PS: Geklaute Gedanken. Dazu angeregt hat mich ein sehr lesenswerter Essay im letzten Magazin der SZ. Autor Tobias Haberl. Überschrift „Zwischen den Fronten!“ Schön. Allein die Eröffnung: „Ein Gespräch setzt voraus, daß der andere Recht haben könnte“, hat der Philosoph Hans-Georg Gadamer gesagt.
*
PS2: Der Mann ist 103 (einhundertunddrei) Jahre alt geworden. Vielleicht sollte ich ihn mir zum Vorbild nehmen.
*
PS3: Obiges Bild zeigt die Ecke des Hauses in der Straße des Friedens Nr. 1 in Ilmenau. Unten eine Buchhandlung. Oben wohnte meine Oma. Unten wurde einst der Zwangsumtausch in Buchstaben umgetauscht. Oben – man munkelt es – entstand ich. Würde mir gefallen. In der Straße des Friedens. Ist mir nicht immer gelungen dem Namen Ehre zu erweisen. Dranbleiben.
*
PS4: Hier noch das Lied meines Lieblingszweiflers. Ähem, gab es damals eigentlich schon dieses, ähem, Dingsbums, dieses #haschischetikett?
Hatte letzten Sonntag eine sehr schöne Lesung hier vor Ort. Mit Texten des eigentlich verschwundenen aber noch aktuellen Wolfgang Borchert. Hundert wäre er geworden dieses Jahr. Theoretisch. Ich mag ja eigentlich keine Jubiläen und Jahrestage, aber das war es wert. Fast vergessene Texte die immer noch abrufbar sind. Und seine Lyrik kannte ich bisher noch nicht.
*
Was bleibt aktuell an Borchert? Die Lernfähigkeit der Menschen versus die Verdrängungsmeisterschaft? Das dicke Grinsen der Krisengewinner versus die Ohnmacht der Abgehängten? Die laut tönenden Schuldigensucher versus die Übernahme von Verantwortung? Der fette Ranzen versus das Hungerödem? Die alten Fragen versus das alte Schweigen? Denke wohl ja!
*
Hier ein Gedicht von Wolfgang Borchert, welches ich gestern nicht vorlas, welches aber von kompetenter Stelle vermisst wurde. Das Nachklappen.
*
Das graurotgrüne Großstadtlied
Rote Münder, die aus grauen Schatten glühn,
girren einen süßen Schwindel.
Und der Mond grinst goldiggrün
durch das Nebelbündel.
*
Graue Straßen, rote Dächer,
mittendrin mal grün ein Licht.
Heimwärts gröhlt ein später Zecher
mit verknittertem Gesicht.
*
Grauer Stein und rotes Blut –
morgen früh ist alles gut.
Morgen weht ein grünes Blatt
über einer grauen Stadt.
*
Es regnet und regnet all dieser Tage. Also immer dann, wenn ich vor die Haustüre trete. Ich hatte vor ein paar Tagen den Regen ja noch gelobt. In Maßen selbstredend. Dürfte ich wählen zwischen ertrinken hier oder verbrennen dort, tja watt? Die Natur reagiert zur Zeit weltweit wie ein schlecht gelauntes Rodeopferd. Wirft uns einfach ab. Noch ein Gedicht.
*
Regen
Der Regen geht als eine alte Frau
mit stiller Trauer durch das Land.
Ihr Haar ist feucht, ihr Mantel grau,
und manchmal hebt sie ihre Hand
und klopft verzagt an Fensterscheiben,
wo die Gardinen heimlich flüstern.
*
Das Mädchen muß im Hause bleiben
und ist doch grade heut so lebenslüstern!
Da packt der Wind die Alte bei den Haaren,
und ihre Tränen werden wilde Kleckse.
Verwegen läßt sie ihre Röcke fahren
und tanzt gespensterhaft wie eine Hexe!
*
Heute scheinen mir die Städte nicht mehr grau, sondern in hysterisch bunten Farbtöpfen ersoffen. Die Blätter eines nächsten Morgen sind schon länger welk geworden. Die Hoffnung färbt sie nimmer mehr grün. Die Zecher aber gröhlen weiter. Gott sei’s gedankt. Mögen auch manche Rentner müde protestieren. Morgen früh ist alles gut. Verknittert.
Seit ein paar Wochen jeden Sonntag – ok, fast jeden Sonntag und wenn ich Lust und Zeit habe und nicht meinen Gemüsegarten gießen muß – ein kleines Stückchen Bob Dylan zum Frühstück. Oder Abendessen. Frisch verwurstete Texte. Oder altes Material. Eigener Mist. Fremder Mist. Fundstücke. Auch altes Brot muß man essen können ohne zu würgen. Auf geht’s. Fast jeden Sonntag. Fast ist mehr als nüscht. Dieses Lied mag ich.
…..
In jedem Sandkorn
*
In der Zeit meines Bekennens, in dieser Stunde tiefster Not
Als die Tränenpfütze zu meinen Füßen jeden neuen Samen ersäufte
Gab es diese absterbende Stimme in mir die versuchte Gehör zu finden
In großer Gefahr ich, mich abrackernd, Moral suchend in Verzweiflung
Habe ich keine Lust all meine Fehler durchzukauen
Wie Kain, das Joch meiner Missetat um den Hals, zerschlage ich es lieber
Selbst im Moment größter Wut sehe ich die Hand des Meisters
In jedem zitternden Blatt, in jedem Sandkorn
*
Oh, die Blüten der Schwäche und das Unkraut Nostalgie
Wie Verbrecher würgen sie mein Gewissen und was mich jubeln ließe
Das Sonnenlicht knallt gnadenlos auf meinen Weg
Lindert die Schmerzen meiner Bequemlichkeit und die Erinnerung an meinen Verfall
Vor meiner Türe brennt die wütende Flamme Versuchung in die ich blinzle
Jedes Mal, wenn ich mein Haus verlasse, höre ich, daß jemand meinen Namen ruft
Und irgendwann auf meiner langen Reise begriff ich
Jedes meiner Haare ist nummeriert wie jedes Sandkorn auch
*
Mein Leben: vom Tellerwäscher zum Millionär, vergrübelte Nächte
Gewalttätige Sommernachtsträume, Zittern im fahlen Winterlicht
Bittere einsame Tänze, abgehoben durch das Weltall segelnd
Blicke ich ahnungslos in zerbrochene Spiegel, all diese vergessenen Gesichter
Ich vernehme die Schritte der Altvorderen wie Wellen die an den Strand schlagen
Ich drehe mich um, manchmal ist da wer, manchmal bin ich es nur
Ich sitze in den hin und her pendelnden Waagschalen allen Lebens
Wie jeder Spatz, der vom Himmel fällt, wie ein jedes Sandkorn
Ganz davon abgesehen, daß ich mich immer gefragt habe, wie die zwei Texaner es vermeiden konnten, daß sich ihre Barthaare in den Saiten verfingen, werden viele – auch ich – lange Zeit gar nicht gewußt haben, wovon die Herren in obigem Lied eigentlich singen. Ganz einfach ist es.
*
„Herr, fahr mich bitte in die Stadt. So viele Wünsche habe ich doch nicht. Mir ging es oft gut, dann ging es mir wieder so richtig Scheiße. Ich war hier und dort ja auch gerne mal ein Arschloch. Aber auch immer mal wieder ein netter Kerl. Doch heute Nacht, in der Stadt, da suche ich nichts, nichts anderes außer einen Hintern (m/w/d?). Vor allem aber Herr, da ich dann nach Hause muß, unter Deiner Führung, bitte nicht allein. Mmh, geht das?“
*
Wie böse die Welt damals doch war. Und heute? Macht man das nicht mehr?