Hafenbecken Göteborg / Mitte Februar 2017 / Zufrierend oder auftauend?
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Lose verknotete Schnürsenkel haben keine Enden mehr
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Mein Heizkörper wärmer als mein Herz
Schaue ich den Gewässern beim Kochen zu
Ohne zu frieren
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Mein Garagentor weiter weit offen
Klappe ich mein Visier herab
Meine Stoßstangen polierend
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Früher wohnte ich in Entenhausen
Zu feige die Panzer zu knacken
Deren Rohre ich lutschte
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Aus den Vorstädten rauschte ich heran
Stand endlich vor deiner Haustüre
Keinen Schlüssel in meiner Hand
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Nun kann ich kaum mehr sprechen
Meine Worte sind mein wütendes Schweigen
Ich bin die Flut
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Wir werden deine Vorgärten übersehen Bürger Groß
Deinen Spiegel halte nicht mehr vor mein zahnloses Gesicht
Ich trenne Deinen Müll fortan in eine Tonne
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Und wenn wir uns verlieren wortlos satteln wir unsere Zimtpferde
Und reiten gen Isengart weiterhin gottlos
Die letzte Schlacht werden auch wir nicht gewinnen
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(gießen / zweimal werden wir noch wach / und dann? / warum sehen donaldisten eigentlich so aus, als hätten sie gestern noch versucht das capitol von entenhausen zu entern?)
Im Zug / Fensterblick / Zwischen Leipzig und Hoyerswerda / Das Wo ist vergessen / Juni ’23
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Am 3. November 2001, vor 23 durch die Zeitachse davon gejagten Jahren, starb Thomas Brasch. Auf vielfältige Art und in vielen Zusammenhängen mir eine aufploppende Projektionsfläche und Identifikationsfigur.
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„Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“
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(Thomas Brasch / Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu entkommen)
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Im Sommer 1980 hat mir meine damalige Geliebte dieses Buch geschenkt. Mit gereimter Widmung. Wo ist das Buch? Ich habe es – glaube ich – im Rahmen meiner Arbeit an der „Tankstelle für Verlierer“ – irgendwohin verliehen. Manches kehrt nie mehr zurück. Ich erinnere mich, wie ich mich durch diesen wilden Wust versuchte durchzulesen. Viel begriff ich nicht. Was ich aber begriff: wie wuchtig die Heimatlosigkeit, das Atmen ohne Wurzeln, die verlassen, das blinde Tasten namens Wut in diesen Texten. Damals befremdete mich das. Inzwischen ist es Bestandteil meiner Sicht auf das Außen. Obiges Gedicht war Motto meiner Gundermann–Arbeit.
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„Wieviele sind wir eigentlich noch.
Der dort an der Kreuzung stand,
war das nicht von uns einer.
Jetzt trägt er eine Brille ohne Rand.
Wir hätten ihn fast nicht erkannt.
Wieviele sind wir eigentlich noch
War das nicht der mit der Jimi-Hendrix-Schallplatte.
Jetzt soll er Ingenieur sein.
Jetzt trägt er einen Anzug und Krawatte.
Wir sind die Aufgeregten. Er ist der Satte.
Wer sind wir eigentlich noch.
Wollen wir gehen. Was wollen wir finden.
Welchen Namen hat dieses Loch,
in dem wir, einer nach dem andern, verschwinden.“
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(Brasch / DDR-Lyrikreihe Poesiealbum)
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Kurz nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 verschob sich auch Brasch mit seiner Geliebten Katharina Thalbach in den Westen. Ließ sich auf eigenen Antrag hin verschieben. Wer bereut was und wann? Das Wortungetüm namens Ausreiseantrag. 1980, eben in Köln auf der Schauspielschule angefangen, sah ich im Schauspiel Köln Flimms Inszenierung des „Käthchen von Heilbronn“. Die junge Thalbach eine Explosion der Darstellungskunst. Tief beeindruckt. Damals verstummte Brasch eine längere Zeit lang, zumindest öffentlich, und besoff und bedröhnte sich, wenig beeindruckt vom „Versprechen West“. Der Grenzgang, das Faszinosum Euphorie, war mir nie fremd gewesen. Früher noch mit etwas mehr Glitzern versehen. Heute gelegentlich erschreckend banal mit dem eigenen Untergang jonglierend. Nie vergessen werde ich den Schluß des Theaterabend zu Kölle. Die Rückwand der Bühne öffnete sich, man sieht die nächtliche Krebsgasse. Kalt zieht und sieht es in den Zuschauerraum hinein. Draußen stehen die Schauspieler und glotzen zurück. Ein Poem von Brasch?
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„Und wenn wir nicht am Leben sind
dann sterben wir noch heute.
Die Liebe stirbt, du lebst, mein Kind
Die Mädchen werden Bräute
Ach, wenn ihr mich gestorben habt,
lebt ihr mich weiter heute,
gemeinsam wird ein Land begrabt
und einsam sind die Leute.“
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(Brasch / Gedichtsammlung: Die nennen es Schrei)
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Der ewige Riß. Laut oder leise. Wie einst der Vorhang im Tempel zu Jerusalem. Die Welten werden weiterhin Pharisäer beheimaten, denen eine gezielte Beerdigung ihres Landes am Schrumpelhirn vorbeigeht. Man setzt lieber fremdes Eigentum am Roulettetisch namens Leben denn den eigenen Arsch. Brasch ging, wie man heute so gerne schwafelt „All in“. Das mochte ich stets und mag es noch, wissend um die Risiken. Und sie auch gerne negierend. Wissend negieren? Geht das? Vor den Vätern sterbend als Sohn, der man ewig bleiben muß, wenn kein Vater? Dann Gott? Anderer Vater?
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„DAS FÜRCHTEN NICHT UND NICHT DAS WÜNSCHEN
darf mir abhanden kommen, auch mein täglich sterben nicht
das seellos süchtig sein auf keinen fall
nur hirnlos reimen wie ein wicht muß beendet werden
da ist ein gott und setzt sich zwischen alle stühle
er sieht genauso aus wie ich mich fühle“
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(Brasch kurz vor seinem Tod 2001)
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Und nun welches Lied? Ich kann nicht begründen warum, glaube aber es passt. Verdammt. Neat übersetzt: sauber. War auch einmal ein höchschtes Lob. „Und wie isches? Sauber!“ Beachten Sie den Bassisten links im Bild!
Hellas / Kreta / Matala / Ex-Strand / 11. September 2009 / Das Datum ist nicht von der KI erstellt
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Von derOhnmacht in den Fluchtkorridoren
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Aber jetzt dann und bald
Werden wir eine Seite umschlagen
Müssen werden
Ruft die Kandidatin von der Bühne
Während sich in den Fluchtkorridoren drängeln
Die Augenränder
Blassgrau untermalt und kein Geschwätz macht sie satt
Die sichere Seite ihrer Konten lange schon geleert
Und begehrt
Die Bücher mit zwei Seiten
Eine wird meist herausgerissen
Medaillen ohne Revers
Aber die Sonne scheint bei Tag und Nacht
Eviva Espana
Wer die Wahl hat
Wählt die Qual
Und nennt sie dann Bequemlichkeit
Früher rollte es und rollte und rollte und rollte
Versprochen hey Alter isch schwör
Und wir glaubten das Leben bleibe ein Duracell-Hase
Rasender Stillstand plus Teilhabe bis in alle Ewigkeit
Zeternd wahlweise Oh Vater Ach Mutter
Ohne rechte Not
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Einatmen ausatmen gehen
Welch Luxus dies noch zu dürfen dürfen
Ohne nasse Füße
Oder verbranntem Haupt
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(gießen nachts / nachdenken über die nächste woche da drüben über dem ozean / mich erinnernd an die nacht der heiligen drei könige im jahre 2021 / noch nicht mal entsetzt / fassungslos eher / mentaler stupor damals / morgen vielleicht über den verkehrsversuch gießen 2023 / warum denn in die ferne schweifen?)
Brunnenfigur/ Zwinger / Dresden / 30. Oktober 2009
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Ich schlafe schlecht dieser Tage aka Nächte. Eigentlich schon länger, aber eben gerade besonders. Vor 50 Jahren schlief ich auch nicht. Aber freiwillig. The Rumble in the Jungle. Aus dem Schlaf geholt nicht mehr von meinem seit einem Jahr nicht mehr existenten Vater, sondern von einem profanen Wecker. Den man aufziehen mußte und der nicht klingelte, sondern schrillte. In den 60ern und bevor Cassius Marcellus Clay, der spätere Ali, aus dem Verkehr gezogen wurde vom ach so demokratischen Amerika, hatte mein Vater mich verlässlich geweckt, wenn die stechende Biene tanzte und wir saßen mit schweren Augenlidern vor der frisch erstandenen Glotze und im Flimmern und Rieseln konnte man stets sehen wie der Meister permanent seine Gegner mit Trashtalk zutextete und dann auf die Bretter schickte. Mir, dem Buben von einst, gefiel das und gefällt mir noch immer.
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Îch weiß nicht mehr, wo ich den Kampf sah. Ich hatte ein Zimmerchen unter dem Dach über der neuen Wohnung meiner Mutter. Ich glaube, ich durfte runterschleichen und ohne Ton gucken. An was ich mich erinnere ist, daß der Held meiner Kindheit ständig in den Seilen hing, Foreman auf ihn einprügelte und er zurückwippte, die Fäuste ständig vor dem Gesicht. Ich war, wieder mit den schweren Augenlidern, enttäuscht, war doch der Plan und mein Wunsch, Vietnam eben amifrei geworden, daß der alte Champion die von außen verwüstete Erbfolge wieder hinbiegt. Quatsch: Rache wollte ich sehen! Hau dem Opportunisten einen auf die Zwölf! Und das mit den Seilen? Rope a Dope. Der Bahn-Babo aus Frankfurt: „Das Leben ist manchmal ein Spagat, mal ist es leicht, mal ist es hart, doch bist du biegsam wie der Baum der im Wind, kein Lebenssturm dich je bezwingt.“ Es hat funktioniert. Die achte Runde. Schlief ich da schon oder erinnere nur noch?
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In diesem Jahre 1974 stand ich etliche Samstage vor der Hermann-Tietz-Kaufhalle in Konstanz und versuchte die KVZ (Kommunistische Volkszeitung), das Zentralorgan des KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland) an Hertietüten schleppende kleinere oder größere Bürger zu verkaufen. Ein sogenannter Genosse, dann auch noch so jung, ist halt weisungsgebunden. War nicht so einfach dieser Auftrag. Klar, iss Klischee, aber: „Dich hat man doch vergessen zu vergasen!“ oder „Dann geh halt nach Drüben!“, das durfte ich schon öfters mal hören. Machte aber uns linke Idioten noch ein wenig stolzer. Oder überheblicher? Aber dann gab es aber eine Ausgabe der KVZ, ein paar Wochen vor dem großen Kampf in Zaire, und das Zentralorgan widmete eine ganze Seite inklusive Riesenfoto dem tanzenden Schmetterling und seinen Fäusten. Nie zuvor und nie mehr danach bin ich so viele Exemplare dieser obskuren Gazette losgeworden.
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Darf man Spaß daran finden, daß sich alte schwarze Männer einen aufs Maul hauen und die Bleichgesichter glotzen? Fragen wir Brecht: „Das Erste, was da sein muss, damit ein richtiger Boxer zustande kommt, ist das Herz.“
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PS: Diese Platte welche „uns“ Muhammed Ali zurecht besingend feiert – Remember die zittrigen Arme damals in Atlanta! – darf man sich gerne kaufen dürfen. Ich glaube meine Schwester hat die mir damals geschenkt.
Prag / John-Lennon-Memory-Wall / Ausschnitt / 29. Oktober 2012
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New York. Madison Square Garden. Ins musikalische Langzeitgedächtnis eingebrannte Erinnerungen. Get Yer Ya-Ya’s Out! The Concert for Bangla Desh! Dylans 30th Anniversary Concert Celebration! Um nur drei zu nennen, die gerne noch gehört. Nicht zu vergessen das Hotel um die Ecke in der 34th Street, in dem ich im Frühjahr 1979 mit meinem Freund H. abstieg und direkt nach der Ankunft uns der „Liftboy“, ein staatlicher älterer Schwarzer – „Listen Boys, that ain’t no elevator! We call it a lift! You’ve crossed the ocean! You’re not in London anymore!“ – als erstes das Zimmer zeigte, in dem Leonard Cohen einst gewohnt hatte. So saßen wir – historisch beglückt und bubenhaft romantisch – abends auf der Feuertreppe und ließen uns von der mittels tausender Filme – schwarz-weiß am liebsten – inhalierten Geräuschkulisse dieser Stadt erregen und einlullen. Sixpack. Rauchend dies und jenes. Einmal sogar durften wir von unserer erhabenen Warte erleben wie zu unseren Füßen im Nebenhaus eine kleine Bankfiliale überfallen wurde. Das erste Mal in meinem Leben hörte ich Schüsse. Echte jetzt.
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Madison Square Garden gestern nun. Der Zombie, den man ab sofort „gesichert faschistisch“ nennen darf oder auch nicht, tritt auf. Inklusive seiner Hofnarren. Hulk. Musk. Melania. Dann läuft vom Band „Paradise City“. Haben die Gunners im Madison Square Garden gespielt? Schrecklich.
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Der Leibsänger der Demokraten schon besser. Durfte gestern lesen, daß das Holzfällerhemd jetzt das neue Outfit derjenigen, da wo der Daumen links ist, geworden ist. Umdeutungen können manchmal ziemlich schmerzen.
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Sonst? Der Fujiyama ist das erste Mal seit Menschengedenken seiner Schneehaube entledigt. Was würde der alte Meister Katsushika Hokusai dazu sagen? Möglicherweise dem Rest der Welt „Die große Welle vor Kanagawa“ senden? Solange aber noch ein altes Hoffnungsliedchen – heute nicht Meister Cave – sondern der andere Elvis. Der Costello. Erst die Worte.
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(What’s So Funny ′bout ) Peace, Love and Understanding
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As I walk through this wicked world / Searchin′ for light in the darkness of insanity / I ask myself, is all hope lost? / Is there only pain and hatred, and misery? / And each time I feel like this inside / There’s one thing I wanna know / What′s so funny ‚bout peace, love and understanding? / Oh / What’s so funny ′bout peace love and understanding? / And as I walked on / Through troubled times / My spirit gets so downhearted sometimes / So where are the strong / And who are the trusted? / And where is the harmony? / Sweet harmony / ′Cause each time I feel it slippin‘ away, just makes me wanna cry / What′s so funny ‚bout peace, love and understanding? / Oh / What′s so funny ‚bout peace, love and understanding? / So where are the strong? / And who are the trusted? / And where is the harmony? / Sweet harmony / ′Cause each time I feel it slippin‘ away, just makes me wanna cry / What’s so funny ′bout peace, love and understanding? / Oh?
Am Ende der Kontrollen oder ein Heimatgedicht (keine Gebrauchslyrik)
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Bei dem Versuch fallende Blätter zu fangen
Brach ich mir den Zeigefinger
Der Wind hatte kein Einsehen mit meiner blinden Not
Trieb das Laub vor mir her grinsend meine Wut entfachend
Und ich schlug gegen die schorfige Rinde des alten Baumes
Mit aller Wucht die ich zu erinnern suchte zittriger
Wer hatte mir erzählt man könne die Fallenden mit Tränenflüssigkeit
Wieder binden an die morschen Äste
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(Gießen / Draußen trudeln die bunten Blätter freudig erregt / Unkontrollierbar / Grinsen mich an / Froh drüber, keine Kolumne schreiben zu müssen in der Laubbläser oder der Lebkuchenpraecox vorkommen / Herbst nix für Weicheier)
(gießen / gestern ein weiterer beeindruckender kranichflug über mittelhessen / jedoch ein bisserl unglücklich ich aus grund / also gescheite zitate sammelnd)
Gießen / Hardthöhe / Parzelle / fast abgeerntet / 22. Oktober 2024
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vor einem abgeernteten feld hockend
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du baust keine stühle aus worten
brichst nicht auf böden mit bleistiften
oder wütenden tastaturen
unangenehm riecht die jauche des nachdenkens
welche wohltat gärende brennesseln auf feuchtem herbstboden
die letzten schmeißfliegen schwirren erfreut heran
hier stinkt es erbaulich
auf den gehsteigen der städte zertrümmerte stühle
zum mitnehmen keck bezettelt
feiern die faulheit und die flucht
vor dem denken davor bis
leere kühlschränke tanzen auf den verstopften kreuzungen
und kratzen sich die bauchnäbel wund
die nächte sind zu laut
um einsam zu bleiben
mach dich winterfest
es wird etwas länger dauern
bis du dich wieder hinsetzen darfst
so müde
von deiner ewigen müdigkeit
alter genosse
in den tagen nicht endenwollender
sonnenfinsternisse
und dann ernten kannst was du
einst ausgebracht
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(gestern gedacht / heute getippt)
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PS: Nachträglicher Nachdank meinem wunderbaren Deutschlehrer, der uns mit Ernst Jandl bekanntmachte in den Siebzigern, zu trotzen der denkenden und schreibenden Voreiligkeit. Eine Lehre, welche selbstredend in mancher Sache den ejaculatio praecox meinerseits nicht immer verhindern konnte. Das Gemüse scheint länger nachzudenken, um dann gut zu schmecken.