Versuch angesichts vergangener Weltuntergänge lose Enden miteinander zu verknüpfen
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„Als Dylan die Bühne betrat, streckte Hilbig seinen Arm mit der zur Faust geballten Hand wie ein Boxer nach vorn. Es sah aus, als würde er bereit sein für die letzte Runde.“ (Michael Opitz / Wolfgang Hilbig – eine Biographie)
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Gelegentlich, in letzter Zeit häufiger, stoße ich beim ziellosen Herumlesen auf mannigfaltig herumbaumelnde lose Enden. Eben jetzt bei und über Wolfgang Hilbig, der gefördert wurde, Heizer noch, schreibendes Prekariat, von Franz Fühmann, jenem Großmeister der Mythenerzählung, da beide verband die Liebe zur Romantik, Counterpart zu jenen scheinbar weltwissenden Aufklärern, ETA Hofmann und vor allem der nun von mir zu entdeckende noch, Novalis, eigentlich Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, tätig im Bergbau, der erschloss die Braunkohlelagerstätten in der Gegend um den heutigen Tagebau Profen, unweit Hilbigs Geburtsort Meuselwitz, der heiratete und wirkte auch in Freiberg, wohin ich mit der Gattin die erste Reise nach dem ersten Lockdown und dem Verlust aller Tätigkeit antrat, ins Erzgebirge, welches durchlöchert, durchgegraben, ausgehöhlt, entleert, befreit vom Silber, den Erzen und ließ hunderte, tausende Männer zurück in den Stollen, Wiedergänger, Gespenster, unterirdisch rumorende Geschichten.
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Wolfgang Hilbig, der aufwuchs, malochte, boxte, zu schreiben begann in jenen Meuselwitz, halb Sachsen, eigentlich aber Thüringen, mitten in den Abbaugebieten, Profen in der Nähe, wo ich im Sommer 2000 spazieren ging mit einer Liebe, in Leipzig probte ich den Teufel in einen Faust-Projekt, und wir in die gigantischen ausgebaggerten Abgründe blickten, nicht ahnend, zumindest ich, dass dies nur der Beginn war eines unendlich tiefen Falls in schwarze Gruben, ein Einbrechen, was mich 5 lange Jahre begleiten sollte und führte in diese gesichtslose Stadt, in der ich lebe immer noch.
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Jener Franz Fühmann, einer der vielseitigsten Schriftsteller und Kinderbuchautoren der DDR, der beschloss 1974 im Mansfelder Land über Bergbau zu recherchieren, er selbst unter Tage fuhr, arbeitete wie jeder andere Bergmann, für ihn der Schacht war ein Ort der Wahrheit, ein Urerlebnis, ein Tummelplatz von Geistern, die etwas zu erzählen hatten, der dann starb, gebeugt in einer kargen Schreibgarage in Märkisch-Buchholz, wohin ich radelte in brütender Hitze 2014 durch den schlingernden märkischen Sand, über sein Spätwerk „Im Berg“, Fragment, unvollendet, der Bericht eines Scheiterns und dessen Traktat über Georg Trakl, der „Sturz des Engels“, oder wie es ursprünglich betitelt war „Vor den Feuerschlünden“, ich 1991 erst in Tübingen, dann in Thüringen las und spielte als ein schwergewichtiges Solo, den Engel ich dann vergaß, bis ich ihm 2019 wiederbegegnete in Hoyerswerda, im Tagebau Welzow, da ich Texte und Bilder sammelte für meine Arbeit „Die Tankstelle der Verdammten“ über den Sänger, Baggerfahrer und Poet Gerhard Gundermann, meine letzte Inszenierung hier vor Ort unter der Fuchtel der gerne kunstfrei Machtbesessenen.
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Und immer wieder singen in all den Jahren von den Weltuntergängen, wie auch Hilbig oft umkreiste das Ende aller Enden, als stünden die endgültig letzten Erschütterungen nicht vor der Türe, sondern haben lange schon lange stattgefunden oder ereignen sich tagtäglich, unbemerkt oder Trommelfelle platzen lassend und ein Finger weist hinüber zu Jura Soyfer der, Jude, hundert Jahre ist es her und war schon damals keine Neuheit, aus Charkiw fliehen musste mit den Eltern nach Wien, landete in dieser Stadt des fröhlichen Sterbens, den Heldenplatz vor Augen und schrieb ein monströs komisches Theaterstück: Weltuntergang oder »Die Welt steht auf kein‘ Fall mehr lang«
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Und wie sie weiter eiert durch das Universum, die Welt, welche lediglich der Planet Erde ist, krumm, schief, hechelnd, grausam, ignorant, besetzt und gefoltert von einer Spezies, die versucht ihre eigenen Geister, Gespenster, Götter, Ahnen und Erfahrungen zu ignorieren, totzuschweigen, zu übertünchen und ordinär zu schminken, aber dort wo Mondkrater aus der Landschaft gebaggert werden, wurden, atmet es weiter und die Wiedergängerin Brigitte Reimann ruft in die Nacht des Jahres 1957: „Hoyerswerda ist überwältigend, das Kombinat von einer Großartigkeit, daß ich den ganzen Tag besoffen herumlief.“, so hoffnungsbesoffen, wie ein jeder einmal sein sollte.
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Wolfgang Hilbig, vom nahenden Tode markiert, war überglücklich, als er am 3. Mai 2007 von Freunden im Rollstuhl in die Max-Schmeling-Halle geschoben wurde, der alte Boxer, den eine gute Freundin und Begleiterin seiner letzten Tage, Christiane Rusch, als wandelndes Bob-Dylan-Lexikon bezeichnete und mit ihm zusammen ein allerletztes Gedicht verfasste:
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als sie noch jung waren die winde
war ich verworren
und blind und taub
für ihren gesang
jetzt wenn ich das land durchstreife
und nicht mehr weiß
wo ich bin
und nichts mehr wissen will
in meinem herzen
denk ich an die winde
die alt geworden sind
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PS: Eines nur bemängelte der begeisterte Dichter, dass Dylan nicht sein Lieblingslied auf die Setlist geschrieben hatte, welches ich nachreiche den Gespenstern zu Ehren.
Teile heute einen Text aus dem Newsletter des Buschfunk -Verlags:
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Liebe Scherben-Kundige und Vertraute
Auch unseren letzten Newsletter vom 30.Mai 2024 hat er zur Kenntnis genommen. Seine Frau Anne rief an und verriet, Lanrue würde sich sehr über den Banksy-Kalender 2025 (!) und den Kalender mit den ungewöhnlichsten Fußballplätzen auf unserer Welt freuen. Er hat in beiden noch geblättert und sich auf seine, für ihn typische Art darüber gefreut, so einen gewissen Schalk in den Augen.
Lanrue und Rio – zweimal Ralph. Rio war fünf Tage älter. Sie lernten sich als Jugendliche irgendwo zwischen Darmstadt und Aschaffenburg kennen. Der Ort hieß Nieder-Roden. Der eine lernte Fotograf, der andere Dekorateur und hatte zugleich erhebliche fußballerische Ambitionen. Zeitversetzt gingen sie nach Westberlin und gründeten Ton Steine Scherben, später nach Fresenhagen (zwischen Niebühl und Flensburg).
Einmal dachte Lanrue, er müsse sterben. Der Gitarrist und Komponist der Scherben wurde wie die gesamte Mannschaft durch einen Polizeieinsatz in Berlin-Kreuzberg, am legendären Tempelhofer Ufer 32, aus dem Bett geholt. Mitten in der Nacht drang die Staatsgewalt mit gezogener Maschinenpistole in die WG ein. Das ist lange her, aber irgendwie noch präsent.
Sehr lange hat Lanrue gegen eine schwere Krebserkrankung angekämpft. Er wollte nicht sterben. In der Nacht zum 14. Juli 2024, als würde ihn sein Geburtsland Frankreich am Nationalfeiertag zurückholen, wurde er letztlich von dieser unaufhaltsamen Krankheit befreit.
Wir sind unendlich traurig. Wir kondolieren seinen Nächsten. Die BuschFunker
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Schließe mich an. War eine klasse Zeit einstens, als ich mich berufsbedingt durch den Fundus der Scherben graben durfte. Hier ein schöner Nachruf.
In regelmäßigen Abständen sucht mich das Thema Heimat heim, (sic!) mal aus konkreten Anlässen, mal unvermittelt und diesmal durch – nach einiger Zeit wieder – Lektüre eines meiner Lieblingsdichter, Wolfgang Hilbig. In einem Gespräch über seine Herkunft, die Anfänge seines Schreibens und die Landschaften, in denen er seine Jugend und Adoleszenz verbrachte und die selbstredend prägende Spuren in ihm hinterließen, denkt er auch über das Wort Heimat nach. Jedoch verwehrt er sich gegen diesen Begriff, den er als belastet in etlicher Hinsicht begreift.
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Vor genau 10 Jahren trat ich eine kleine Reise nach Brandenburg an. Wolziger See. Storkow und Umgebung. Ein kleine Pension. Mit eigenem Badestrand. Ein billiges Leihfahrrad und ich fuhr durch die märkischen Wälder, entlang der Kanäle, schwamm in den vielen Seen, stets einen anderen meiner Lieblingsschriftsteller, Franz Fühmann, im Gepäck. Die Theater, an denen ich inszenierte, hatten mich nach einer langen Spielzeit ausgespuckt, nervlich und körperlich zermatscht. Dazu kam ein sich stets wiederholender böser Diskurs, der mich aus meiner Geburtsstadt erreichte, und das Thema Heimatliebe zum Thema machte und mich zum undankbaren Nestbeschmutzer. Also dachte ich schreibend und im Zwiegespräch nach über eben diesen heiklen Begriff. Und welch Unheil oft damit verbunden. Kleines. Großes.
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Erwähnen mich hier vor Ort die lokalen Gazetten, was nicht mehr so oft, aber ab und an geschieht, werde ich stets als der Gießener Regisseur, Autor und Musiker eingeführt. Ich habe mich daran gewöhnt, zwangsläufig, jedoch den Reflex, darüber speiben zu wollen, kann ich kaum unterdrücken. Wie schnell man mit billigen Etikettierungen bei der Hand ist. Ein paar Monate hatte ich auch für diese Heimatblätter Kulturkritiken verfasst. So eine Art Vorgabe war über das Gesehene stets mit sehr milden Sätzen zu urteilen. Hintergrund war, dass es vorrangig galt von der ach so reichhaltigen und qualitativ hochwertigen Kulturszene der Stadt, in der ich wohne, zu singen. Zum Lobe einer wie auch immer gearteten Heimatstadt. Grauslig und schrecklich beschränkt. Lange hat es mir nicht getaugt.
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Zwei Reime aus Brandenburg aus dem Jahre 2014. Das Reisetagebuch hier nachzublättern.
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Heimat
Von Görsdorf der Blick / hinüber nach Allensbach / hinter Bad Saarow im Nebeldunst / der Hohentwiel / vor seinem Schatten ein Kormoran / von West nach Ost / zieht über Launsbach eine der ungezählten Gewitterfronten / eines Sommers / vom Baum hängt das Seil / schwingt im Wind über dem Wasser / gestern noch schwang und sprang hier / ein Junge / hinab
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Heimat 2
Ich mag nicht mehr vergleichen / Ich mag dort sein / wo ich gewesen war / Bleiben / wo ich sein werde / Der Wind weht mich ins / Nirgends / Überall
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Momentan beschäftige ich mich mit einer Art Langgedicht. Arbeitstitel: Ferner den Stränden Ithakas denn je.
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(update 19.07.2024) Las ich gestern noch bei Hilbig: „Man muß unbedingt so weit kommen in der heutigen Zeit, daß man die Erde als Heimat bezeichnet. Das kann ich akzeptieren. Aber der Begriff Heimat, auf ein Land, auf eine Gegend, auf eine Landschaft bezogen, der ist mir einfach immer wieder zu stark ideologisch belastet worden. (…) Ich will’s mal verkürzt ausdrücken; wenn ich den Begriff Heimat höre, da höre ich auch den Begriff Krieg.“
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PS: Der Text stammt aus dem Jahre 1984. 40 Jahre und kein bisserl g’scheiter.