Gießen oh Heldenstadt, leuchte weiter!

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In der Heldenstadt sind die roten Nelken ausverkauft!

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Gießen feiert sich dieser Tage. Darf man. Nachdem etliche auf die „Panikmache“ im Vorfeld reingefallen waren – die bösen bösen Panikmacher eben – Frage: Wenn man auf Panikmache panisch reagiert, wer ist Schuld? Die „Panikmacher“? – war die Erleichterung ab Samstagnachmittag groß. Zu Recht. Der Gießener hat es den Rechten und der Welt gezeigt, vergißt dabei aber geflissentlich, daß nicht nur die Randalefreaks von außerhalb kamen, sondern auch ein erklecklich großer Haufen der Friedlichen. 70 Prozent? Weiß nicht. Manche Einwohner flohen im Vorfeld ins Umland, zu Mama und Papa oder – wie ich las – gar bis Südtirol. Skifahren für den Frieden! Viele haben ihre Geschäfte verbarrikadiert, als würde ein Hurrikan das Lahntal hinunter wehen wollen und die Innenstadt überfluten. Das es auch anders geht, zeigte mein persönlicher Glückwunschkartendealer. Er blieb offen, kam so mit vielen (Nicht)käufern ins Gespräch. Seine Schaufenster hatte er mit Postern voller guter alter humanistischer Sinnsprüche vollgehängt. Sein Motto? „es gibt wichtigeres als umsatz“. Der Zentralgastronom visavis hatte geschlossen. Als man nachmittags bemerkte, daß auch der Protestant (so ein Reporter in der Hessenschau!) konsumbereit ist – Zack! – war der Laden offen. Pecunia non olet! Gibt es neben Kriegs- eigentlich auch Demogewinnler?

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Gießen leuchtete also und brannte nicht. So der erste Bürger der Stadt. Er hatte am Montag letzter Woche den obligatorischen Weihnachtsmarkt eröffnet und man könnte meinen, daß das was eine Demokratie auszeichnet und was das Allererste der zu verteidigenden Kulturgüter ist, dies der deutsche Weihnachtsmarkt sei. So der erste Bürger der Stadt. Es wurde sogar – kostspielig – ein Shuttleservice organisiert, um dem geschockten und abgeschnittenen Umland den Besuch des Kulturguts zu ermöglichen. Doch ab Freitagmittag bis Sonntagabend machte davon kaum jemand Gebrauch. Schon gar nicht die Demonstranten. Da waren Gehbier, Kaffeebecher und ein Stück Pizza gefragter. Am gestrigen Montag war die Location dann wieder proppenvoll. Die hohe Kultur ist back in town. Und was gibt es Schöneres als überteuertes Zuckerwasser mit Alkohol aus Plastikkanistern in geschmackvoll designten Tassen zu süffeln?

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Gießen ist eine Kulturstadt und auch diese zeigte Flagge oder wahlweise gold-silberne Rettungsdecken. Warum? Bereitete man sich auf Wasserwerfereinsätze vor? Oder wollte man gegebenenfalls die unterkühlte Demokratie darinnen einwickeln? Flaggen wurden aus einigen – überschaubar – Fenstern gehängt. Einer reaktivierte sogar sein altes „Kein Blut für Öl!“- Bettlaken. Er heizt wahrscheinlich noch mit russischem Gas. Ein Konzert am Vorabend des bange erwarteten Samstags eröffnete ein Mime mit den markigen Worten, dies sei ein Konzert für Frieden und gegen rechts. Wahrscheinlich damals schon, als die alte Autokratin noch dem Musentempel vorstand, ein unerschrockener Kämpfer gegen antidemokratisches Gemauschel. Der Bandleader bat das Publikum dann zu tanzen. Derweilen machte sich in den Strassen der Stadt eine an die Pandemie erinnernde vibrierende Stille und Leere breit. Auf dem Kirchplatz knatterten drei einsame Fahnen im Wind. Klaus Meine pfiff dazu.

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Gießen, ja und gelle, Gießen konnte auch anders. Nachdem in den frühen Morgenstunden an den beiden Lahnbrücken, rechterhand gar nicht, linkerhand dann doch etwas mehr, die ersten Erregungs- und Aggrowellen ausgelaufen waren, füllte sich die Kreuzung vor der zentralen Bühne. Und da begann wirklich Erstaunliches. Eine gelassene Stimmung machte sich breit, man mäanderte von hier nach da, lauschte, länger, kürzer, wärmte sich in der Einkaufspassage. Auf dem Wochenmarkt stand ein einsamer Brotverkäufer und – anders als auf der anderen Seite des Flußes – sank das für das Zentrum dieser Stadt eigentlich typisch hohe Aggressionspotential gegen Null. Da der Hauptdealer der Punker- und Trinkerszene am Marktplatz geschlossen blieb, wurden diese nicht gesichtet. Die Freunde des Cracks und die dazugehörigen Händler mieden – Wer weiß, vielleicht hat der Polizist gerade nichts zu tun – ebenfalls das Zentrum. Die streunenden, sich in Grüppchen lautstark langweilenden Jungmänner saßen wahrscheinlich zu Hause vor der Daddelmaschine und – Tusch! – den „Hauptaggressoren“ Parkplatzsuchverkehr und Umlandshopper war es weder gelungen die Polizeiabsperrungen noch die widersetzlichen Blockaden zu überwinden. Außerdem war da ja noch die „Panikmache“. Die Stadt kurzzeitig wieder in den Händen der Bewohner. So schien es. Gelle Umland! Einschub 1: Und am erstaunlichsten war, daß am Ende des langen Demosamstags weitaus weniger Müll auf den Straßen lag, denn nach einem langen Einkaufssamstag oder einer vom Jungvolk befeierten Nacht. Können so viel mehr Menschen weniger rummüllen als weniger Menschen? Einschub 2: Noch erstaunlicher, daß entgegen der üblichen Praxis am Sonntagmorgen die Straßen in kürzester Zeit gereinigt waren. Weiter im Text: als nach dem wunderbaren Kurzauftritt von KRAFTCLUB die große Masse der Friedlichen und Freundlichen sich zerstreute, blickte man in tatsächlich strahlende Gesichter. Es gemahnte an die verzückte Atmo, nachdem in Kölle der Rosenmontagszoch vorübergezogen ist. Ein letztes Alaaf und „Es hätt noch immer jootgejange!“

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Gießen, heute mehr denn vorgestern Heldenstadt, fängt an ein bisserl zu hyperventilieren. Gewiß darf man das, wenn man in den samstäglichen Hauptnachrichten den Opener geben durfte aka mußte und auch das Netz überquillt wie bei einem Heringsfang im letzten Jahrhundert. Gewiß muß man das, da man in den Geschichtsbüchern ab sofort seinen Eintrag mit Sternchen gefunden hat. Die zwei Lokalgazetten, die eigentlich nur noch eine sind, schicken ihre Jungredakteure an die etwas arg starre Meinungsfront. „Wer ist schuld an der Eskalation?“ Sie beziehen in Sachen Gewalt Stellung neben den inzwischen entfernten Blockaden. Wie in den Gefechten im Kampf um die Meinungshohheit zwischen den Behelmten und den Vermummten bleiben die Zeigefinger weit ausgestreckt und man vermisst den guten alten Spruch von der Sinnhaftigkeit der Reinigungsarbeiten vor der eigenen Haustür. Von Feindbildern mag man nicht lassen. In „Heldenstädten“ steht man – zumindest bis zur Kommunalwahl – eben immer auf der rechten Seite. (Ein Hoch der Doppeldeutigkeit der deutschen Sprache!) „Hey Wiesbaden! Mach mir meinen Status nicht madig!“ Egal! Wiesbaden ist halt keine Heldenstadt. Pfeift Klaus Meine noch?

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Die Geburt der Heldenstadt Gießen war ein freudiges Ereignis. Aber auch mit gewissen (oder Gewissens..) Schmerzen verbunden. Und jetzt lauf los, Kleine! Feier Dich nicht zu lange und geh an die Arbeit! Nachdenken wie man dem braunen Haufen aus den Hessenhallen in Zukunft beikommt. Oder vertreibt. Und laß Dir ruhig ab und zu von Wiesbaden helfen. Auch wenn die keine ….etc ppp. Und draußen vor der kleinen Stadt stehen sich nicht mehr die Kontrahenten des letzten Samstags die Füße platt, sondern der Chef des Einzelhandels brüllt von seinem Hügel herunter: „Wer hat mir meine Millionen geklaut?“

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Lechts und rinks kann man leicht usw

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In Gießen und anderswo im November 2025: „Der braune Haufen muß weg! Aber wie?“

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In der Überschrift dieses Blogs steht, daß an den Rändern Erfahrungen lauerten. Wie man’s nimmt. Ganz gewiß lauern dort auch erhebliche Gefahren und Abgründe. Wie letzten Samstag direkt vor meiner Haustür zu erleben. Wer aus Gewalt gegen Polizisten, die ihrem Scheißjob machen, schulterzuckend einen „Fliegenschiß“ macht … nun denn. Untiger Kommentar dazu spricht mir aus dem Herzen.

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„Die Ereignisse in Gießen an diesem Wochenende sind in keiner Weise erfreulich. Das gilt sowohl für das eigentliche Gründungstreffen der neuen AfD-Jugend als auch für das, was sich außerhalb in der Stadt abgespielt hat. Friedrich Merz hat von einer Auseinandersetzung zwischen ganz links und ganz rechts gesprochen.

Beginnen wir mit ganz links: Statt eines friedlichen Aufzugs für Freiheit und Demokratie, wie ihn sich Gießens Oberbürgermeister gewünscht hatte, gab es wieder einmal von Chaoten geprägte Proteste. Es ist leider oftmals das Gleiche: Linke Gewalttäter nutzen Demonstrationen, um vor allem Polizisten mit Steinen, Flaschen, Feuerwerkskörpern und anderen Dingen anzugreifen.

Derart verteidigen sie aber nicht die Demokratie, sondern sie verletzen sie. Das fängt nicht erst bei den Gewalttaten an, sondern schon mit dem Vorhaben, Andersdenkende daran zu hindern, sich zu versammeln. Die Gewalt der linken Chaoten führt dazu, dass die Mehrheit der friedlichen Demonstranten kaum noch wahrgenommen wird, die sich für ein Land der Vielfalt und gegen Rechtsextremismus eingesetzt haben.

Aber nicht nur das. Die Gewalt überschattet auch das, was auf der anderen Seite eigentlich vor sich geht – die Inhalte der AfD-Jugend und die damit verbundenen Gefahren geraten ins Hintertreffen.

Damit sind wir bei ganz rechts. Denn dort steht die neue AfD-Jugendorganisation ganz sicher. Nicht nur dass ihr Vorsitzender als Rechtsextremist wohlbekannt ist, auch die Träume von einer „millionenfachen Remigration“ waren bei dem Gründungstreffen mehrfach zu vernehmen. Das ist die Höcke-Linie der „wohltemperierten Grausamkeit“. Auch die „Generation Deutschland“ gibt also nicht Anlass zur Hoffnung, dass sich die AfD in nächster Zeit mäßigen könnte. Sie sollte vielmehr ein weiterer Grund sein, über eine irgendwie geartete Zusammenarbeit mit dieser Partei gar nicht erst nachzudenken – sondern sich ihr mit friedlichen Mitteln entgegenzustellen.“

(FAZ / Kommentar von Philip Eppelsheim / mit Dank für das Verwursten)

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Das Beharren auf und an den Rändern, somit das Beharren auf eigener Besonderheit, die starke Anziehungskraft der Selbstgerechtigkeit oder gar Selbstüberhöhung lauern nunmal eben dort. Auch wenn man nur seinen Lebensweg nachträglich verteidigen, geradebiegen oder was auch immer will. Da halte ich es heute lieber mit David Bowie. Mal so, dann anders, aber beweglich bleiben. Nicht immer in denselben Haufen … Naja! TOITOITOI!

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PS: Vielleicht muß ich nach Rückkehr aus den Spitälern – ab heute läuft die Maschine (Vorgespräche, Voruntersuchungen etc ppp) – das Ding hier in eine wie auch immer geartete Mitte verorten. Ansonsten bin ich froh, daß es endlich losgeht.

Melankomie, Morälchen, Ritterregeln 14

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Einheitsflaschenöffner „Hand in Hand“ / gefunden bei BUSCHFUNK

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Erinnerungskrümel in Sachen Einheit

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Stand nicht schon in der Heiligen Schrift: „Ein jeder öffne des anderen Bier!“? Doch heute benutzt man den 17er-Schlüssel meist nur ums Getränk vor der eigenen Nase verzehrfertig zu öffnen. Und rechts wie links von sich? „Das ist nicht mein Bier!“

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Gestern feierte das offizielle Land 35 Jahre Vereinheitlichung. Im Westen. Ganz am Rande. Ohne einen Vertreter des Ostens. Dafür kamen Monsieur „Mark/Krone“ und Jörg Pilawa vorbei. War die Mauer am Ende gar ein die Brüder und Schwestern eher verbindendes Element?

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Unlängst als ich ein Cafe hier vor Ort – das Traditionscafe!!! – verließ, schnappte ich auf, wie ein älterer gutsituierter Herr zum anderen gutsituiertem Herrn – es roch nach Oberstudienräten oder Rechtsanwälten in Rente – sagte: „Also das muß man doch mal sagen. Die jetzige Situation besteht doch erst, seitdem wir das ganze Geld da drüben hinschicken.“ „So isses doch!“ War die Antwort. Wie sprach mein Vater immer? „Der Teufel scheißt stets auf den größten Haufen!“ Wobei die Haufen dies für selbstverständlich halten oder ihr Anwachsen gar nicht bemerken. Werde die zwei armen Kaffeehausrentner fortan in meine allabendlichen Fürbitten einschließen.

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Ich habe am gestrigen Erinnerungstag dem „Lern- und Erinnerungsort“ Meisenbornweg einen ersten Besuch abgestattet. War dabei einer der eher jüngeren Besucher. Sic! Gut gemacht das Ganze. Fand ich. Ein Ort um die Fähigkeit sich zu erinnern, im Guten wie im Schlechten, nicht komplett und auf Dauer zu verlernen.

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Stadttheater Gießen im Jahr vor der Pandemie. Eine Hauptprobe meines Gundermannprojektes. Die damalige Intendantin – Schweizerin – kritzelt, mit hängenden Mundwinkeln und schräg gelegtem Haupt zuschauend, einen halben Notizblock voll. Zum Gespräch über das Monierte kam es nicht. Oder fehlte – Vermutung – schlichtweg jegliches Wissen / Interesse / der passende Flaschenöffner? Ich hatte damals vorgeschlagen den noch leerstehenden Meisenbornweg als Spielstätte zu nutzen. Die Gesichter gegenüber sprachen daraufhin ein großes „HÄ?“.

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Die Verträge waren früh und schnell gemacht. War es wirklich die einzige Chance diese Eile damals? Spät ist gerne mal schlau. Jedoch das Rütteln an Bäumen, deren Früchte noch nicht reif, und die Unfähigkeit auf das gereifte Fallen zu warten, war noch nie gescheit. Vor allem, wenn man an den Bäumen der Anderen rüttelt. Siehe der „große Haufen“!

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Ritter Runkel von Rübenstein einst erlaubte sich diese Bemerkung mal: „Wer gern mit bloßem Tand sich schmückt, der ist von Fürstenhold entzückt. Doch alle Ehren sind umsunst, genießt er nicht des Volkes Gunst!“

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PS: Im Dezember wird – endlich – meine mich ordentlich ärgernde Hüfte ersetzt. Weihnachten und Sylvester verbringe ich dann mit dem Pflegepersonal in der Reha. Bis nächstes Jahr dann. Wieder hier. Vielleicht!

Melankomie, Morälchen, Ritterregeln 13

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Chemiesaal / Die 10b / Konstanz / Juni 1972

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Vor etwa einem Jahr kaufte ich mir die Gesammelten Gedichte von Thomas Brasch. „Die nennen das Schrei“. Ein Backstein von Buch. Mit Anhängen über 1000 Seiten. Davon weit mehr als die Hälfte Gedichte aus dem Nachlaß. Ein Nachttischwerk und immer gern Begleiter. Drei Beispiele. Danke Suhrkamp.

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WO SCHLAGT IHR EURE ZELTE AUF

sagt, wo

wo begrabt ihr euer Herz,

und hört ihr –

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Die leisen Wellen

ich höre sie nicht

die schönen Träume

ich träume sie nicht

gekettet an Qual der Gedanken

allein mit dem Schlagen des Herzens

bin ich

Und wo sind die Wellen,

die schlagen für mich

an einsame Ufer

wo sind meine Träume

die ziellos erwärmen

die kühlen und klagenden Lieder.

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Gegangen das alles,

verstorben die Winde,

geblieben ein Zelt,

allein und zerstört,

im Winde gebrochen

und stumm ist die Welt.

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LIED

Gibt es ein Lied,

das alle singen können,

das alle hier befriedigt,

Es müßt‘ ein Lied sein

Sauber und auch schmutzig

In hohen und in tiefen Tönen

Gemischt aus Dur und Moll

Mal lustig und mal traurig,

vielleicht auch manchmal beides gleich.

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Es müßt‘ in Höhen schwingen können

So unbeschwert wie Drachen,

die im Herbst

voll Freude

die Sonne hier verdunkeln.

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Doch müßt‘ es auch die Tiefen suchen

Die ich am Abend spür‘

Und müßte plätschern wie der Fluß

Und rauschen wie das Meer.

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Glaubt ihr,

es gibt solch Lied,

das alle aus dem Herzen

ohne rot zu werden

einer Lüge

singen können.

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Und wer das Lied kennt,

sag‘ es mir,

denn ich hab es

bis heute

nicht gefunden.

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DIE AUGEN DER ANDEREN SEHEN MICH

Meine Augen sehen die anderen

Ich sehe mich nicht.

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Für ihn bin ich der Arrogante

für den der manchmal Amüsante

für sie bin ich Gewicht, das rhytmisch zuckt

für ihn der Mann, der gegen alles muckt

was bin Ich?

Im Spiegel sieht mich einer an

Zwei Augen, Nase, Mund

Die Beine seh ich, Arme auch

Die Schultern manchmal und den Bauch

Doch was ist das, was Feuer haßt

Und was ist das, was diese liebt?

Was ist es denn, was sie loben?

Sind es Gedanken, die den Kopf durchzucken

Durch meinen Mund sie an der Seele jucken?

Was sie da hören, bin nicht ich,

kein Satz zeigt doch das Chaos der Gedanken

nichts, was ich zeige, zeigt Ideen, die Stimmungen durchranken

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In ihren Augen bin ich nicht.

Ich bin nicht, was der eine haßt

Und bin nicht, was sie sagt im Bett

Ich bin nicht mutig, klug und nett

Ich bin nicht dort in ihren Köpfen

Ich bin in mir allein

Die Augen, die nach innen sehen, sind leer

Wo bin ich nur, wo, was und wer?

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Tja. Die nicht endenwollende, selten von Findeerfolgen begleitete, Suche. Auf der Flucht vor der unerträglich kurzatmig stupiden Unwirtlichkeit da draußen, findet man sein Innen nicht weniger unbehaust vor. Die drei obigen Reime schrieb der Mitzwanziger Brasch in den frühen sechziger Jahren. In der DDR. Bin ich gescheiter weiter dieser traurigen Tage? Noch ein Tag. Eben der.

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Ritter Runkel von Rübenstein einst erlaubte sich diese Bemerkung mal: „Zähne kostet es zumeist, wenn ein Hund auf Eisen beißt!“

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Melankomie, Morälchen, Ritterregeln 12

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An der Seite des Geheimrats / Ilmenau im Oktober 2021

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Zeigefinger auf hohen Absatzbewegungen

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Beschwingt zerknirscht schwingt das hochdesignte Schlaghosenbein

Hinter dem geschwungenen Pult hervor im Studio der

Zeitendeuterinnen

Und ich versuche mit druckergeschwärzten Fingerspitzen

Mir die Zeigefinger aus den Augen zu kratzen

Die auf mich eindringen moralingesäuert

Die Meldungen überschreiend

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In NY grinst eine Prinzessin Gernegroß in die Linsen

Kein Eintopf

Winkt heran einen alten Backfischtraum stampft auf

Und rumpelstilzt

Nein nein nein

Meine High Heels laß ich mir nicht verbieten

Der Dienstwagen hält auf Passanten

nicht mehr halten aber

kann es der farbige Chauffeur welcher lachend

sich erleichert an einen Hydranten

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Wie gut ginge es mir

Ohne all die

Die mir weismachen wollen

Es ginge mir schlecht

Schrieb mal Andre Gide

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(September 2025)

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Umzingelt von Besserwissern und Rechthabern aller sieben Geschlechter, meide ich die Bildschirme nicht immer, aber immer öfter, halte mich an einer Zeitung aus Frankfurt fest, auch wenn die nicht mehr soviel Druckerschwärze hinterlässt wie anno tobacco road und ansonsten bleibe ich in der Nähe von Reimen. Den unten mag ich. Selber denken.

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du heilige

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wie hast du

alle hinters licht

geführt

ganz ohne

insignien

der ohnmacht

du bist die beste

scheinheilige

alle kerzen

zünde ich dir an

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(Doris Runge)

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Ritter Runkel von Rübenstein einst erlaubte sich diese Bemerkung mal: „Ein Ritter findet immer noch, zu guter Letzt, ein Mauseloch!“

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Melankomie, Morälchen, Ritterregeln 11

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Abendliche Altstadt / Gernsbach / Nordschwarzwald / September 2024

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Daheimgefühl versus innere Freiheit

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Wenn das Müde nach uns greift

Der Himmel nur noch Donnerblech

Zum Abendmahle Schwefel Pech

In überhitzten Kesseln schmurgelt

Beginn Dein Ende ohne Arg

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Wenn das Fade nach uns fasst

Der Fluß versiegend Ufer meidet

Ein Storch durch Auen trocken schreitet

Frosch ungeküsst im Brunnen tobt

Begeh Dein Ende Tag wie Nacht

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Wenn eine Reise ohne uns

Gestade fern und unbesehen

Ein Berg verborgen unter Wehen

Schnee fiel die ganze Woche leicht

Sing nicht vom Ende heut noch nicht

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Wenn Stunden alt und klapprig atmen

Bieg nochmals um die selbe Ecke

Erinner Dich an die Verstecke

Die Bilder hingen nicht umsonst

Denkt nicht an Ende häng sie um

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(gießen / anfang september 2025)

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Ritter Runkel von Rübenstein einst erlaubte sich diese Bemerkung mal: „Verloren wäre ohne Schwan der Lohengrin in seinem Kahn!“

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Melankomie, Morälchen, Ritterregeln 10

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Bei Nonnenhorn / Bodensee / Oktober 2022

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Sand auf der Seele oder Du hattest mich an die Dinge gemahnt, die heimlich in mir waren

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Sie sind nicht voll

Die Flaschen leer

Und unter deinen Schwingen

Mit was soll ich noch ringen

Da ich nach Hause roll

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Auf morschen Pfaden hingemalt

Der Abdruck Deiner Schuh

Das Ächzen meiner Knochen

Soll ich Dir heut was kochen

Die letzte Rechnung nicht bezahlt

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Es dräut ein Schweigen langer Mut

Und Fingerspitzen tippeln Hast

Der Herbst fällt schüchtern über’s Land

Der Sommer halt erschöpft den Rand

Feuchte Felder Kartoffelfeuerglut

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Die Stadt tanzt ihre Häßlichkeiten

Passanten hasten ohne Pläne

Ein trudelnd Blatt ich fing es auf

Hoffnungsbrösel Dauerlauf

Wir sollten uns wohl vorbereiten

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(gießen / ende august 25)

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Ritter Runkel von Rübenstein einst erlaubte sich diese Bemerkung mal: „Wer sich ganz in Eisen hüllt, hat noch nie vor Schmerz gebrüllt!“

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Melankomie, Morälchen, Ritterregeln 9

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Bank, altersschwach und Abfalleimer / Sowetsk (ehemals Tilsit) / 2. September 2017

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poesiealbum des alterns

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seit beginn des jahres sammle ich die

schmerzen des dahinschwindens die

wenn sie mir nicht zufliegen nächtens

oder wenn der griff zur kaffeetasse zu heftig eine

unerwartete drehbewegung weil ich ein

knirschen ziehen rasten überhörte dies

wollte gar und nicht anders kann ich dies

doch

zwischen die zipperzapperlein hüpfen sie tanzen

herein herein rufe ich nicht die uralten

die fröhlichen nie auskurierten nie kuratierten

schmerzen eines einstigen jünglings die nicht siedeln in den

knochen aber im kopf

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wohin gehen die tage wenn sie

vorübergehen bleiben sie

hinter der nächsten ecke stehen um

zu warten dort auf mich

einandermal

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(unlängst in einer schmerzhaften nacht / gießen sommer 25)

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Ritter Runkel von Rübenstein einst erlaubte sich diese Bemerkung mal: „Das was im Faß, ist meistens naß!“

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