teuer und da kam so eine Frau rein mit so einem scharfen japanischen Duftwasser auf der Haut. Ich weiß jetzt nicht, ob ich in zehn Jahren Nasenkrebs krieg davon, aber kotzen hätte ich können. Ich bin raus. Sofort. Ich zahl doch nicht mehr als 20 € für was wirklich Gutes und schmeck nichts mehr, weil ich nicht mehr atmen kann. Das war schlimmer als eine zwanzig Zentimeter lange Cohiba. Ich bin raus an die „Frische Luft.“

Mein Vater, Kriegsteilnehmer. Der ist nur raus, wenn er unbedingt mußte. Er sagte immer: „Ist noch keiner erstunken, aber schon viele erfroren.“ Die frische Luft, das ist ja jetzt das Ding. Plötzlich überall frische Luft. Endlich wieder. Freie fromme und fröhliche frische Luft. Soviel kann ich gar nicht einatmen.

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(Gießen / Spätherbst 2009 / to be fortgesetzt)

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Der rechts überholende Radfahrer / Vom Zustand der untergehenden Res publica / Fangen wir an zu rauchen 01

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Stadttheater Gießen / Hinterausgang / Sommer 2008

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In letzter Zeit bin ich nicht wöchentlich, aber eigentlich täglich mit einem neuen Phänomen konfrontiert. Nennen wir es: der rechts überholende Radfahrer. Kann sich da aber auch – oft sogar -um einen weiblichen Menschen handeln. Jedenfalls fürchten die diversen Radbeweger wohl, daß, überholen sie gemäß StVO den vor Ihnen Herfahrenden linkerhand, von linkerhand ihrerseits ein böses Auto ihnen zu nahekommen könnte. Und da die Gefahrenabwägung immer beim Ego landet, rauschen sie dann – klingeln ist verpönt, weil aggressiv oder so – rechts an Dir vorbei. Dämlich.

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Ich habe die unselige – oder selige? – Angewohnheit aus grassierenden Alltagsgewohnheiten gesamtgesellschaftliche Schlüsse zu … ähem … behaupten. Was ich sagen will? Sich nicht selbst den Gefahren aussetzen wollen, die Verantwortung weiterreichen und wenn der Depp sich erschrickt, den ich rechts überholte, obwohl von links her der Laster erst morgen eventuell an mir vorbeigefahren wäre, dann: selber schuld Du Dino.

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Dachte heute, ob ich vielleicht wieder anfangen sollte zu rauchen. Blöde Idee natürlich. Warum auch? Nun: die rechts überholenden Radfahrer haben mich auf die Idee gebracht. Die Risiken namens Leben mal wieder selbst übernehmen. Links überholen. Der LKW ist nicht schuld. Mama nicht. Papa nicht. Noch nicht mal Du selbst. So ein paar unschuldige Regeln sind nicht gleich Guantanamo. Wenn ich mir auf den Finger haue, ist der Hammer nicht schuld. Und schon gar nicht der Nagel. Verklage halt den Baumarkt.

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Habe vor Ewigkeiten mal ein Theatersolo zu diesem Thema geschrieben. „Rauchpause oder der Sieg der langen Unterhose“ nannte ich es. Werde das jetzt hier in lesbaren Portionen servieren. Weil es mir gefällt. Und weil ich zu faul bin was Neues zu schreiben. Und wenn Sie demnächst ein Fahrradfahrer von rechts überholen sollte: ich war es ganz gewiß nicht.

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RAUCHPAUSE / Teil 01

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(Wir befinden uns im Hinterhof einer Kneipe. Nach Einführung des NRSG. Ein Mann tritt auf. Er hat viel an, sehr viel. Stellt sich an einen Rauchertisch, der wiederum in einem gelben Quadrat steht. Wartet. Raucht. Während er die erste Zigarette konsumiert läuft vom Band – mit der Stimme des Schauspielers – folgender Text:)

Ich saß am Ufer eines Baggersees, ein milder Spätsommertag neigte sich dem Ende zu. Auf dem Wasser zog ein Schwanenpärchen seine Bahnen, die sinkende Sonne färbte den Himmel ein und Flugzeuge malten weiße Kreuze ins Firmament. Ich lehnte zusammen mit meinem Fahrrad an einem Baum und zündete mir eine an, als mich schlagartig das körperlich spürbare Gefühl überfiel, beobachtet zu werden. Ich drehte mich um und sah wie ein kleines Männlein im Rollstuhl mit hektischen Ruderbewegungen im nächsten Gebüsch verschwand. Sobald ich wieder nach vorne schaute und an meinem Stäbchen zog, kam er wieder aus dem Gebüsch gefahren und fummelte hektisch an einem überdimensionalen Handy rum, dem grässlich laute Piepstöne entwichen. Die Schwäne auf dem See begannen plötzlich aufeinander einzuhacken, sich gegenseitig zu verletzen und sie bluteten gelbes Blut. Damit malten sie kleine Vierecke auf das Wasser des Sees. „Zugriff!“, schrie auf einmal das Männlein in sein Mobiltelefon und am Himmel erschienen sieben ferngesteuerte Helikopter, die – als sei dies ein monströses Hütchenspiel – begannen gigantische Plexiglaskegel vom Himmel zu werfen, offensichtlich in der Absicht, mich damit einzufangen. Ich versuchte zu fliehen, doch als ich mein Fahrrad besteigen wollte, um wegzufahren, schrie dieses mich an. „Sünder! Pestbeule! Oraler Knecht.“ Dann bewarf es mich mit überfüllten Aschenbechern und fuhr wiehernd davon. Ich blickte nach oben und sah nun wie einer dieser Plastikkegel ganz langsam auf mich zu schwebte. Er rotierte dabei leise um die eigene Achse, von einem Summgeräusch begleitet, das wie der Gesang asiatischer Mönche klang. Angewurzelt blieb ich stehen, ich hörte das Blut in meinem Schädel pochen und wie der Deckel einer Senftube schraubte sich der Kegel über mich und in die Erde. Gefangen. Schlagartig spürte ich, wie mir die Luft wegblieb und ich begann zu schwitzen. Verzweifelt strampelnd versuchte ich meine drei langen Unterhosen abzustreifen, die aber jedes Mal, wenn ich sie bis zu den Knöcheln runtergezogen hatte, sich wieder aufrollten und mit der Stimme meiner Mutter zu mir sprachen: „Ich verstehe Dich einfach nicht. Warum setzt Du Dich immer solchen Situationen aus?“ Ich versuchte zu argumentieren, ich hätte ja wohl nicht mit den Helikoptern angefangen, als das Männlein begann wie wild von außen gegen das Plexiglas zu treten und zu spucken. Dabei drückte es grinsend auf den roten Knopf einer gigantischen Klingel, die an seinen Rollstuhl befestigt war. Der Himmel hing voller Teebeutel, zwischen denen die sieben Helikopter so etwas wie Fangen spielten. Die Schwäne schwammen nicht mehr, sondern steppten jetzt übers Wasser und mein Fahrrad – inzwischen zum Rappen mutiert – hatte eine kalte Cohiba im Maul und wieherte dabei lustig vor sich hin. Ich erwachte.

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(Gießen / Spätherbst 2009 / to be fortgesetzt)

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Rückkehr der Situationisten / Mit Essen spielt man nicht / Tod der Grinsekatze

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Tambach – Dietharz (Thüringen) / 5. Oktober 2011

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Ein junger Mann, vierundzwanzig Jahre alt, steht an der Kasse des Louvre. Paris. Er möchte die Mona Lisa sehen. Er bewundere ihr zeitloses Lächeln. Sagt er. Überzeugend. Er gibt an, er könne nicht mehr laufen, er leide unter multipler Sklerose und anderen schweren bewegungseindämmenden Krankheiten. Er seufzt. Schwer. Die verständnisvolle Kassiererin stellt ihm, nach telefonischer Rücksprache mit der stellvertretenden Museumsleitung, einen Rollstuhl zur Verfügung. Er ist nicht Alexander Zverev. Oder doch?

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Korrektur: der junge Mann ist eine junge Frau. Zumindest optisch. Eine Langhaarperücke macht ihn zur Frau. Unter der Perücke lagert der junge Mann Wurfgeschosse. Madeleines? Puddingteilchen? Eine Schwarzwälder – Kirschtorte? Donauwellen? Gefüllte Krapfen? Windbeutel? Pralinen?

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Das junge Wesen wird im Rollstuhl vor Leonardo da Vincis gemalten Smashhit gerollt. Er greift unter seine Perücke und feuert die Backwaren mit aller Wucht gegen das Gemälde. Er schreit: „Denkt an die Erde! Es gibt Menschen, die dabei sind die Erde zu zerstören! Hört auf zu grinsen!“ Man stürzt sich auf ihn und führt ihn ab. Er schreit weiter. Keiner hört ihm zu.

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Die Grinsekatze Mona Lisa ist unter dickem Plexiglas verborgen und geschützt. Ihr silberäugig schielendes Grinsen, welches kein Lächeln ist und seltsamerweise von großen Teilen der Menschheit als Ausdruck gelebten Optimismus interpretiert wird, nimmt keinen Schaden. Schade.

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Ist dies die Rückkehr der Phantasie? Gar der Situationisten? Die Rückkehr eines Teufels namens Fritz, der einst den Vizepräsidenten der USA mit Pudding attackierte und ein verklemmtes Land in hocherigierte Konvulsionen versetzte? Provokation jenseits der Benzinpreise?

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Meine liebste Meldung seit Ewigkeiten. Natürlich wird der junge Mann polizeilich und medial zum psychisch instabilen Depp erklärt. Meine Sympathie hat er. Wer den Grinsekatzen und Grinsekatern dieser Welt entschlossen entgegentritt, kann nicht nur blöd sein. Ganz im Gegenteil.

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Wo ist die Zeit? / 1. FC Delius / März ’88

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Friedrich Christian Delius / In den späten Sechzigern / geklautes Photo

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Münster im Jahre 1988. Wir wussten alle nicht, daß die BRD bald Geschichte sein würde. Es war ein sehr warmer März. So eine Art Vormärz des Wandels. Wir probten ein Vier – Männerstück. Waschtag. Ich gab (was für ein bescheuerter Theaterausdruck!) die oberste Nazi – Jugend – Tucke Baldur von Schirach. Der Autor und sein Freund / Lektor / Verleger – ich erinnere es nicht mehr präzise – waren in den letzten zwei Wochen vor der Premiere vor Ort. Der kürzlich verstorbene Friedrich Christian Delius. Ein ruhiger, freundlicher, nie laut auftrumpfender Mann, der uns den ein oder anderen Fingerzeig gab, aber vor allem mit Freude und respektvoller Distanz zusah, wie wir mit großem Spaß, Hingabe, gelegentlichem Streit (und das mit … ähem … darf man das heute noch sagen ohne einen Haschischtag oder wie das heißt an den Hals gemailt zu bekommen … sogar durch den Probenraum fliegenden Stühlen) versuchten sein Stück auf die Bühne zu setzen. Wir wuschen Bettlaken, wrangen sie aus, mangelten sie, bügelten sie, falteten sie. Von Mann zu Mann. Alles live und in Farbe und mit echtem Wasser und Waschpulver. Und eine Miele spielte auch mit. Inklusive Schleudergang.

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Wo sich viele Herren treffen ist das Ritual nicht fern. Also wechselten wir zwischen den Proben stets die Straßenseite und aßen vis a vis vom HBF Münster, wo sich damals das Wolfgang Borchert Theater befand, bei einem Stehitaliener unsere Pizza und einen kleinen Vino Rosso gab es auch dazu. Den beglich gerne der Autor. Über das Theaterstück oder die Weltlage sprachen wir dabei selten. Wie schon das Namenskürzel F.C. Delius vermuten lässt: genau, stundenlang über den Fußball. Ich war damals noch, in Köln wohnend regelmäßig zu Gast im Müngersdorferstadion. Der große Toni Schumacher war zwar eben – ne, wat wor et lächerlich – wegen seiner literarischen Ersterscheinung rausgeworfen worden – aber der Kader war durchaus noch illuster. Fanden wir alle. Und nach Gründen zu suchen, warum dat unter Daum mit der Meisterschaft nie klappen würde: das füllte der Herren Mittagspause in Gänze.

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„Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“ Der Gedenkstein des Erinnerns schlechthin für unsere inzwischen verstorbene Republik, die sich damals aus dem Hintergrund zurück in die freie Welt schoß. Jahre nach unserem Zusammentreffen beschenkte F. C. Delius sich und uns mit dem schönsten Fußballbuch aller Zeiten. Ich habe es, glaube ich, mindestens fünfmal gekauft und besitze es nicht mehr, weil ich es stets weiterverschenkte. Ich war 1954 minus 2 Jahre alt. Oder plus 2 Jahre jung?

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Man zählte und zählt in den obligatorischen Rückblicken Delius zu den 68ern (Gab es die überhaupt?), aber attestiert ihm immer diese distanzierte Draufsicht. Das ist wohl die Aufgabe der Chronisten, hinschauen und nicht, was man so sieht, wenn man schaut, mehr oder weniger gewalttätig in sein eigenes, mühsam erworbenes Weltbild reinzuschustern. Fällt mir noch ein: Schuster, einer der besten und verrücktesten Kicker überhaupt! Aber das führt jetzt zu weit, war aber oft Thema bei der Mittagspizza! Eigentlich waren wir aber alle Anhänger der unglaublichen Eleganz des Klaus Allofs.

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Und einen Skandal hätte ich auch noch zu vermelden. Unser Bühnenbildner Bob (Nachname ist mir verdementet) schuf ein wunderbares Plakat. Das Logo der Nazis an einer Litfaßsäule, halb heruntergerissen – waren es wild gewordene Jugendliche oder nur der Regen? – und dort wo das Hakenkreuz schlapp in der Luft hing, erschien drunter das Logo von Coca – Cola, den Rettern der Demokratie und den Erfindern des Weihnachtsmannes. Wer glaubt, wird beschenkt. Das war die böse Idee. Und die Farben? Tja. Rot Weiß Schwarz. Eine emotionale Kombination. Dummerweise war die damalige (vielleicht noch heute) Gefährtin unseres Regisseurs und Intendanten die Tochter des Chefs von Coca – Cola NRW. Aber lesen Sie selbst.

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Ich denke gern an die Jahre in Münster zurück. Letztes Jahr war ich kurz mal wieder dort. Und nach dem Baldur von Schirach spielte ich … quatsch … gab ich den BAAL. Der nächste Aufruhr zu Münster. Davon demnächst.

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Antiquariat Michael Solder / Münster (Westfalen) / Mein rechter Daumen / 17. Juni 2021

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