War vor knapp drei Wochen an den Bodensee gefahren. Wollte mir etwas an Ruhe suchen, um Herz, Hirn und Körper zu ein wenig Klarheit – was immer dies auch sein mag – zu verhelfen. Nach weniger als zwei Tagen stürzte ich im vom Regen durchweichten Wald – ein gerüttelt‘ Maß an Dummheit beförderte diesen Fehltritt – und renkte mir äußerst kompliziert mein Handgelenk aus. Ab in den OP, dort wurde ich verdrahtet und seitdem überlagern – meist aushaltbare – körperliche Schmerzen die Verwirrungen der letzten Wochen.
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Nichtsdestotrotz – meist schien die Sonne und verjagte den Hochnebel – lief ich täglich mehrere Stunden, meinen geschienten Arm in einer Schlinge vor mir hertragend, durch die alte Heimat. Von mir weg oder vor mir weg, wer weiß das schon, gelegentlich aber auch hin zu mir. Wer immer ich, frei nach Bob Dylan, auch sein mag dieser Tage.
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Meine Füße hatten das Kommando übernommen. Sie erinnerten sich für mich und führten mich durch Straßen, Wälder, Hinterhöfe, Anhöhen, welche ich teilweise seit Jahren, ja Jahrzehnten, nicht mehr besucht hatte. Meine Grundschule. Unsere erste Wohnung. Im Wald dahinter der Hügel, wo ich das erste Mal rodelte. Der Schulhof auf dem ich Fahrrad fahren lernte. Das Haus in dem meine erste Freundin wohnte. Sie wohnt da noch immer. Der runtergekommene Hinterhof hinter der Hinteren Sonne, der zur Teestube führte. Von dort zur Bank, wo mir der erste Joint gereicht wurde. Das Ufer am Wasserwerk, wo wir die ersten Nächte am Lagerfeuer durchwachten. Trennungsbänke im Hörlepark. An der Schmugglerbucht. Sonnenhalde, Fürstenberg, Allmannshöhe, Riesenberg. Anhöhen im Stadtgebiet, von denen aus man bei Föhn den Säntis anfassen kann. Das einst so schön behäbige Sierenmoos, entsetzlich zugeparkt – diese Klage sei erlaubt – mit entsetzlich häßlichen Automobilen. St. Katharinen mitten im Wald. Wir fuhren mit dem Leukoplastbomber über Waldwege dorthin. Der Vater ein Bier. Die Kinder eine Bluna. Später Jahrtzehnte des Zerfalls. Nun wieder bewirtschaftet. Irgendwann stand ich bei den Tennisplätzen am Hörnle. Steht der Baum noch, an dem heute vor neunundvierzig Jahren mein Vater aufgegeben hatte?
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Und das Gute an diesen Gängen war, sie waren – endlich? – frei von jeglichen dem Alter geschuldeten Sentimentalitäten. Eher so ein verwundertes „Sieh an! Was so alles geschah!“ Die Reime unten zielten eigentlich woanders hin, las sie heute Morgen und dachte an den heutigen Todestag. Vor dem Fenster in Gießen hörte ich dabei Kraniche schreien. Sie kehren nach Hause zurück. Vor der Zeit?
Ich schrieb unten schon von Rückkehr. Die Rückkehr von einer Reise in eine Gegend, von deren Existenz man nichts mehr ahnte, man diese Ländereien auch nie mehr betreten wollte. Die Reise war eine schmerzhafte, aber sie hinterließ einiges an Worten.
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für oder über / wer weiß das schon
gib mir meine kugeln zurück
sie haben dich zu boden gestreckt
gib mir meine kugeln zurück
ich will es nicht gewesen sein
ich weise die schuld von mir
gib mir meine kugeln zurück
der lauf ist noch warm
aus dem ich schoß
der lauf der auf dich gerichtet
war
gib mir meine kugeln zurück
da ich zu feige bin gegen mich
zu richten
das gewehr
gib mir meine kugeln zurück
und du wirst aufstehen und
grinsend an mir vorbei
schreiten
in jenes vergangene leben
welches uns entglitt
gib mir meine kugeln zurück
gott spielen wollte ich nicht
wenn dann gott sein
gib mir meine kugeln zurück
und ich werde mein gewehr
niederlegen dort an der biegung
des flußes wo ich mein herz
vergrub vor langer zeit
die erde darüber bepflanzen
mit rankendem gestrüpp
duftend
von bienenschwärmen umsummt
gib mir meine kugeln zurück
und ich sterbe an deiner statt
(Im ICE nach HH am 28.12.21)
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Als ich dies schrieb im Speisewagen, viel zu frühen Wein trinkend, schien draußen, irgendwo zwischen Göttingen und Hannover, die Sonne und es regnete gleichzeitig. Las heute morgen bei Richard Ford in seinem vor allem für ältere Herren sehr empfehlenswerten Buch „Frank“, daß ein solches Wetter bedeutete, daß der Teufel gerade seine Frau schlage. Soweit ich mich erinnere, gab es keinen das Unheil auflösenden Regenbogen. Die Überschrift ist ebenso ein Zitat aus jenem Buch, welches ich, wieder zu Hause, mit Erkenntnisfreude lese.
Obige Worte sind die letzten von Franz Fühmanns Reisetagebuch „Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens“. Eine Reise zu einem Schriftstellerkongreß in Ungarn, die zu einer Reflexion wird, geführt in faszinierender Offenheit, eine Reflexion über das eigene Schaffen und Wirken, eine Reise in die finstere Ursprünge der beiden deutschen Staaten, die aber nie mit dem Zeigefinger auf andere weist, sondern immer die eigene Verstrickung, die eigene Schuld sucht und dann auch sehr schmerzhaft findet.
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Franz Fühmann wäre heute 100 Jahre geworden. Ein Dichter, der mir immer wichtig war. Ich hatte in diesem Blog schon darüber geschrieben.
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Hier einige wunderbare Beiträge anläßlich seines Geburtstages auf den Seiten von mdr Kultur. Ich empfehle wie der Autor selbst aus den „22 Tagen“ liest. Und das Märchen auch.
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Seinen Grabstein oben fotographierte ich an einem gnadenlos heißen Julitag im Sommer 2014 und hinterließ einen Zweig.
Rückkehr in meinen Blog. War lange weg. War ziemlich weg. War weit weg. Langsam kehre ich zurück. Davon später mehr. Jetzt – das häuft sich ja mit der Sterberei in letzter Zeit – der Tod als Anlaß des Wiedereinstiegs. Herbert Achterbusch ist verstorben.
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Das war eine Art von Erweckungserlebnis, als ich mit einem guten Freund – weiß nicht mehr genau wer es war – im größten Kino von Konschtanz 1977 oder so „Die Atlantikschwimmer“ von Herbert Achternbusch anschaute. Nicht nur wegen obigen Spruchs, den man inzwischen sogar auf Kaffeebechern und T – Shirts lesen darf, leider meist ohne das kleine Wörtchen „zwar“. Kurz darauf schaffte ich mir die ersten drei Bände der gesammelten Werke von Herbert Achternbusch an. Gab es damals bei Bertelsmann. War Deutschland gar mal eine Kulturnation?
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So kündet der Autor und Regisseur und Darsteller den Film im Inhaltsverzeichnis (!!!) von Band 3 an:
Die Atlantikschwimmer
Zwei Freunde sind allgemein lebensmüde. Sie trösten sich im Tierpark, sie trösten sich im Gasthaus. Da geht es um Liebe, Macht und Geld. Als Heinz das Gewehr auf die Brust gesetzt wird, fällt ihm das Kaufhaus Mixvix ein, daß mit 100000 Mark Schwimmer und Nichtschwimmer zur Atlantiküberquerung lockt. Herbert, Bademeister, bringt seinem Freund, der Briefträger ist, das Schwimmen bei. Eine Schwimmlehrerin schaltet sich ein, die eine große Ähnlichkeit mit Herberts verstorbener Mutter hat. Als sie bei Heinz‘ Atlantikstart Herbert darauf aufmerksam macht (sie trägt ein Kleid seiner Mutter), daß er einen zweiten Schuh seiner Mutter nie mehr finden wird, dreht er durch, wird aus Muttersehnsucht Atlantikschwimmer und gibt von nun an seltsame Gedichtchen von sich, die auf Gartenerlebnisse mit der Mutter verweisen. Atlantikschwimmer werden immer zuerst in einem Binnengewässer zu Wasser gelassen. Sie stoßen auf den Angler Alois, der Heinz von früher kennt. Er hat eine mannigfache Klopapierproduktion, gewinnt Heinz zum Mitarbeiter, seine Rollen mit Herberts Gedichtchen attraktiver zu machen. Herbert, dem Wasser entzogen, zieht jetzt selber die Mutterkleider an und dichtet sich in einen Unsterblichkeitswahn. Er soll im Ausland getestet werden, auf Teneriffa. Er überlebt den Sprung aus einem fahrenden Auto, will aber von diesen beiden Freunden nicht mehr wissen und strebt dem Atlantik zu, findet einen betrunkenen Verehrer, den er zur Nachahmung ermuntert: „Du hast zwar keine Chance, aber nutze sie!“ und schwimmt hinaus. Das letzte Bild: in der Wasserwüste sein kleiner Kopf.
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Ein sehr schönes Zitat noch von Achternbusch: „Die Zärtlichkeit muß so groß sein wie ein Elefant, sonst nehme ich sie gar nicht an!“ Und nun auf zur Querung des Atlantiks.