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Gießen feiert sich dieser Tage. Darf man. Nachdem etliche auf die „Panikmache“ im Vorfeld reingefallen waren – die bösen bösen Panikmacher eben – Frage: Wenn man auf Panikmache panisch reagiert, wer ist Schuld? Die „Panikmacher“? – war die Erleichterung ab Samstagnachmittag groß. Zu Recht. Der Gießener hat es den Rechten und der Welt gezeigt, vergißt dabei aber geflissentlich, daß nicht nur die Randalefreaks von außerhalb kamen, sondern auch ein erklecklich großer Haufen der Friedlichen. 70 Prozent? Weiß nicht. Manche Einwohner flohen im Vorfeld ins Umland, zu Mama und Papa oder – wie ich las – gar bis Südtirol. Skifahren für den Frieden! Viele haben ihre Geschäfte verbarrikadiert, als würde ein Hurrikan das Lahntal hinunter wehen wollen und die Innenstadt überfluten. Das es auch anders geht, zeigte mein persönlicher Glückwunschkartendealer. Er blieb offen, kam so mit vielen (Nicht)käufern ins Gespräch. Seine Schaufenster hatte er mit Postern voller guter alter humanistischer Sinnsprüche vollgehängt. Sein Motto? „es gibt wichtigeres als umsatz“. Der Zentralgastronom visavis hatte geschlossen. Als man nachmittags bemerkte, daß auch der Protestant (so ein Reporter in der Hessenschau!) konsumbereit ist – Zack! – war der Laden offen. Pecunia non olet! Gibt es neben Kriegs- eigentlich auch Demogewinnler?
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Gießen leuchtete also und brannte nicht. So der erste Bürger der Stadt. Er hatte am Montag letzter Woche den obligatorischen Weihnachtsmarkt eröffnet und man könnte meinen, daß das was eine Demokratie auszeichnet und was das Allererste der zu verteidigenden Kulturgüter ist, dies der deutsche Weihnachtsmarkt sei. So der erste Bürger der Stadt. Es wurde sogar – kostspielig – ein Shuttleservice organisiert, um dem geschockten und abgeschnittenen Umland den Besuch des Kulturguts zu ermöglichen. Doch ab Freitagmittag bis Sonntagabend machte davon kaum jemand Gebrauch. Schon gar nicht die Demonstranten. Da waren Gehbier, Kaffeebecher und ein Stück Pizza gefragter. Am gestrigen Montag war die Location dann wieder proppenvoll. Die hohe Kultur ist back in town. Und was gibt es Schöneres als überteuertes Zuckerwasser mit Alkohol aus Plastikkanistern in geschmackvoll designten Tassen zu süffeln?
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Gießen ist eine Kulturstadt und auch diese zeigte Flagge oder wahlweise gold-silberne Rettungsdecken. Warum? Bereitete man sich auf Wasserwerfereinsätze vor? Oder wollte man gegebenenfalls die unterkühlte Demokratie darinnen einwickeln? Flaggen wurden aus einigen – überschaubar – Fenstern gehängt. Einer reaktivierte sogar sein altes „Kein Blut für Öl!“- Bettlaken. Er heizt wahrscheinlich noch mit russischem Gas. Ein Konzert am Vorabend des bange erwarteten Samstags eröffnete ein Mime mit den markigen Worten, dies sei ein Konzert für Frieden und gegen rechts. Wahrscheinlich damals schon, als die alte Autokratin noch dem Musentempel vorstand, ein unerschrockener Kämpfer gegen antidemokratisches Gemauschel. Der Bandleader bat das Publikum dann zu tanzen. Derweilen machte sich in den Strassen der Stadt eine an die Pandemie erinnernde vibrierende Stille und Leere breit. Auf dem Kirchplatz knatterten drei einsame Fahnen im Wind. Klaus Meine pfiff dazu.
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Gießen, ja und gelle, Gießen konnte auch anders. Nachdem in den frühen Morgenstunden an den beiden Lahnbrücken, rechterhand gar nicht, linkerhand dann doch etwas mehr, die ersten Erregungs- und Aggrowellen ausgelaufen waren, füllte sich die Kreuzung vor der zentralen Bühne. Und da begann wirklich Erstaunliches. Eine gelassene Stimmung machte sich breit, man mäanderte von hier nach da, lauschte, länger, kürzer, wärmte sich in der Einkaufspassage. Auf dem Wochenmarkt stand ein einsamer Brotverkäufer und – anders als auf der anderen Seite des Flußes – sank das für das Zentrum dieser Stadt eigentlich typisch hohe Aggressionspotential gegen Null. Da der Hauptdealer der Punker- und Trinkerszene am Marktplatz geschlossen blieb, wurden diese nicht gesichtet. Die Freunde des Cracks und die dazugehörigen Händler mieden – Wer weiß, vielleicht hat der Polizist gerade nichts zu tun – ebenfalls das Zentrum. Die streunenden, sich in Grüppchen lautstark langweilenden Jungmänner saßen wahrscheinlich zu Hause vor der Daddelmaschine und – Tusch! – den „Hauptaggressoren“ Parkplatzsuchverkehr und Umlandshopper war es weder gelungen die Polizeiabsperrungen noch die widersetzlichen Blockaden zu überwinden. Außerdem war da ja noch die „Panikmache“. Die Stadt kurzzeitig wieder in den Händen der Bewohner. So schien es. Gelle Umland! Einschub 1: Und am erstaunlichsten war, daß am Ende des langen Demosamstags weitaus weniger Müll auf den Straßen lag, denn nach einem langen Einkaufssamstag oder einer vom Jungvolk befeierten Nacht. Können so viel mehr Menschen weniger rummüllen als weniger Menschen? Einschub 2: Noch erstaunlicher, daß entgegen der üblichen Praxis am Sonntagmorgen die Straßen in kürzester Zeit gereinigt waren. Weiter im Text: als nach dem wunderbaren Kurzauftritt von KRAFTCLUB die große Masse der Friedlichen und Freundlichen sich zerstreute, blickte man in tatsächlich strahlende Gesichter. Es gemahnte an die verzückte Atmo, nachdem in Kölle der Rosenmontagszoch vorübergezogen ist. Ein letztes Alaaf und „Es hätt noch immer jootgejange!“
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Gießen, heute mehr denn vorgestern Heldenstadt, fängt an ein bisserl zu hyperventilieren. Gewiß darf man das, wenn man in den samstäglichen Hauptnachrichten den Opener geben durfte aka mußte und auch das Netz überquillt wie bei einem Heringsfang im letzten Jahrhundert. Gewiß muß man das, da man in den Geschichtsbüchern ab sofort seinen Eintrag mit Sternchen gefunden hat. Die zwei Lokalgazetten, die eigentlich nur noch eine sind, schicken ihre Jungredakteure an die„Wer ist schuld an der Eskalation?“ etwas arg starre Meinungsfront. „Wer ist schuld an der Eskalation?“ Sie beziehen in Sachen Gewalt Stellung neben den inzwischen entfernten Blockaden. Wie in den Gefechten im Kampf um die Meinungshohheit zwischen den Behelmten und den Vermummten bleiben die Zeigefinger weit ausgestreckt und man vermisst den guten alten Spruch von der Sinnhaftigkeit der Reinigungsarbeiten vor der eigenen Haustür. Von Feindbildern mag man nicht lassen. In Heldenstädten steht man – zumindest bis zur Kommunalwahl – eben immer auf der rechten Seite. (Ein Hoch der Doppeldeutigkeit der deutschen Sprache!) „Hey Wiesbaden! Mach mir meinen Status nicht madig!“ Egal! Wiesbaden ist halt keine Heldenstadt. Pfeift Klaus Meine noch?
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Die Geburt der Heldenstadt Gießen war ein freudiges Ereignis. Aber auch mit gewissen (oder Gewissens..) Schmerzen verbunden. Und jetzt lauf los, Kleine! Feier Dich nicht zu lange und geh an die Arbeit! Nachdenken wie man dem braunen Haufen aus den Hessenhallen in Zukunft beikommt. Oder vertreibt. Und laß Dir ruhig ab und zu von Wiesbaden helfen. Auch wenn die keine ….etc ppp. Und draußen vor der kleinen Stadt stehen sich nicht mehr die Kontrahenten des letzten Samstags die Füße platt, sondern der Chef des Einzelhandels brüllt von seinem Hügel herunter: „Wer hat mir meine Millionen geklaut?“
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