Melankomie, Morälchen, Ritterregeln 13

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Chemiesaal / Die 10b / Konstanz / Juni 1972

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Vor etwa einem Jahr kaufte ich mir die Gesammelten Gedichte von Thomas Brasch. „Die nennen das Schrei“. Ein Backstein von Buch. Mit Anhängen über 1000 Seiten. Davon weit mehr als die Hälfte Gedichte aus dem Nachlaß. Ein Nachttischwerk und immer gern Begleiter. Drei Beispiele. Danke Suhrkamp.

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WO SCHLAGT IHR EURE ZELTE AUF

sagt, wo

wo begrabt ihr euer Herz,

und hört ihr –

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Die leisen Wellen

ich höre sie nicht

die schönen Träume

ich träume sie nicht

gekettet an Qual der Gedanken

allein mit dem Schlagen des Herzens

bin ich

Und wo sind die Wellen,

die schlagen für mich

an einsame Ufer

wo sind meine Träume

die ziellos erwärmen

die kühlen und klagenden Lieder.

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Gegangen das alles,

verstorben die Winde,

gelieben ein Zelt,

allein und zerstört,

im Winde gebrochen

und stumm ist die Welt.

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LIED

Gibt es ein Lied,

das alle singen können,

das alle hier befriedigt,

Es müßt‘ ein Lied sein

Sauber und auch schmutzig

In hohen und in tiefen Tönen

Gemischt aus Dur und Moll

Mal lustig und mal traurig,

vielleicht auch manchmal beides gleich.

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Es müßt‘ in Höhen schwingen können

So unbeschwert wie Drachen,

die im Herbst

voll Freude

die Sonne hier verdunkeln.

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Doch müßt‘ es auch die Tiefen suchen

Die ich am Abend spür‘

Und müßte plätschern wie der Fluß

Und rauschen wie das Meer.

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Glaubt ihr,

es gibt solch Lied,

das alle aus dem Herzen

ohne rot zu werden

einer Lüge

singen können.

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Und wer das Lied kennt,

sag‘ es mir,

denn ich hab es

bis heute

nicht gefunden.

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DIE AUGEN DER ANDEREN SEHEN MICH

Meine Augen sehen die anderen

Ich sehe mich nicht.

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Für ihn bin ich der Arrogante

für den der manchmal Amüsante

für sie bin ich Gewicht, das rhytmisch zuckt

für ihn der Mann, der gegen alles muckt

was bin Ich?

Im Spiegel sieht mich einer an

Zwei Augen, Nase, Mund

Die Beine seh ich, Arme auch

Die Schultern manchmal und den Bauch

Doch was ist das, was Feuer haßt

Und was ist das, was diese liebt?

Was ist es denn, was sie loben?

Sind es Gedanken, die den Kopf durchzucken

Durch meinen Mund sie an der Seele jucken?

Was sie da hören, bin nicht ich,

kein Satz zeigt doch das Chaos der Gedanken

nichts, was ich zeige, zeigt Ideen, die Stimmungen durchranken

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In ihren Augen bin ich nicht.

Ich bin nicht, was der eine haßt

Und bin nicht, was sie sagt im Bett

Ich bin nicht mutig, klug und nett

Ich bin nicht dort in ihren Köpfen

Ich bin in mir allein

Die Augen, die nach innen sehen, sind leer

Wo bin ich nur, wo, was und wer?

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Tja. Die nicht endenwollende, selten von Findeerfolgen begleitete, Suche. Auf der Flucht vor der unerträglich kurzatmig stupiden Unwirtlichkeit da draußen, findet man sein Innen nicht weniger unbehaust vor. Die drei obigen Reime schrieb der Mitzwanziger Brasch in den frühen sechziger Jahren. In der DDR. Bin ich gescheiter weiter dieser traurigen Tage? Noch ein Tag. Eben der.

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Ritter Runkel von Rübenstein einst erlaubte sich diese Bemerkung mal: „Zähne kostet es zumeist, wenn ein Hund auf Eisen beißt!“

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