“Es gibt Zeiten in unserem Leben, in denen wir uns zurückziehen müssen, nicht um uns zu verstecken, sondern um uns selbst zu heilen. Das ist keine Rhetorik. Das ist ein Plan. Ich habe heute Morgen mit meinen Kindern angefangen und dann langsam mit Freunden. Fühlt euch nicht in die Ecke gedrängt, eingeengt. Lasst nicht zu, dass euer Geist und euer Herz von anderen bestimmt werden. Bewegt euch, so gut ihr könnt, durch die Welt um euch herum und lebt in einer Welt eurer eigenen Welt. Das habe ich heute geschrieben. Zurück an die Arbeit.”
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Nach den letzten zwei Tagen. Eben in der SZ davon gelesen und jetzt hier gesehen. Danke! Dem ist nichts hinzufügen als ruhige und stille Arbeit.
Als hätte die vorgestrige Nacht nicht ausgereicht, gestern Abend dieser neverending Brennpunkt. Berlin statt Arizona. Was das alles bedeutet? Geschichte wiederholt sich? May be. Aber stets in Variationen und also nicht vorhersagbar. Das Ende des Diktats der politischen Kindergärtnerinnen? Abgesägte Zeigefinger? Die Rückkehr der doch eigentlich so abwesenden bösen Väter? An ihrer Seite kalte Mütter? Vorbei das alte Rautenglück. Wir schafften es eben nicht. Who the fuck ist WIR? Wo ist Nancy? Jetzt aber Glorioses ante Portas da drüben? Bald bei uns? Der Schwarze Fels aus dem Sauerland als Retter? Oder das endgültige Ende? So gegen 13:37h oder was früher bis später? Der trotzige Hamburger. Der Dreiprozenttrickser. Das strahlende Orangengesicht da drüben. Viele beleidigte Flunsche. Sattes Grinsen auf der anderen Seite des gefluteten Grabens. Warum nur sieht keiner meine Grandiosität? Was hat der, was ich nicht habe? Als knirscht es auf dieser Seite des Ozeans zwischen den abgeriebenen Zähnen. Binsen?
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“Ich habe am Wannsee Rosen gepflückt und weiß nicht mehr, wem ich sie schenken soll!”, steht auf einer Gedenktafel am Alten Wohnhaus des Jakob van Hoddis in Berlin-Mitte, die mich vor Jahren schon erfreut stutzen ließ. Oder war es die gute alte rote Nelke, die er pflückte? Trockenblumen nur?
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Auf dem Asphalt vom Panzer Donald platt gefahrene Tauben. In ihren zermatschten Eingeweiden puhlen die Auguren linkerhand. Hüten wir uns vor der Illusion am Morgen eines langen Tages zur Nacht zu wissen, wie und wo wir ins Bett sinken werden. Das wird kein Fest. Soviel scheint gewiß.
Und nun? Schuld reklamieren oder Verantwortung übernehmen? Es bleibt anstrengend diffus. Zusätzlich noch die heutige Nacht. Aber vorwärts und nicht vergessen: den eigenen Geldbeutel feste festhalten! Gelle Mensch!
Das ist ein Nachruf. Sentimental. Früher und von dem noch früherem Früher schreibend. Voller nebliger – oder sagt man nebulöser ? – Erinnerungen. Inklusive noch heute spürbar entspannter Kopfschmerzen.
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Las gestern die Todesanzeige von Carmelo Parise, dem unvergessenen Padrone des Burghof zu Gießen. Auf dem Weg ins Trübe fallen links und rechts tagtäglich die alten Haltepunkte, Anker und Kurzzeitheimaten in den Orkus. Unvermeidlich. Nicht darüber jammern. Davon erzählen.
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2001 kam ich nach Gießen. Eine fürchterlich zermürbende Trennung zwischen Köln, Mainz und Wiesbaden war der Anlaß. Ich saß in Mainz in einem Nachtlokal mit dem designierten Schauspielchef des hiesigen Stadttheaters. Getränke. Viele. Willst Du mit nach Gießen? Kann ich mit nach Gießen? Weiß nicht mehr. Was tun? Ich stieg kurz darauf hier aus dem Zug, gespaltenes Herzelein, sprach noch was vor, pro forma und ging dann in den Wienerwald ein paar Häuser weiter! Verträge wurden gemacht. Wochen später saß ich Rotz und Wasser heulend im Botanischen Garten. Pures Entsetzen in solch einem auf mehreren Ebenen wüst verwüsteten Ort landen zu müssen. Ich rief die Gegangene an und brüllte entgrenzt ins besoffene Telefon: „Du bist schuld, daß ich jetzt ein Hesse bin!“ Dann machte ich über Jahre hinweg meinen Frieden. Gelang mir gar. Gelegentlich.
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Der Friedensstifter der ersten Stunden und Monate war der Burghof. Endlich Probenende. Nur die Schulstrasse, in der ich eben auch eine Wohnung bezogen hatte, überqueren. Buena sera. Und dann bis drei Uhr morgens gerne. Auch wenn um 10 Uhr am nächsten Morgen die Probebühne rief. War nicht weiter schlimm, da meist das halbe bis vollständige Ensemble plus Regie, Chef und anderen Abteilungen zugegen war. Hart im Nehmen gegen sich selbst. Wüste Diskussionen. Herrlich sinnfreie Dispute. Beleidigte Bühnenwürste. Pathos. Tränen. Ich reise ab. Ganz schlechte Witze. Die letzte Schnapsrunde des ältesten Kollegen. Pflichtprogramm. Padrone Parise aus den Rippen geleiert. Donna Filomena senkte dann den Daumen. Ich weiß, sentimentaler Scheiß, war aber ab und an so. Genauso.
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Eines der ersten Erlebnisse. Jener 11. September. Eine Abendprobe ist komplett unmöglich. Geschlossen in den Burghof. Unter Schock. Wir arbeiteten an einer Komödie. Der Regisseur, von dem ich einiges für meine späteren Arbeiten übernommen hatte, sagte unvergessen: „Wie kann man in solchen Zeiten Komödien inszenieren?“ Oder ein anderer Lehrmeister und Regisseur der ersten Tage unterbrach – starker Raucher – die Probe. „Ach! Wir hauen uns doch nur Binsen um die Ohren! Wechseln wir die Straßenseite!“ Das konnte dann schon auch mal 12 Uhr mittags gewesen sein. Manchmal gelang es dann sogar gar im sanften Tagesdrümmeln einen Ausweg aus einer festgefahrenen Probensituation zu finden. Das alte (weiße?) Erinnerungsrauschen. Ich weiß. Aber frei von den unnötigen Seminaren.
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Es gab damals die sogenannte Feierpolizei. Ein, zwei Kollegen an vorderster Front waren meist dabei und der damalige Schauspielchef. Gelegentlich griff mich doch die Verantwortung oder die Textmenge des nächsten Tages am Schlafittchen und man stand früher auf vom Tisch oder mied gar die Überquerung der Straße. Heute nur mal! Prompt darauf: „Aha! Man schwächelt!“ Ab und an standen nach Toresschluss ein paar Hartgesottene unter meinem Balkon in der Schulstrasse. „Lugi? Ab ins Domizil!“
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Epilog. Ich mochte das Gießen von vor 23 Jahren, obwohl anfangs recht verzweifelt, lieber. Viel lieber. Weniger Schminke. Weniger Großmann- und Großfrausucht. Leerer. Einsamer. Mehr eigenen Charakter besitzend. Keine Events. Dafür Begegnungen. Und am Sonntag die leeren Strassen. Dann blätterte ich die Seiten vor der Todesanzeige um. Lese Zeitungen gerne von hinten her. Aha? Ein Professor der THM – eine Zeitlang mein Nachbar – will Gießen beleben. Da gehe doch noch was. Ja wo laufen sie denn? Weia!
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Mille Grazie Carmelo Parise! Sincere condoglianze, cara Donna Filomena!
Lose verknotete Schnürsenkel haben keine Enden mehr
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Mein Heizkörper wärmer als mein Herz
Schaue ich den Gewässern beim Kochen zu
Ohne zu frieren
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Mein Garagentor weiter weit offen
Klappe ich mein Visier herab
Meine Stoßstangen polierend
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Früher wohnte ich in Entenhausen
Zu feige die Panzer zu knacken
Deren Rohre ich lutschte
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Aus den Vorstädten rauschte ich heran
Stand endlich vor deiner Haustüre
Keinen Schlüssel in meiner Hand
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Nun kann ich kaum mehr sprechen
Meine Worte sind mein wütendes Schweigen
Ich bin die Flut
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Wir werden deine Vorgärten übersehen Bürger Groß
Deinen Spiegel halte nicht mehr vor mein zahnloses Gesicht
Ich trenne Deinen Müll fortan in eine Tonne
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Und wenn wir uns verlieren wortlos satteln wir unsere Zimtpferde
Und reiten gen Isengart weiterhin gottlos
Die letzte Schlacht werden auch wir nicht gewinnen
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(gießen / zweimal werden wir noch wach / und dann? / warum sehen donaldisten eigentlich so aus, als hätten sie gestern noch versucht das capitol von entenhausen zu entern?)
Am 3. November 2001, vor 23 durch die Zeitachse davon gejagten Jahren, starb Thomas Brasch. Auf vielfältige Art und in vielen Zusammenhängen mir eine aufploppende Projektionsfläche und Identifikationsfigur.
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„Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“
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(Thomas Brasch / Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu entkommen)
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Im Sommer 1980 hat mir meine damalige Geliebte dieses Buch geschenkt. Mit gereimter Widmung. Wo ist das Buch? Ich habe es – glaube ich – im Rahmen meiner Arbeit an der „Tankstelle für Verlierer“ – irgendwohin verliehen. Manches kehrt nie mehr zurück. Ich erinnere mich, wie ich mich durch diesen wilden Wust versuchte durchzulesen. Viel begriff ich nicht. Was ich aber begriff: wie wuchtig die Heimatlosigkeit, das Atmen ohne Wurzeln, die verlassen, das blinde Tasten namens Wut in diesen Texten. Damals befremdete mich das. Inzwischen ist es Bestandteil meiner Sicht auf das Außen. Obiges Gedicht war Motto meiner Gundermann–Arbeit.
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„Wieviele sind wir eigentlich noch.
Der dort an der Kreuzung stand,
war das nicht von uns einer.
Jetzt trägt er eine Brille ohne Rand.
Wir hätten ihn fast nicht erkannt.
Wieviele sind wir eigentlich noch
War das nicht der mit der Jimi-Hendrix-Schallplatte.
Jetzt soll er Ingenieur sein.
Jetzt trägt er einen Anzug und Krawatte.
Wir sind die Aufgeregten. Er ist der Satte.
Wer sind wir eigentlich noch.
Wollen wir gehen. Was wollen wir finden.
Welchen Namen hat dieses Loch,
in dem wir, einer nach dem andern, verschwinden.“
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(Brasch / DDR-Lyrikreihe Poesiealbum)
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Kurz nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 verschob sich auch Brasch mit seiner Geliebten Katharina Thalbach in den Westen. Ließ sich auf eigenen Antrag hin verschieben. Wer bereut was und wann? Das Wortungetüm namens Ausreiseantrag. 1980, eben in Köln auf der Schauspielschule angefangen, sah ich im Schauspiel Köln Flimms Inszenierung des „Käthchen von Heilbronn“. Die junge Thalbach eine Explosion der Darstellungskunst. Tief beeindruckt. Damals verstummte Brasch eine längere Zeit lang, zumindest öffentlich, und besoff und bedröhnte sich, wenig beeindruckt vom „Versprechen West“. Der Grenzgang, das Faszinosum Euphorie, war mir nie fremd gewesen. Früher noch mit etwas mehr Glitzern versehen. Heute gelegentlich erschreckend banal mit dem eigenen Untergang jonglierend. Nie vergessen werde ich den Schluß des Theaterabend zu Kölle. Die Rückwand der Bühne öffnete sich, man sieht die nächtliche Krebsgasse. Kalt zieht und sieht es in den Zuschauerraum hinein. Draußen stehen die Schauspieler und glotzen zurück. Ein Poem von Brasch?
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„Und wenn wir nicht am Leben sind
dann sterben wir noch heute.
Die Liebe stirbt, du lebst, mein Kind
Die Mädchen werden Bräute
Ach, wenn ihr mich gestorben habt,
lebt ihr mich weiter heute,
gemeinsam wird ein Land begrabt
und einsam sind die Leute.“
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(Brasch / Gedichtsammlung: Die nennen es Schrei)
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Der ewige Riß. Laut oder leise. Wie einst der Vorhang im Tempel zu Jerusalem. Die Welten werden weiterhin Pharisäer beheimaten, denen eine gezielte Beerdigung ihres Landes am Schrumpelhirn vorbeigeht. Man setzt lieber fremdes Eigentum am Roulettetisch namens Leben denn den eigenen Arsch. Brasch ging, wie man heute so gerne schwafelt „All in“. Das mochte ich stets und mag es noch, wissend um die Risiken. Und sie auch gerne negierend. Wissend negieren? Geht das? Vor den Vätern sterbend als Sohn, der man ewig bleiben muß, wenn kein Vater? Dann Gott? Anderer Vater?
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„DAS FÜRCHTEN NICHT UND NICHT DAS WÜNSCHEN
darf mir abhanden kommen, auch mein täglich sterben nicht
das seellos süchtig sein auf keinen fall
nur hirnlos reimen wie ein wicht muß beendet werden
da ist ein gott und setzt sich zwischen alle stühle
er sieht genauso aus wie ich mich fühle“
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(Brasch kurz vor seinem Tod 2001)
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Und nun welches Lied? Ich kann nicht begründen warum, glaube aber es passt. Verdammt. Neat übersetzt: sauber. War auch einmal ein höchschtes Lob. „Und wie isches? Sauber!“ Beachten Sie den Bassisten links im Bild!