Nachricht aus dem Nachlösewagen 01

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Ich renne. Es ist glatt. Gestern hatte es noch geregnet. Warmer Südwestwind zerrte an meinem Schal. Über Nacht drehte der Wind auf Nordost. Andeutungen eines Sturmes und die Bürgersteige wurden glatt. Über Nacht. Ich hatte mir zum Jahresbeginn eine Rentnerkarte gekauft. Im Abo. Etwas über € 30.- werden mir nun monatlich abgebucht. Dafür kann ich jeden Tag ab 9h Busse in Stadt und über Land, Züge, solange sie nicht zu schnell sind, in dem Bundesland, in dem ich wohne, benutzen. Fahren. Fahren. Wohin aber? Ich habe mir eine Landkarte gekauft und mit spitzem Finger auf zukünftige Ziele gezeigt. Als Bube hatte ich den Diercke-Weltatlas so gut wie auswendig gelernt. Im Fingerreisen war ich damals schon ein Marco Polo unter meinen Freunden. Heute will ich los. Es ist glatt. Ich renne, aber sehr vorsichtig. Eigentlich setzte ich nur einen Tippelschritt vor den anderen. Zu mehr reicht die Kraft nicht. Der Alkohol der letzten Tage lässt die Oberschenkelmuskulatur sich zusammenziehen. Unter meinem linken Arm eingeklemmt die Mutter aller Porzellankisten. Ich bin ein geborener Deutscher. Nun ja.

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Der Zug steht regungslos am Bahnsteig. Niemand da. Vor dem Zug. Auf dem Bahnsteig. In den Triebwägen. Die Motoren aber laufen, tuckern, es riecht nach verbranntem Diesel. Auch wenn ich mir das lediglich einbilde. Da, am Ende des Schienenbusses ist er, der Nachlösewagen. Kurz freue ich mich wie ein Kind über die Worte „Schienenbus“ und „Nachlösewagen“. Dann steige ich ein. Zwei, drei steile, rutschige Stufen, eisenbegittert, nach oben. Meine Oberschenkel brüllen mich an. Ich bin drinnen. Ist es im Waggon sogar etwas kälter als draußen? Ich ziehe meinen Schal enger um den Hals. Es windet wenigstens nicht hier im Inneren des Zuges. Ich denke an Jonas, den Wal. Ich schaue mich um.

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„Hallo? Ist da jemand? Ich würde gerne eine Fahrkarte nachlösen. Hallo?“

Die Maschine wird lauter. Es klingt, als gäbe der Lokführer fest entschlossen Gas. Ich friere. Ich friere auch nach einer halben Stunde noch. Nichts ist geschehen, aber laufende Motoren unter meinen frostigen Füßen.

„Guten Tag? Wo wollen Sie denn hin?“

Ich drehe mich um. Eine sehr kräftige Schaffnerin, Damenbart, grüne Strähnen im Haar, die unter der Dienstmütze hervorlugen, steht hinter mir. Sie raucht einen Zigarillo.

„Ich weiß noch nicht so recht. Wo fahren Sie denn hin?“

„Tja. Wenn ich das wüßte. Der Lokführer hat sich noch nicht entschieden.“

„Warum?“

„Weil er noch gar nicht da ist!“

„Aber entscheiden nicht die Schienen über das Ziel, welches wir ansteuern werden?“

„Glauben Sie auch noch an das Christkind?“

„Aber Sie verkaufen doch Fahrkarten? Prinzipiell? Hier im Nachlösewagen?“

„Gewiß. Wenn wir denn fahren werden.“

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