Konstanz / hinter der Hinteren Sonne / 11. März 2022
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Noch mehr schwere Waffen genehmigt. Eben im Radio. Gestern Abend ukrainischer Kinderchor auf dem Kirchenplatz. Allenthalben die neuen T – Shirts. FCK PTN. Eben vor dem etwas schweren Aufstehen las ich:
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„Da waren auch die Überreste der Residenz und seiner Getreuen unweit der Grenzbarriere von Koromogaseki, die den Zugang zum Nambu – Gebiet sicherte: keineswegs eine unpassende Stelle, um die Nordbarbaren abzuwehren. Die treuen Vasallen (des Helden Yoshitsune) hatten sich dort verschanzt – ach, der Ruf ihrer Ruhmestaten war von kurzer Dauer. Von dichtem Gestrüpp sind alle Spuren überwuchert.
Das Land ist verwüstet – Berge und Flüsse aber blieben unversehrt – über Burgruinen grünt, wenn der Lenz kommt, nur noch Gras!
Diese Gedichtworte gingen mir durch den Kopf. Mit meinem Bambushut unter mir ausgebreitet, saß ich da, vergoß Tränen und vergaß die Zeit.
Sommergras …!
Von all den Ruhmesträumen
die letzte Spur“
(Basho / Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland)
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„Die Frage nach der Verhinderung des Krieges muß anders formuliert werden: Wie kann der Mensch ohne Krieg auskommen?“
Konstanz / hinter der Hinteren Sonne / 11. März 2022
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die flucht in den frühling
brach er ab
die kleine lauchzwiebel
hing geknickt und von einer
gnadenlosen sonne geprügelt
windschief über der krume
nicht zu viel gießen
dachte er noch
als er die dritte kanne über das halbtote
gewächslein zart
gekippt hatte
man könne auch ersaufen in der
trockenheit
fiel es ihm auf die feuchten schuhe
denke nicht an das gericht
an die pfanne
an die vollendung
weit vor der ernte
morgen anders
gießen
sachter verbrennen
üben
es ist kein spiel
das man nicht erlernen
könnte oder
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Erwachte heute Morgen aus einem seltsamen Traum. Lief durch ein altes Theater. Überall wurde gearbeitet. Hektisch. Es wirkte ein bisserl wie Aufräumarbeiten nach einem Überfall, Krieg. Viel Schwarz, viel Verkohltes. Alle Türen waren zugestellt mit Sperrmüll. Zum Mitnehmen. Zum Verschenken. Viele neue Türen auch noch. War da was? Ich kannte mich nicht mehr aus. Wurde angesprochen: Als sie noch hier waren, war es aufgeräumter. Ich verneinte und stieg über einen Sperrmüllberg. Ein letzter Raum. Kaum beleuchtet. In lumpigen Kostümen – Motto: der morbide Chic – lagen alte Kollegen von mir erschöpft auf den Boden. Keine Regie in der Nähe. Es war kalt. Ich fragte: Ist das jetzt so eine Art Hauptprobe? Habt Ihr die schon gehabt? Ein geschätzter Kollege, mit dem ich viel gestritten habe, bis wir uns endlich „liebten“, antwortete: Ja. Hauptprobe. Wir haben morgen Premiere: am 3. Mai. Ich erwachte sehr verwirrt und flach ATMEND. Aber atmend immerhin noch.
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Jetzt ist es weit nach Mittag und dieser Traum läuft mir immer noch hinterher und beißt mir in die Waden. Ich schiebe die Steuererklärung vor mir her.
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Es wird Zeit – Eintracht Frankfurt hin oder her, liebe Hessen – mal ein richtiges Langgedicht auf Christian Streich zu verfassen. Auch die Rente muß man üben. Hoffentlich spielerisch wie Christian Streich. Jedoch: Der übt jetzt auch das Verlieren. Tja! Scheinsouveränität rules ok!
Konstanz / hinter der Hinteren Sonne / 11. März 2022
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Den Frühling auf den Wangen
den Winter im Herzen
brachen wir auf
leugnend unsere übereilte Flucht
Als wir stolperten
lachten wir auf laut und zu schrill
als wollten wir spielen mit dem
Schmerz
Wir zogen uns
mutig kichernd wie einst auf dem Bolzplatz
die Kiesel mit Pinzetten
aus den schrundigen Knien
liefen weiter
mehr wissend von der Vergeblichkeit
nicht dies nein nicht dies
Schweige bitte
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Als ich vor der Mauer stand
mich umdrehte in Panik
blickte ich in voll aufgeblendete Scheinwerfer
Ich schrie auf
unter Wasser schwerer Traum
Das Licht implodierte
Es blieb nicht als ein funkelndes Katzenauge
welches reflektierte die Glut des Eisbrockens
der wuchs in mir unaufhörlich
Ein Passant lobte mich ob meiner gesunden
Gesichtsfarbe
Wenigstens auf meine Wangen ist
Verlaß
Mich aber nicht
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Ein Traum endet mit dem Erwachen
Manchmal
Ich schlug die Augen auf
Spatzen pickten die Brotkrumen des gestrigen Tages
von meinem Fensterbrett fordernd
Die Tauben verscheuchte ich
vom Dach
und streckte die Hand aus dem Fenster
Hagelkörner fielen
aus einem stahlblauen Himmel
Eisheilige
die wir waren
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(gießen / türmchen / 11. mai 2022 / grauburgunder)
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Das war die Anregung:
GOUVERNANTE. Denken Sie nicht an den Menschen!
LENA. Er war so alt unter seinen blonden Locken. Den Frühling auf den Wangen und den Winter im Herzen! Das ist traurig. Der müde Leib findet sein Schlafkissen überall, doch wenn der Geist müd ist, wo soll er ruhen? Es kommt mir ein entsetzlicher Gedanke: ich glaube, es gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar, bloß weil sie sind.
(Leonce und Lena / 2. Akt / 3.Szene)
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Und das noch:
„Es wäre schrecklich, wenn Russland siegt, aber womöglich noch schrecklicher, wenn es verliert!“ (Jens Stoltenberg)
Ich weiß: Zweifel rettet keine Menschenleben. Aber erlaubt sollte er bleiben.
Konstanz / hinter der Hinteren Sonne / 11. März 2022
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Wenn wir uns in den wüsten treffen
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Wenn wir uns in den wüsten treffen
Ich gepeinigt vom fußpilz
Du gequält von filzläusen
Wenn wir uns die badelatschen um die ohren hauen
Und sprechen von überhöhten rezeptgebühren
Da wir gestern noch träumten
Oder lagen in beheizten schützengräben
Statt zu feuern in den badezimmerspiegel
Heilige eide aber in den maihimmel singend
Die einzuhalten wir niemals fähig werden sein
Oder gar wollten dies
Wenn der wüste sand um unsere knöchel tanzt
Der schwanz des skorpions sich reckt
Und in geliehenen gamaschen wir
Wieder die wildgänse durch die nacht rauschen lassen
Mit schrillem schrei nach norden
Links zwo drei vier
Links zwo drei vier
Stillgestanden
Steht der esel der uns im galopp verloren
Stoisch neben einem kaktus
Und nagt an den stacheln
Dahinter sei das wasser gespeichert
Sagte man ihm
Hätten wir vielleicht auch zugehört
Dürsteten wir weniger
Die schlimmsten väter sind die
Die keine sind
Die krippe scheint leer dieser tage
Der ochse dreht sich am spieß
Der esel tröstet die joseflose marie
Die rollenden dornbüsche kreuzen unsere wege
Zwölf uhr mittags
Und keine helden in sicht
Die hauptstrassen nicht leer
Sondern voller
Toter
Utopien
Gedanken
Wünsche
Hoffnungen
Menschen
Kinder
Menschenskind
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(gießen / vor zwanzig Minuten / heute)
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Ich weiß nicht warum, aber gestern nachdem ich Putin, dieses morbide Steinzeitreptil, neben seinem Wachsfigurenkabinett sitzen sah in der Tagesschau, in den leeren Himmel starrend, wo sie ihre mächtigen Flieger erwartet hatten, Zeichen des Sieges in den Äther zu schreiben, mußte ich an meinen verehrten Theaterleitstern George Tabori und seine Theaterfassung von „Weismann und Rotgesicht“ denken, wo ein alter Jud‘ und ein zum Indianer umgemodelter Cowboydarsteller – wohl auch ein Jud‘ – sich permanent ihre eigenen Leiden um die Ohren hauten. Wer hat denn wohl noch mehr gelitten? Conclusio: Nur ich habe mehr gelitten als ich. Gelle! Wie sehr ich diesen bösen Humor angesichts aller eigenen besungenen Leiden und Schmerzen, die meistens die der Anderen sind, doch vermisse. Leider auch visavis des eigenen Badezimmerspiegels. Also den Humor. Die Schmerzen weniger. Irgendwo in den alten Pappkartons muß es noch rumliegen das Werk. Erst mal suchen. Dann vielleicht finden. Wird bald hier zitiert. Und beim Tippen der Worte oben hörte ich dieses Lied. Warum? Rongwrong oder I look into my little black book.I’m old before my time. I feel that i’m growing outof this world. Dann noch die „düsteren – sompre reptiles – Reptilien“. Die alle Zeitläufte überleben. Aber hören Sie selbst!
Konstanz / hinter der HInteren Sonne / 11. März 2022
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6
Dorthin
Wo meine größte Niederlage
Mir gegenüber saß
Erschöpft hinter dicken
Brillengläsern
Kehrte ich zurück
Nach genau zwanzig
Jahren
Als wollte ich feiern
Den Schmerz
Um wieder zu leben
Und lese:
„Wann ist ein Mensch ‚wahnsinnig‘? Wenn er das Normale tut und der Wahn nur in seinen Gedanken existiert oder wenn er unnormal handelt, aber mit der völligen Überzeugung, gesund zu sein?“