Sagte der Schalk zum Dieb: „Es soll doch einen Weg geben, der hier rausführt!“
Sagte Estragon zu Wladimir: „Du sagtest, daß wir morgen wiederkommen müssen!“
Sagte Lobkowitz zu Shlomo: „Lass uns warten, Schlomo. Warten ist die wahre Zeit. Wenn man auf den Messias wartet, kommt es aufs Warten an, nicht aufs Kommen.“
Sagte Shlomo zu Lobkowitz: „Oh Herr!“
Sagte Wladimir zu Estragon: „Das sagt man so!“
Sagte der Dieb zum Schalk: „Kein Grund sich aufzuregen!“
Mischte sich Bertolt Brecht ein: „Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.“
Sagte George Tabori: „In der Erinnerung ist das ganze Leben ein Tag.“
Wiederholte Wladimir: „Das sagt man so!“
Also sprach Samuel Beckett: „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“
Und Winnie starrte zum Zenit und sagte: „Wieder ein himmlischer Tag!“
Willie antwortete: „Fürchte nicht mehr!“
Wieder Wladimir: „Das sagt man so!“
Darauf Winnie mit derselben Stimme: „Was?“
Willie wurde wütend: „Fürchte nicht mehr!“
Sagte aber Clov zu Hamm: „ … Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende!“
Sagte Hamm zu Clov: „Es ist aus. Mit uns ist es aus. Bald aus!“
Sprach Godot: „Wartet nicht auf mich!“
Erzählte George Tabori einen Witz: „Hängen zwei Schächer am Kreuz. Fragt der eine: „Tut’s sehr weh?“ Antwortet der andere: „Nur wenn ich lach‘.“
„Call me Snake!“ Die Augenklappe. Die Dystopie. Das Ende der Zivilisation. Ernest Borgnine, ungeschlagener Meister funkelnder Nebenrollen und der Lieblingsschauspieler meines Vaters als Cabdriver Cabbie. Harry Dean Stanton. Lee van Cleef. Ein Sammelsurium einsamer weißer böser – würden manche heute sagen – Männer. Die Not schweißt sie zusammen. Und die große Aufgabe. Nicht zu vergessen: Zynismus. Man rettet den Präsidenten, auch wenn er ein Arschloch ist. Pflichtbewußtsein mit Stinkefinger. Ich lieb(t)e den nun vierzigjährigen Film. „The name’s Plissken!“
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1981 war ein Jahr in dem die Apokalypse nicht nur im Kino abgefeiert wurde. Reagans Krieg der Sterne, SS 20, Waldsterben, Wettrüsten, ein andauernder Wirtschaftsabschwung, der die letzten Reste des guten, alten Jahrzehnts der Sozialliberalen endgültig wegfegen sollte. Mehr Demokratie wagen war der Wirtschaft inzwischen zu teuer geworden. Die RAF hat ihren Teil dazu beigetragen die letzten Reste einer gesellschaftlichen Utopie wegzubomben. Man begann hauptsächlich eigene Suppen zu kochen. Kohl ante portas.
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Las zum Frühstück in der SZ eine Würdigung Kurt Russells, der heute 70 wird. An dem einen Film kommt man nicht vorbei. Welcher Schwachkopf hat eigentlich „Escape from New York“ den deutsch – dämlichen Titel „Die Klapperschlange“ verpasst, fragte ich mich mal wieder. Ging dann raus, Mineralwasser holen. Und brauchte außerdem 2 neue T – Shirts. Mußte ich im Netz einen Termin machen. „Eine Stunde Shopping – Erlebnis buchen.“ So heißt das heute. Maske, Schlange stehen, QR – Code ausgedruckt, wird gescannt, es piept und rein ins Erlebnis und ich dachte, hätte man mir damals 1981 als bekennendem Apokalyptiker einen kleinen Ausblick in diese Tage geschenkt, hätte ich es geglaubt? Das Absurdistan vor der Haustüre? Wie man sich doch an Unvorstellbares gewöhnen kann? Wieder zu Hause guckte ich nochmal in meine alte Reimekiste und fand Folgendes.
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wegen carl im februar
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das war heute ein schöner tag. ich habe mich nicht getraut in den spiegel zu schauen. ich habe sie angelächelt. sie hat nichts merken dürfen. sie ist die fernsehansagerin.
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das war heute ein schöner tag. ich habe mich so stark gefühlt um einen mülltonne damit füllen zu können. ich habe mich nicht gefürchtet. er hat mich wieder mal gerettet. er ist die spinne.
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das war heute ein schöner tag. ich habe mit meiner zunge sanft meinen gaumen gestreichelt. ich habe meine zufriedenheit gehört. er war schneller in mir als er dachte. er war ein big mäc.
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das war heute ein schöner tag. ich habe den dunst der stadt mich grüssen sehen. ich habe krankheit in den gesichtern gerochen. sie zog ihre bahn. sie war die linie fünfzehn.
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das war heute ein schöner tag. ich habe die lichter aus der anderen welt gesehen. ich hatte den finger am abzug des erfolges. es tickte und klingelte orgiastisch. es war ein freispiel.
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das war heute ein schöner tag. ich habe die trübheit meiner augen geschärft. ich habe die letzten schwankungen der ewigkeit erraten. es trug mich auf einer woge ins pissoir. es war mein zehntes bier.
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das war heute ein schöner tag. ich habe über einen menschenleeren platz geschrien. ich habe autos um verständnis angefleht. er hielt sich raus. das war mein schöner tag.
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(köln / 19. februar 1981)
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Und hätte große Lust mich in diesen Tagen der Askese sinnlos durch die Nacht zu trinken, zu flippern und zu spinnen, um den bevorstehenden Weltuntergang zu feiern. Auch wenn er nur im Kopp rumtanzt. Oder eine trunkene Premierenfeier in der Parisiana – Bar ausklingen zu lassen.
Als ich im letzten Herbst aus dem Gundermann – Abend am Stadttheater ein Solo – Programm bastelte, wurde mir erst richtig klar, wieviel Trost die Texte von Gundermann bereithalten. Die meisten Lieder entstanden in den Neunzigern, als die verbliebene Bevölkerung der untergegangenen DDR mannigfache Einbrüche, Umbrüche, Zusammenbrüche zu durchleben hatte, neu gewonnene Freiheit hin oder her. Was ist die eigene Biographie wert? Was bleibt von einem Leben?
Zweimal hat Freundchen Corona meinen „Gundermännern“ letztes Jahr den Stecker gezogen. Erst im März, dann im November. Es wird jedoch weitergemacht. Hier von 4:30 an.
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Immer wieder wächst das Gras
Klammert all die Wunden zu
Manchmal stark und manchmal blaß
So wie ich und du
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Zum Schluß hier ein großes Danke schön an Heiner Kondschak. Ohne den kein Gundermann im Westen. Und den König von Deutschland verdanke ich ihm auch. Noch ein Trostlied.(Schöne Erinnerungen an die Terrasse bei Tübingen. Damals mehr Sommer und sehr viel Hoffnung!) Überlebt wird ganz gewiß bis Übermorgen. Und mehr.
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PS: Die Fotos hier: Gundermanns Schaltzentrale in der KuFa Hoyerswerda. Uwe Proksch und Reinhard „Pfeffi“ Ständer hatten mir damals sehr geholfen, als ich im Sommer 2019 vor Ort den Gundermann – Abend verfasste.
„Der Vater war 44, als er sich aufhängte. Als ich endlich 45 war, war ich froh. Ich hatte ihn nicht umgebracht, doch ich war älter geworden als er, immerhin. Etappenziel erreicht.“ (Bov Bjerg / Serpentinen)
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So empfand ich am 11. Mai 2004. Nun war ich also älter geworden als der, der mein Vater war. Heute ist es 48 Jahre her, daß er gehen musste, gehen wollte, einfach ging, grußlos. Mit 48 Jahren.
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Bücher wählt man nicht aus, sie suchen Dich. Davon bin ich überzeugt. In meinem privaten, aber auch dienstlichen Leben (ist eh ein und dasselbe!) liefen mir ziemlich gehäuft Bücher über den Weg, die zum Thema hatten Tod, Schmerz, Trauer, die Unfähigkeit dazu, Erinnerungsversuche der Hinterbliebenen, Verarbeitungsversuche der schmerzlich Alleingelassenen. Es brauchte eine Zeit, bis mir die Gedanken aus fremder Feder zu einer Hilfe werden konnten. Fremder Schmerz kann manchmal als aufdringlich empfunden werden, relativiert er doch das eigene, als einzigartig definierte Leiden. Schnell weist man eine aus tiefem Herzen gut gemeinte Empfehlung – „Das mußt Du lesen!“ – als unangemessen zurück. Igelt sich ein. Das ist nicht nötig. Viele meiner Bücher sind Geschenke guter Freunde. Die meisten Bücher aber erwarb ich auf Grund der Lektüre von Querverweisen. Jedes Buch weist auf ein nächstes hin.
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„Der Vater ging voraus, und ich ging hinterher. Im Esszimmer stand ein Kofferradio. Es spielte ein einziges Lied: „Ja Grüezi wohl Frau Stirnimaa, säged Si wie läbed Si, wie Si Si au so draa? Grüezi wohl Frau Stirnimaa, säged Si wie läbed Si, wie gaht’s dänn Ihrem Maa?“
Das Radio spielte ein einziges Lied, die ganze Zeit, und der Vater ging die ganze Zeit um den Tisch herum, und ich ging die ganze Zeit hinterher.“ (Bov Bjerg / Serpentinen)
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Ich liebe die Koinzidenz. Kurz vor Weihnachten stieß auf Bov Bjergs `Serpentinen`. War mir bis jetzt komplett unbekannt. Zu Weihnachten schenkte mir die Schwester Bjergs `Auerhaus`. Ich las die Bücher mit großer Freude, bewegt und aber auch mit Vergnügen. Eine karge, klare Sprache. Humor. Wut auch. Keine Larmoyanz. Kein Blabla.
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Wie soll man es benennen? Selbstmord? Klingt immer noch die Straftat nach, katholisch verboten. Begrabt den Täter vor den Mauern des Gottesackers. Suizid? Eine technokratisch klingendes Fluchtwort. Man vermeidet den Schmerz. Etwas, was das eigene Leben bedrohen könnte. Kein Ausdruck für Betroffene. Selbsttötung? In meinen Ohren ungelenk. Als sei es ein Unfall, ein Zufall gar gewesen. Hand an sich legen? Wie bitte? Der letzte große Abgang, die ultimative Masturbation? Nee. Vielleicht einfach sagen, wie es geschah. Er warf sich vor den Zug. Sie nahm Tabletten. Er erschoß sich. Sie schlitzte sich die Pulsadern auf. Er erhängte sich. Wahrscheinlich das Beste. Oft sehr oft, wurde ich gefragt, sagte ich, mein Vater starb sehr jung. Oder: er ging mit 48. Je nach Gegenüber. Heute meist: Er hat sich aufgehängt.
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„Frieder dachte den ganzen Tag nach. Wenn er was rausgefunden hatte, sah er mich kurz an, als ob er auf eine Einladung wartete. Dann sagte ich „Und?“, und Frieder sagte, was er rausgefunden hatte.
Ich sagte:“Und?“
Frieder sagte: „Ich wollte mich nicht umbringen. Ich wollte bloß nicht mehr leben. Ich glaube, das ist ein Unterschied.““ (Bov Bjerg / Auerhaus)
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Was bleibt? Ein Arschloch wie 1 m Feldweg (aus Auerhaus) oder Du fehlst? Es ist gut, wenn man beides aushalten kann.
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„Frieder sagte: „Das Saufen schiebt den Suizid raus. Manchmal so weit, daß man am Saufen stirbt.“
Bei der Lektüre fremder, eigener, ungeschriebener, geplanter Texte überliest man gerne das sehr häufig verwandte, wenn nicht am meisten geschriebene, getippte, angedachte kleine Wörtlein mit den drei Buchstaben. Und nimmt es als gottgegeben. Aus therapeutischen Gründen nun ersetze ich das Wörtlein im Folgenden mal. Frei nach Murakamis neuen Erzählband. Noch nicht gelesen, aber zumindest bestellt. Beim lokalen Buchdealer! Gelle!
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Natürlich kann Erste Person Singular letztlich nur von dem berichten, was Erste Person Singular als mein Leben bezeichne. Auch wenn Erste Person Singular versuche aus dem Fenster zu blicken und Erste Person Singular versuche zu beschreiben, was Erste Person Singular dort sehe, schon beim Niedertippen dieser wenigen Worte sage Erste Person Singular mir, weshalb Erste Person Singular solche Sätze ertrage, in denen sich das Wörtlein Erste Person Singular dermaßen stapelt, nur weil dort die drei Buchstaben Erste Person Singular zu lesen sind und nicht der aus Neunzehn Buchstaben bestehende auf drei Worte aufgeteilte Begriff „Erste Person Singular“ steht. Da ist doch seltsam, stelle Erste Person Singular fest. Da müssen Erste Person Plural reden von gewaltigem, eventuell vorhandenem Einsparpotential.
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Jetzt gehe Erste Person Singular raus in den Schnee und sage Reflexivpronomen Dativ, daß der Schnee weder für Reflexivpronomen Akkusativ noch gegen Reflexivpronomen Akkusativ vom Himmel fiel. Sondern weil es Gott so gefällt. Heute zumindest.
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Ich blicke, bevor Erste Person Singular aufstehe, unter meinen Schreibtisch und da liegen sie rum die eben aus dem Text Verbannten … Psst, Ihr kleinen vorlauten Säcke! … Singen wir lieber ein Lied und blasen den Kopp frei vom ERSTE PERSON SINGULAR! … Bereit?
„Wer sich seiner Geschichte nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ George Santayana
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Das was man früher „der Westen“ nannte, befindet sich seit einiger Zeit in einem Zustand virulenter Amnesie und / oder Geschichtsvergessenheit. Egal was geschieht, Capitol, verschärfter „Schließrunter“, Scheitern in Afghanistan, Moria, Waldbrände, Schnee in Madrid, Trainerentlassungen und eigene Krankheit, es wird oft nur aus dem Moment heraus bewertet, kommentiert und eingeordnet, meist garniert mit Entrüstung und auf alle Fälle kategorisch oder wie man es gerne nennt: meinungsstark. Man blickt auf die Geschehnisse als sei man selbst nicht Teil der Welt, sondern lediglich Beobachter. Wie und auf welchen Wegen eine Gesellschaft und so man selbst an diesen Punkt geraten ist, wird selten ins Kalkül gezogen. Keine Zeit oder man könnte ja unangenehm verstrickt gewesen sein.
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Ich lese viel, zur Zeit noch mehr. Mir fiel auf, daß in den letzten Wochen hauptsächlich Werke ostdeutsch sozialisierter Schriftsteller auf meinen Nachttisch lagen. Wolfgang Hilbig vor allem, Christoph Hein, Günter Bruyn, Brigitte Reimann, Peter Richter, Durs Grünbein, Thilo Krause. Was ich – generalisierend – an deren Werken schätze, daß sie nicht das Hohelied der Selbstverwirklichung singen oder vom Mythos des freien Individuums, sondern ihre Figuren und sich selbst stets in einem Geflecht von Abhängigkeiten, Ambivalenzen, historisch verebter Schuld, den Versuchen dieser zu entfliehen oder sich ihr zu stellen, ansiedeln. Ein Menschenleben erzählt sich mir eher in Reibung mit den Zeitläuften und nicht nur aus familiären Zusammenhängen heraus. Familie ist kein ahistorischer Raum. Diese Herangehensweise erfordert Wühlarbeit und eine gewisse Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber.
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Wie der Maulwurf / der sich gräbt wühlt ackert / unermüdlich unerschrocken unerbittlich / durch das Bergwerk / die Stollengänge seines Lebens / dessen getrübtes Auge nicht sieht den Stiefel / einmal nur die Sonne auf seinem Fell, einmal nur / Tereisias ach Tereisias / der Stiefel des Bauern / fährt nieder / einmal nur die Sonne auf seinem Fell wollte er / der Schädel bricht / die Sonne auf seinem Fell / als er schob seinen Schädel hinaus ins Licht
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Obiges schrieb ich, als ich im Sommer 2014 mit dem Fahrrad nach Märkisch – Buchholz „pilgerte“, um das Grab von Franz Fühmann zu besuchen. Fühmann – Jesuitenschüler, dann glühender Nazi, glücklicherweise – für ihn – von den Sowjets nur gefangen genommen, Umerziehungslager, später Jubelstalinist, Staatsschriftsteller, langsam wachsender Zweifel, alkoholkrank, schließlich Dämmerung, Wandlung, die Trakl – Erfahrung, Sturz des Engels, Biermann, Alkohol wieder, noch ein Entzug, radikale Askese, schließlich bis zum Tode sich aufreibend in der Auseinandersetzung mit dem einst verehrten Staat – ist der gnadenloseste literarische „In – sich – und – der – Welt – Wühler“, der mir je begegnete, übertroffen nur von seinem Ziehsohn Wolfgang Hilbig. („Das Provisorium“) Die letzten Jahre seines Lebens saß Fühmann meist in seiner Garage in Märkisch – Buchholz und arbeitet dort an einem nie vollendeten Werk, fuhr täglich ein in sein Bergwerk.
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„Ich grüße alle jungen Kollegen, die sich als obersten Wert ihres Schreibens, die Wahrheit erwählt haben.“ (Grabinschrift Franz Fühmann)
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Was immer das sei: die Wahrheit. Wesentlich scheint mir die Bereitschaft, sich auf die Suche zu begeben. Ausdauernd.
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PS: Ich hatte im Jahre 2014 schon – unterstützt vom neugierigen Denkbär Archibald Mahler – von der kleinen „Pilgerreise“ berichtet. Da und dann hier und schließlich dort!“