Gießen / Küche / Leere Gläser / Frisch gespült / Links kommt raus – noch – Musik / Oktober ’24
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Es gab oder gibt noch in einer Illustrierten eine Kolumne namens „Was macht eigentlich …?“ Eben las ich in der Illustrierten, wo diese Kolumne nicht erscheint, ein Interview mit Martin Schulz. Martin Schulz. 2017. Ich hatte damals in meinen letzten überzeugt sozialdemokratischen Wählerjahren ein Hauch von Hoffnung, daß Angela „Jabba the Hutt“ Merkel, deren alternativfreie Unbeweglichkeit Verantwortung trägt für einige Verwerfungen und Frakturen dieser Tage, Ost oder West, abgelöst werden könnte. Groko go home! Erst Hype. Daraufhin ein beispielloser Absturz, den ich nicht wirklich begriffen habe. Denken Wähler auch weiter als bis zum eigenen Carport in den Vorstädten? Schulz wird befragt zum Rückzug von Kevin Kühnert. Die Hölle Politik? Mein damaliger Nachbar war eine Zeitlang Pressesprecher der von Parteigenossen und einigen Medien und despektierlich als Lügilanti hingerichteten Beinaheministerpräsidentin von Hessen. Keine Experimente hatten geschrien die hinteren Bänke. Wir sprachen gerne und kontrovers befreundet über den Rückblick von Schulz auf diesen fatalen Wahlkampf, den Markus Feldkirchen begleitet und emphatisch beschrieben hatte. Von jenen, die an den Spielfeldrändern am lautesten brüllen. Und wann man alle Hoffnung fahren lässt. Will Sahra lieber als aufgeblasene Linienrichterin enden? Mit dem VAR Oskar im Saarland? Es ist zu befürchten. Besserwissen in den Ecken, statt sich mit Fehlern anzustecken, was ein Handeln stets mit sich bringt.
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Gestern Nacht im Netz. Insomnia. Wie soll man diesen vollkommen absurden Satz überhaupt seiner Tastatur anvertrauen. Achtung, Achtung: hier spricht die Verständnislosigkeit: THOMAS GOTTSCHALK HAT EIN BUCH GESCHRIEBEN. Noch ein dummdreist jammernder Rentner. Selbst wenn er gelegentlich in der Beobachtung masturbativer Wokeness nahe am Punkt. Wer aber dem ausgetretenen Lagerfeuer der abgesoffenen Nation ständig eine Plattform verleiht, wo der Oberfranke, in dessen Sendungen Großkünstler wie Smokie und Scorpions auftraten, davon faseln lässt, daß Jimi Hendrix gleich nach dem Geheimrat Bildungspflicht sei. Charon bitte fahre ihn über den Phlegeton ins Land, wo dumm schmort im eigenen Saft.
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Dante taumelt, gestützt von seinem Urururururvorgänger Vergil hinab in Luzifers Reich. Arbeitet sich gewissenhaft durch die neun verschiedenen Höllengrade. Vorbei an Gewälttätigen, Diktatoren, Mördern und ganz unten dann, wo der eingefrorene Luzifer zwischen den Eisblöcken thront, die Betrüger. Zauberer. Schmeichler. Geschäftsleute. Und die Verräter. Judas. Brutus. Cassius. Wenn es zu heftig wird mit dem Hinschauen, fällt der Schreiber in Ohnmacht. „Und ich sank hin wie der, den Schlaf befällt!“ Ganz unten angekommen gewährt man Dante und Vergil den Ausgang. Den Läuterungsberg ersteigen und gut iss. Deshalb eine Komödie. So Gott will.
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Letzte Lagerfeuer wurden nicht nur in Wounded Knee ausgetreten. Die Frakturen, nicht heilen wollende, könnende Brüche, gerne entzündet, Wohlstandssepsis, neurodermitisches Denken sind Bestandteil unserer Alltage. Der eigene Bauchnabel ist keine Lösung. Und schon gar nicht es sich selbstverliebt in fremden Bauchnäbeln gemütlich machen. Seine eigenen Augenringe mit fremdem Leid aufhübschen. Die eigene Hölle, genug zu tun.
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Mein guter Freund aus Nürnberg gab mir für die Rückfahrt nach Dylan ein großartiges Buch in die Hand. Habe mich ja in den letzten Monaten, Jahren oft genug mit Bekannten hier vor Ort gezankt in Sachen Ost / West und den Arroganzen rechts wie links. Viel Erkenntnis und Empfehlung. Wie stets zu spät. Davon später wohl mehr im Angesicht des Zerberus. Die nächsten Wahlen lauern. Und am Ende Alkmene nur: ACH! Oder mit Fragezeichen?
War in Nürnberg und habe Bob Dylan geschaut. Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber wohl zum etwa knapp 20ten Mal dem guten, alten Meister die Ehre erwiesen. Am Ende des Konzerts stand das Auditorium. Ich auch, aber aus anderen Gründen. Und eigentlich schon den ganzen Abend lang.
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Die einen schauen Horrorfilme um sich zu gruseln, mir reicht das Wort MEHRZWECKHALLE. Die Frankenhalle ist so ein Multifunktionsteil. Beton. Lüftungsrohre. Quadratisch, praktisch, mau. Bei der Errichtung war gewiß kein Akustiker zugegen. Wird trotzdem gebucht. Aber warum von Dylan?
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Rough and Rowdy Ways, das Album welches die aktuelle Tour betitelt und den Löwenanteil der gespielten Songs enthält, ist im Grunde ein intimes, nachdenkliches Werk. Textgebirge, die zu besteigen sich lohnt, aber Ruhe, Muße und Gleichmaß fordern. In Nürnberg jedoch legt die Band mit einem absurden Geschrammel los, wahrscheinlich notwendig, um eine Art Soundcheck zu simulieren. Man munkelt, daß der kleine Mann, der dem Publikum den Rücken zukehrt, dabei auch seit hundert Jahren wieder mal Gitarre spielt. Es mündet in eine gewagt verspielte Fassung von All along the watchtower. Hätte ich davon irgendwas hören können, ich hätte mich wohl wieder über den ständigen Veränderungswillen des Alten gefreut. Am Schlagzeug sitzt der ehrwürdige Jim Keltner, was ich erst im Nachhinein las, und haut drauf als begleite er einen sehr, sehr frühen Songs der Beatles. Kaum Bässe, nur sich überschlagende Höhen. Dazu kommt, daß etliche Zuhörer entweder nicht wissen, daß Herr Dylan seine Arbeit pünktlich beginnt oder es mangelt einfach an innerer Haltung, und deshalb jene, der Saal ist inzwischen radikal verfinstert, zusammen mit überfordertem, Taschenlampen schwenkenden Einlaßpersonal ihre Sitzplätze suchen. Und dies gerne laut tuschelnd oder gar empört. Was erlaube Pünktlichkeit?
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Die ersten vier, fünf Songs sind eine blecherne Kakophonie. Ich stehe auf, hole mir draußen einen Silvaner und steige auf einen der Stehplätze über den Seitenrängen. False Prophet kann ich als ersten Song ein bisserl behören, Black Rider ein bisserl genießen. Aber die Decke echot von oben auf mich herab und die ganze Veranstaltung ist einfach sinnfrei zu laut. Und die Klimaanlage pustet nackenversteifend ihr begleitendes Grundrauschen.
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Bob Dylan und seine Band haben sich auf der Bühne eine Art Thing gebaut. Lampen und Verstärker bilden einen Kreis, in dem sich unsichtbare Schatten bewegen und musizieren. Sie scheinen aber Spaß zu haben. Rechts von der Bühne ein fettes Mischpult, welches wahrscheinlich für den gediegenen Sound im Musikantenzirkel sorgt. Dem Rest da draußen im Finsteren bleibt ein ständiges Knarzen und Rumpeln. Und wenn Dylan in die Harp pustet, dröhnt in den Ohren ein Fliegeralarm. (Lieber Joe! Jetzt weiß ich, was Du manchmal gemeint hast, wenn wir probten!) Früher sang Dylan von Dystopien. Letzten Montag schien mir, daß Dylans Auftritte inzwischen zu einer Art eigener Dystopie mutieren. Masked and Anonymous.
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Nach einer langen Weile setze ich mich ins Foyer. Noch ein Sylvaner. Laut genug war es, um draußen vor der Tür alles mitzukriegen. Und ich nahm den kleinen Abschied zu mir. Wenn schon, denn schon. Good bye, Jimmy …? Every day is the same thing out the door, feel further away than ever before? Hä? Das lockte mich wieder ins Haus. Das gute alte Ratespiel. Die Band spielt im Prinzip Highlands und der Sänger singt dazu Good bye, Jimmy Reed. Der Mann am Mischpult hat den Master runtergezogen. Dylan steht auf und trippelt, gebeugt, leicht schwankend nach vorne, stützt sich immer wieder mit der freien Hand auf dem Flügel ab, singt gesenkten Hauptes und schaukelt wie ein angeschossenes Reh wieder zurück zu seinen Tasten. Ein Charlie Chaplin des anderen Blues. Goodbye Bobby Dylan and everything within ya. Can’t you hear me calling from down in Frankonia?
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Hundertzwanzig habe ich für die Veranstaltung gezahlt. Das ist mit den Ticketpreisen anderer alter und rastloser Männer verglichen schon richtig preiswert. Die letzten Minuten waren mindestens 80 Mäuse wert. Wenn nicht mehr. Every Grain of Sand. Er schafft es immer wieder mich zu packen. Trotzdem: ab jetzt nur noch seine ehrwürdigen Scheiben an Orten, wo ich selbst entscheiden kann wie laut, wie hell, wie dunkel. Und leiser.
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Wo wir von den Abschieden schreiben. Unlängst gab es eine Anfrage für DieDylanTanten. Irgendwann nächstes Jahr. Ich habe mich auch da jetzt verabschiedet. Irgendwann iss immer gut. Und dann braucht auch Keiner mehr schreiben, daß wenn Lugerth Dylan singe, Dylan gar nicht mehr nach Gießen zu kommen brauche. Mir war ein solches Echo auf gelegentliche Auftritte meist nur peinlich. Wobei? Vielleicht mal ein Dylansoloabend? Ganz zurückspulen auf seine Anfänge? Tarantula und die Sandkörner?
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Auf der Hinfahrt nach Nürnberg las ich im Zug die TAZ. Die Platte habe ich mir gekauft. After Zimmermann. Hat sich gelohnt. Ein Hoch auf die Jugend. Zum Glück ist sie vorbei. War sehr schön. In Nürnberg. Und auch sonst.
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PS: Während ich hier bei offenen Fenster rumtippe – draußen etwas absurde 21 Grad Celsius – fliegen seit ein / zwei Stunden hunderte Kraniche über mich hinweg. Wo sind sie nun zu Hause? In den nordischen Sommern? Im anvisierten südlichem Winter? Oder wenn überhaupt nur unterwegs?
Eine mystische Begegnung unlängst in der Schulstrasse zu Gießen / 10. Oktober 2024
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Da lief ich also dieser Tage die Schulstrasse runter, die Straße in der ich meine erste Wohnung hier bezogen hatte. Und dr Prinz grüßte mich, jener Prinz der ordentlich Mitverantwortung dafür trägt, daß ich in dieser Stadtsimulation namens Gießen immer noch lebe. Jetzt kütt er also mal vorbei nach bald zwanzig Jahren. Will er nach dem Rechten schauen?
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Remember the legendary Summer of TwoOOSix! Er startete durch mit einem verzweifelten Flankenlauf eines der ersten stärker pigmentierten Nationalkicker und ein Schweizer rettete daraufhin die nächsten Wochen und Polen hatte mal wieder verloren. Es war der 14. Juni, der Geburtstag meiner jetzigen Gattin, was ich damals natürlich noch nicht wußte, da ich mich eben über eine ausgelassene polnische Chance laut geärgert hatte und der Nebentisch mich als – dies ist nicht gelogen – „Vaterlandsverräter“ beschimpfte. Ab diesen Abend wurde schwarzrotgold aufgewimpelt. Schland ward wieder auferstanden. Die AfD noch nicht gegründet.
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Ich wußte in den überhitzten Tagen nur: ich mußte das Stadttheater Gießen verlassen. Ich war Ensemblesprecher gewesen, Großmaul und unbequem. Das ist in DDR-affinen Gebilden, auch wenn sie von einer Dame aus der Schweiz geleitet werden, nicht gerne gesehen. Ich spielte meine letzten Vorstellungen. Im Menschenfeind war ich so eine Art von Molierepunk. Szenenappläuse. Abgänge abfeiern. Und WM gucken. Dann Bier trinken.
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Am 24.6. – dies wiederum der Geburtstag meiner Mutter – saß ich früh nachmittags u.a. mit meiner wunderbaren Kollegin Petra Soltau und der gesamten Abteilung Tanz im Türmchen. 30 Grad. Am Nebentisch oberkörperfreie Engländer. Verbrüderungsszenen. Petra ist mit einem Briten verheiratet. Keine 15 Minuten gekickt und unser aller Prinz hat den Schweden zwei Hütten ins Billy-Regal genagelt. Euphorie. Die Engländer immer freigiebiger und die Hirne wurden angenehm weich. Abpfiff. Vor dem Lokal hockte der Polsterer des Stadttheaters, neben ihm eine Frau. Eine wunderbare Frau. Abtasten. Vage Verabredungen. Ich mußte nochmal ins Theater. Danach mit ihr in einer anderen Kneipe Fußball geguckt. Mexiko gegen Argentinien. Der Rest ist Geschichte und seit jenem Tag auch Alltag.
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Kurzer Einschub in Sachen zweite Karriere nach der Pöhlerei. Zahnleiste Kloppo? Der düst und düst jetzt im Brauseschritt und kann fliegen. Nun gut.
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Zurück. Dr Prinz iss also Schuld. Jetzt will er irgendwann in der Schulstrasse Schabefleisch verkaufen lassen. Genau das hat der Kulturmetropole ja noch gefehlt. Mehr Döner macht Gießen noch schöner. Die Stadtreinigung bleibt weiter heiter. Ich freue mich, daß er kütt: Dr Prinz. Statt der Zahnleiste.
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Der Sohn unserer Nachbarn heißt Leopold. Ein kleines, charmantes, aber kokettes Monster, der seine Mutter am Nasenring durch seine Kindheit führt. Sie ruft ihn gerne Poldi. Ich mag den Bengel. Noch enne Prinz he.
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Heute Abend verabschiedet sich dr Prinz von Kölle um zurückzukehren.
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PS: Dieser Beitrag wurde nicht unter der Mitwirkung von KI erstellt. Es war ein Lauffener Schwarzriesling. Morgen werde ich ein 68er. Die Contenance schläft.
Irgendwo in Thüringen / Früh los in den Nebel hinein / Später Sonne / 9. Oktober 2021
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UndLots Weib drückte die Taste FORWARD
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Und da die einen den Hals verdreht
Auf der alten Schaukel schwingen zurück
Höher das geht doch noch höher
Angefeuert und unterlegt mit einem Beat aus dem geplünderten
Plattenschrank älterer Geschwister
Und jetzt spring spring doch du du
Feigling ist mancher vor jeglicher Zuversicht
Das unendbare Kobaltblau jenes einen Sommers
Beschreien wollend
Dem ewigen Pflaumenbaum nachschmecken
Unter dem der eingeschlafene Hund jaulend den Blues
Halte mich noch einmal so
Wie du mich niemals
Aber ich es doch erinnere
Da dann holt Lots Weib
Eine erfahrene Braut etlicher Sehnsüchte
Ihren Kassettenrekorder aus der Umhängetasche
Den sie unablässig besprochen von den Stunden einst
In Sodom und Gomera
Und drückte fast entschlossen
Die Taste VORWÄRTS
Geht ab
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(gießen / heute / es regnet und regnet und regnet / erkältet / nachsinnen / gefährdete tage sind solche tage / in den gassen trifft man auf die klageweiber)
Kühe über Albertschwende im Vorarlberg ein Selfie nachstellend am 7. Oktober 2022
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Gedenktage streunen durch unsere Lebenskalender. Die einen streichen sie dick an. Die anderen ignorieren sie geflissentlich. Manchen Gedenktagen macht die Geschichte einen dicken Strich durch die Sentimentalitäten. Die Hamas der untergegangenen DDR, die gefeiert hätte hätte hätte ihren 75ten heute. Die Ausrufung der Republik 1918 verbrennt 1939 mit den Synagogen, um den 9. November mit dem verwirrt erlaubten Mauerübertritt 1989 wieder zu heilen. Scheinbar. 1848 waren, dieses Datum zum ewig deutschen zu machen, die letzten Reste einer Märzrevolution erschossen worden. Wovon heute noch die Bürgersöhne singen. Mit Schmiss oder mit Adorno.
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Dialog / erst Sie / dann Er / ein paar Zeilen aus ‚Flugasche‘ von Monika Maron:
„Besteht nicht unser ganzer Sinn darin, daß wir uns gegenseitig raushalten aus unserer Wut, du mich und ich dich? Wenigstens für einen Menschen der sein, der man sein will, wenn man es schon nicht für alle schafft?“
„Das wäre schön! Ich befürchte nur, die Versuchung, gerade den Angreifbarsten und Wehrlosesten zu wählen, ist zu groß. Es verringert den Aufwand, es bereitet sogar Lust, verstehst du, ich finde es so schlimm wie du. Aber es ist so, bei den meisten ist es so.“
„Bei dir auch?“
„Es kommt vor. Mach schnell, sonst kommen wir zu spät!
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Meine Frau hat mir dieses Buch unlängst weitergereicht. Ich lese es mit 40 Jahren Verspätung, aber mit Freude, wissend, daß wir immer zu spät und niemals ankommen werden. Streunende Hunde bleiben, wenn wir wollen.
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Immer wieder und verwirrter Tag für Tag, lausche ich all den Gesängen und Texten, die behaupten der Krieg würde uns, dir, mir, denen, jenen und allen anderen von außen angetragen, aufgedrängt, wo doch ein kurzer Blick hinab in unsere Eingeweide ausreichen kann. Ein ewiges Waffenlager.
In den letzten Tagen konnte man relativ gehaltvoll in die Glotze gucken. Herrhausen. Kati Witt. Auf Wiedersehen, Genosse Lenin. Und. Und. Und.
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Beeindruckend aber und selten solch eine Qualität gesehen in diesen Tagen: die Verfilmung von Christian Barons Roman „Ein Mann seiner Klasse“.
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Ich durfte Christian Baron vor zwei Jahren kurz kennenlernen. Ich hatte, kurzzeitig Lokalbetrachter, über seine Lesung zu berichten. Danach ein Bier getrunken in geselliger Runde. Später hier im Blog noch was nachbereitet.
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Man versieht Filme heute gerne öfters mit „Triggerwarnungen“. Eine Retraumatisierung scheint ständig ‚ante portas‘ zu lauern. Loriot? ‚Pappa‘?
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Vergleiche sind vermintes Gelände. Dennoch: In diesem Film gab es Momente, die mir, da in meinem Vater ebenso ungezählte Dämonen tobten, zwischen die Rippen fuhren. Messer. Würgen. Schläge. Schreie. Ohnmacht. Wie damit umgehen? Am nächsten Tag spazieren gehen. Drüber reden. Ohne Dramatisierung. Ohne Vergessen. Mit Mitgefühl. Es gab sie eben auch, die guten Tage. Welche Waagschale gewinnt? Es geht nicht um einen Sieg.
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Noch gewichtiger aber die anschließende Doku, welche davon berichtet, wie Baron seine alte Heimat wieder besucht. Heißer Sommer. Kein Fritz-Walter-Wetter. In seinen Händen hält er ein Tablet und sieht sich vor laufender Kamera Szenen aus der Verfilmung seiner Erinnerungen an. Messer. Würgen. Schläge. Schreie. Ohnmacht. Wie damit umgehen? Und sein Gesicht ist nicht nur eine Landkarte, sondern ein Atlas. Danke dafür.
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Man kann von Dingen schreiben. Man kann davon lesen. Wenn man daraus laufende Bilder baut oder bauen lässt, die Geschichten sichtbar werden: einige Erinnerungstonnen mehr. Deshalb – kurze Rückkehr in den eigenen Bauchnabel – ist der Zustand des Regisseurs nach Premieren stets prekär.
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Ich Prolet! Du Prolet! Aus dem Ehrentitel wurde irgendwann eine Beschimpfung. Der überdrehte Stolz von Barons Vater, als er der Familie geschenkte Lebensmittel vom Teller seiner Kinder in die Mülltonne schiebt, das ist die schlimmste Erinnerung. Der schreckliche, der so ohnmächtige Stolz. Da ist mir mein hilflos lauter Vater am lautesten erschienen. Ich wiederhole mich. Vergleiche sind vermintes Gelände. Grab. Kein Grabstein.
Doppelter Bob / „True Dylan“ von Sam Shepard / Inszenierung im Herbst 2013 / TiL Gießen
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Heute Nacht war ich mal bewusst wach. Sonst gerne meistens ungefragt. Das ist anstrengend, aber halt das Alter und seine schmerzlichen Rechnungen. Ich schaute TV. Das Duell der Vizekandidaten überm Teich. Und gleichzeitig war Jimmy Carter 100 Jahre alt geworden. Ein Grund ein bisserl in die Tasten zu seufzen und im eigenen Bauchnabel rumzupuhlen.
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Einen sehr großen Teil des Jahres 1979 verbrachte ich in den Staaten. Zwei Monate Schauspielschule. Woyzeck über dem Teich.Schrieb unlängst davon. Vieles von dem, was seit etlichen Jahren hier auch Alltag wurde, erlebte ich dort, staunend und kopfschüttelnd, ein erstes Mal. Horden von Adipösen. Das Schimpansengrinsen hinter den Bedientresen, welches dir mit einem „Can I help you?“ ins Gesicht springt. Der inflationäre Gebrauch des Wörtchens „Ich“. Das schreckliche „You’re welcome!“ Heute: GÄRNÄ! Das Entschwinden der Fähigkeit zuzuhören. Monologe und gefletschte weißgestrahlte Zahnleisten. TV rund um die Uhr. Dauerbeschallung in gigantischen Einkaufstempeln. Die Malls, das Glück in den Regalen und Bällebad. Die Tanke ist 24/7. Man kann also Zuckersäfte und Sixpacks und dreitausendvierhundert verschiedene Chipssorten neben den Joint legen.
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Präsident war damals Jimmy Carter. Ich trampte nach der Schauspielschule zwei Monate kreuz und quer durchs Land. Unfassbar viele Begegnungen. Viel Verächtliches. „He’s just a peanutfarmer.“ Das hat ihm wohl auch der damals etwas präpotente Helmut Schmidt – „Ain’t your chancellor a communist?“ (irgendwo in den Südstaaten) – vermittelt, der natürlich wusste wie die Welt funktioniert. Und die Wirtschaft. Also die Welt. Einst.
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In den Tagen meines Hitchhikens schlief ich unten Brücken, in Wäldern, auf Baustellen oder einfach gar nicht. Wurde eingeladen in Villen, Hütten, Mobile homes und miese Motels inklusive Belästigung. Der Dollar war innerhalb weniger Jahre vom Wechselkurs rund um die 4 DM auf 1,80 runtergeschlittert. Die Amis nagten ihre Knochen Vietnam und Watergate ab. Alkohol, Gas (Benzin) und Weed kosteten wenig bis nichts. Jahre später, der Nachfolger des unsäglichen Nixon war – der gute alte immer stets hysterische Unruhestifter Iran wollte die Geiseln nicht freigeben – vom noch unsäglicherem Cowboypräsident und Zweittarzan benachfolgt worden – las ich von Carters musikalischen Lieben. Es war eine gute Zeit. Die Krise.
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Bob Dylan war mir damals eher fern. Allman Brothers. Johnny Winter. Ich suchte das Blut der Indianer auf den Highways klebend in memoriam Jim Morrison. Jack Keroucs lange Strassen waren aber lediglich nur noch eine postpubertäre Behauptung. Aber in Ferlinghettis Buchladen im Northend hauchte mich ein paar Stunden eine Ahnung an. Von der Ekstase. Es war vielleicht die beste Zeit. Die sich geflissentlich widersprechende Illusion.
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Die Menschheit schreit dieser Tage immer schneller, lauter auf. Das Vernichten des Gegenüber scheint wieder Spaß zu machen. Carter ließ sich von Andy Warhol porträtieren. Viele Farben in einem Gesicht sind möglich.
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Letzte Nacht? Ein Gescheitle gegen einen Teddybären. Zwei Werbetafeln. Etikettenschwindel. Who cares? Sollte ich demnächst wiedergeboren werden müssen, dann bitte als Erdnussfarmer. Oder blöd ginsender Jack.
Aach / Aachquelle / 20. September 2024 / Foto: A. Haas
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„Ambiguität bezieht sich auf eine Situation, in der ein Begriff, eine Aussage, ein Satz oder eine Handlung mehrdeutig oder mehrdeutig interpretiert werden kann. Es handelt sich um eine Unklarheit oder Zweideutigkeit in der Bedeutung von Wörtern oder Ausdrücken, die zu Verwirrung oder Missverständnissen führen kann.“ (Dr. Google)
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„Wir sollten die Grenzen des Sagbaren soweit wie möglich ziehen.“ (Die Autorin Mithu Sanyal in einem Gespräch mit dem SPIEGEL, in dem sie als Schriftstellerin mit ‚Vibrationshintergrund‘ vorgestellt wird. Im Rahmen wohlwollender Ambiguität schlittere ich gerne in die Fettnäpfchen unter den Gürtellinien, die man gelegentlich besucht hatte. Nicht unfreiwillig, sondern bewußt.)
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Auf der Hinreise in alte Heimaten machten wir unlängst kurze Rast an der Aachquelle. Fahr da bitte ab. Was suche ich dort? Behauptete Erinnerungen. Erinnerungsnebel. Schleier. Gewiß: mit den Eltern dort gewesen. Später mit alten Freunden. Eine Freundin auch? Schatten nur. Heute mit der Gemahlin. Ja. Dieses Wort kann man noch tippen. Ambiguität rules ok.
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Immer noch aber lebt diese meine alte Faszination. Da versickert irgendwo oben auf der Alb, der schwäbischen, heimlich Wasser aus der Donau, die kaum ihre Quelle verlassen hat und kommt hier unten hinter Engen wieder raus. Als Nichte der alten Tante Donau. Heißt jetzt aber Aach. Oder Ach? Oder gar: Sieh an, sieh hin? Wo kommt das alles her? Wo will es alles hin? Leider hatte der charmante und sehr alte Biergarten an der Quelle Ruhetag.
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Die Donau ist ein sehr langer Fluß und mündet ins Schwarze Meer. Die Aach hat nur 14 Kilometer vor sich nach ihrem möglicherweise sie selbst überraschenden Auftauchen und ergibt sich dann dem Bodensee und die Nordsee wird ihr Schicksal. Die Donau scheint ein intelligenter Fluß zu sein. Sie kann abgeben. Will sich nicht entscheiden. Für das eine Meer. Ihren Tod.
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Lob der Ambiguität
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Standpunktig und so
Steht der alte weiße Punk
Tag für Tag und pinkelt seine vermeintliche Freiheit
Faschos auf die Fresse
An die Wände
Vor meinen Fenstern
Der ich ihn selber trunken gerne als AfD-Sympathisanten beschimpfe
Da meine Wütungen mäandern
Und ich genug zu tun habe
Auf der Drehscheibe meiner schwindenden Gewissheiten
Mich zu halten halbwegs
Aufgerechtig gegen die Fliehkräfte
Ein unsichtbares Komma hier gesetzt
Die versickernden Traumgebilde
Und meine eigene Dummheit
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(gießen / eben / nach lektüre des SPIEGEL im cafe, wo zwei adipöse kids – zwischen 13 und 15 – am nebentisch glänzend schwitzend gigantische Burger in sich hinein stopfen / mein mitleidiger blick ist eine lüge / morgen wieder anders)