„Ich habe gerne einen Kopf wie eine Kristallkugel. Klar und durchsichtig!“ (Karl Lagerfeld)

…..

Lourdata / Kefalonia / Hellas / 3. Juni 2023 / Sichtbare Klarheit / Foto: A. Haas

…..

Und dann sagte der oben Zitierte noch, las ich eben, dass er sich meistens mit Trinkern, Drögelern und starken Rauchern umgeben habe, da ihn solche Nüchternen, wie er so preußisch halt gewesen sei, eher langweilten.

*

Miro Klose, einer der sympathischsten Kicker ever, übernimmt die Clubberer.  In unserem Haushalt gibt es nun einen neuen Lieblingsverein.

*

Der nicht nur aber eben auch profundeste Dylanvermittler der Republik (außer) Herr Detering wurde in den Orden pour le merite aufgenommen.

*

Die Mehrheit der Wählenden in Limburg ist dafür die lästigen Tauben in der Innenstadt zu köpfen, statt auf weggeworfene Lebensmittel zu verzichten. Ich bin auch für das Köpfen. Ich werfe keine Lebensmittel auf die Gass‘.

*

Der Nachwuchs reckt im Netz, auf Sylt, anderswo, an den Wahlurnen den rechten Arm ausgestreckt in die Lüfte. Die Boomer lehnen aber ab jede Verantwortung für den fragilen Zustand des Landes, belehren ungebremst weiterhin und mit großer Geste und planen dabei ihren nächsten Urlaub.

*

Ein Rudi, den es nur 1x gibt, macht noch keinen Sommer. Traumsteuerung jeglicher Art wurde noch nie patentiert. Der Juni soll verregnet bleiben. Die Gastronomen stellen hektisch Fernseher auf und erhöhen ihre Preise gern.

*

Sarah Butler und Oskar Brunnen und die Klagenerheber lachen sich einen weg. Gießen wählt frei nach Nina Hagen und sinnentleert. Alles so schön bunt hier. Ich kann mich gar nicht entscheiden. Was volt Ihr? Die Partei?

*

Wenn auf den Dünkelsendern 3Sat oder Arte Kultursendungen laufen, moderiert von feministischen Highheels, möchte ich die Glotze aus dem Fenster werfen. Wie einst die Anhänger der Azzurri, wenn ihr Team verlor.

*

Mein Hirn ist leider keine Kristallkugel. War es nie. Mein Hirn ist der quälende Eintopf, indem ich die Reste eines Tages versuche zu verrühren. Meistens aber zu ertränken. Warum das Mantra besingen? Wünsch Dir was?

*

William S. Burroughs schrieb mal: „Radiert Das Wort ‚Akzent‘ aus. Radiert Das Wort ‚Klasse‘ aus. Radiert die Alten Seilschaften aus. Radiert die Worte aus.“

*

Die Behauptung das Leben des Menschen, der Gesellschaft, einer Ideologie könnte Stringenz, Klarheit oder gar die Möglichkeit einer Einschätzung beinhalten, ist nicht nur obsolet, sondern einfach nur Absurdistan rules ok!

*

Das Land der Darbenden feiert jedes Wochenende Feste. Samstags und sonntags und auch sonst wird in den Cafés offensiv gefrühstückt. Viel übrig, was man danach wegschmeißen darf. Die böse, böse Pandemie ist schuld?

*

In den Bodensee floß dieser Tage viel Wasser. Habe oft mit meiner Mutter in der Sache telefoniert. Da passt viel rein. Sagte sie gerne. Jetzt läuft er über.

*

Schmeiß deine Gedanken in die Luft. Runter kommt das Zeugs immer. Mal so. Mal anders. Mal so. Mal anders. Mal so. Cut up. Es kommt eh. Runter.

*

Heute versuche ich mir mal den schwulen Junkie William S. Burroughs und den schwulen Preußen Karl Lagerfeld als ein Paar vorzustellen. Geht doch.

*

Unser Gemüse wird tagtäglich von Schnecken angegriffen. Nicht nur unser Gemüse. Sie sind in den Nächten überall. Ihre Schleimspuren sieht man nie.

*

Wer sich nicht den eigenen Ängsten überzeugt in die Arme schmeißen will? Frag mich nicht. Die eigene Lächerlichkeit gilt es gelegentlich zu ertragen.

*

Manuel Neuer muss weg!

*

Ich schaue entschieden zu viel Fernsehapparat. Die Schwäche des Alterns.

*

Aus diesem Text komme ich so nicht raus. Außer ich höre einfach auf.

*

(eben / weder regen / noch sonne / ewiger april)

…..

…..

„In jeder Aufführung muss das Werk neu geboren werden.“ (Gustav Mahler)

…..

August 2020 / Konstanz / Hauptfriedhof / aufgegebenes Grab

…..

Da ich an meinem eigenen Grabe stand

*

Und wie ich hörte das Poltern der auf meinen Sarg

Von eigener Hand geworfenen

Rosen

Und wie ich hörte deren lautes Vermodern

Und wie ich sprach mit den Regenwürmern Maden Ameisen

Die durch die Furchen meines Hirns

Krabbelten zappelten

Und wie ich versuche mich umzudrehen

Bequemer zu sterben

Wurde es hell

Und der neue Tag nahm mich in die Pflicht

Weiterhin zu atmen

*

(heute / gleich regen / hier)

…..

…..

„Ich taumele durch die Gegend wie ein betrunkener Somnambuler.“ (Fundsache in den digitalen Netzen zu Gießen)

…..

12. Oktober 2023 / Bank älter / Wallonien in der Nähe von Huy / Unbesessen / Vorbeigewandert

…..

Da ich einmal sterben werde

*

Von den Bänken auf denen mir Plätze angeboten

Nahm ich keine Notiz

Als drohende Drohne über den Weizenfeldern

Der Feinde

Abgestürzt glomm ich vor mich hin

Vermeintlich weise und selten leise voller

Sehnsüchtiges Wüten

Und vergaß die letzten Kartoffeln aus dem Feld

Zu klauben

Die vom letzten Jahrhundert über

Unter der Mütter Röcke

Blechtrommler der ich wurde

Verschließt meinen Sarg

Und meine letzten Klagen

Laßt schmelzen mich

Wie eine überteuerte Kugel Speiseeis

Unter den kalten Sonnen des Wissens Bescheid

Und den Vermeintlichkeiten

*

(heute / sonne / hier)

…..

…..

„Mein Lieblingssound ist der von Schinken in einer Pfanne.“  (Tom Waits)

…..

Frikes / Ithaka / Taverna Odysseas / 7. Juni 2023

…..

Da ich einmal stehen blieb

*

Auf den Jagden nach den Endergebnissen

Wurde ich ausgewechselt

Die Ersatzbank war überfüllt

So blieb ich stehen

Bis mich die Götter zu sich gewunken

Und mir anboten nun liegen bleiben zu dürfen

Ewiglich

Ich verwies meinen nächsten Klagegesang auf den Nebenplatz

Und machte mir ein Spiegelei schweigend

Die Götter nahmen mein Opfer an

Ohne Worte

*

(gießen / sechster juni 2024)

…..

…..

„Ich weiss nicht, wer ich bin. Aber das Leben ist zum Lernen da.“ (J. Mitchell)

…..

3. Mai 2024 / Schauenburg / Hinten Hotel und Mietwagen / Nachts kam ein Marder vorbei

…..

Da ich vorüber ging

*

Die Milch sei ausgetrunken

Ist die Milch doch verschüttet aber

Die Euter sind noch leere Lappen baumelnd

Am Strassenrand aufgereiht stehen alte Kannen

Passanten nickend daran vorüber gehen

Und den eigenen Erzählungen

Lauschend ohne etwas zu hören

*

Wenn ich am anderen Ufer werde sein

Dies verspreche ich dir

Lass uns einen letzten Witz erzählen

Du musst nicht lachen

Wenn du mir lauschen kannst

Falls ich zuhöre

*

Mich durch die Nächte wälzend erinnerte ich

Welcher ich nicht wurde

Hatte ich die Milch verschüttet

Hatte ich die Milch getrunken

Ist was bleibt der Milchbart

Ewiglicher

Heute keine Milch mehr

Heute keine Milch

Heute kein Morgen

Morgen aber

*

(gießen / heute / juni 2024)

…..

…..

„Knowledge is talking. Wisdom is listening.“ (angeblich von Jimi Hendrix )

……

Rechts und links alte angeröstete Brote / In der Mitte ein neues Rezept / Gelungener Versuch

…..

Gestern, Sonntag, weniger Regen, aber noch weniger Sonne, saßen wir in Heuchelheim an einer Bushaltestelle. Was länger. Bus verpasst, der am Wochenende nur stündlich verkehrt in Richtung Metropole Gießen. Warten. Langeweile. Müde und traurig. Warum kann der BVB keine wichtigen Tore schießen? Wir hatten nach unserem Gemüse geschaut, oben Auf der Hardt. Haben die jungen Tomaten die Güsse überlebt? Was macht der Rest? Wir sitzen und gucken. Es rollen die Automobile ohn‘ Unterlaß gen „Zentrum“. Warum? Es ist doch Sonntag. Langweilen die sich eigentlich noch schlimmer als wir an der Bushaltestelle? Man feiert wohl da was. Irgendwas. Was schon? Sich selbst? Wird schon wer Kohle machen, wenn die Langeweile der Umgebung sich in die Kleinstadt ergießt. Dann erfinden wir ein blödes Spiel. Wer zuerst ein Auto sieht, in dem mehr als ein einsamer Mensch sitzt, hat gewonnen. Wurde richtig schwer. Sonst? Es wird gerade der Süden des Landes geflutet. Ich guck immer die aktuellen Pegelstände da unten nach, wo die Familie wohnt. An Mittelhessen rauscht es – noch – vorbei. Schade, aber unsere Tomaten freut es. Trotzdem sehen die richtig Scheiße aus. Der Bach namens Lahn wird diese Stadt kaum beeinträchtigen. Die Hirne der Anwohner schon gar nicht. Empathie ist ein Fremdwort vor Ort.  Gerne aber gesungen in Gazetten und Netzen. Lehne ich mich mal so aus dem Fenster raus. Der Bus kommt. Voll. Gut, ab jetzt ganz und noch vorsichtiger getippt: da sitzen nicht die Kimmichs drin. Wir steigen an der Schützenstrasse aus und dachten noch darüber nach dieses seltsame Lahnfest wenigstens mal zu betrachten. Oh Gott. Der erste Meter Hüpfburg an Hüpfburg. Gegenüber kann man seine Krankenkasse fragen, ob das Herz ersetzt werden kann. Ist aber nicht so billig. Oh Gott, bewahre mich vor jeglicher mentaler Verwahrlosung.  Und der Besserwisserei. Sonst gehen nicht nur die Clowns schlafen. Siehe unten. Heute scheint mehr Sonne.

…..

…..

„Denn der Bruno, der geht jetzt in Freiheit!“ (Bruno S. in Herzogs „Stroszek“)

…..

3. Mai 2024 / Unten der Edersee und Waldeck

…..

Die Schlaflosigkeit ist ein böses Tier und kennt etliche Ursachen. Neue Schmerzen. Alte Schmerzen. Drinnen wie draußen. Geld. Liebe. Wetter. Rheuma. Rücken. Das eigene Schnarchen, an dem man gelegentlich meint ersticken zu müssen. Die unruhige Ermahnung des Menschen neben dir, der sich nach Nachtruhe sehnt. Das Absinken des täglichen Pegels in Richtung neues Verlangen. Karussellfahrten. Reue und Trotz. Genetisch eingepflanzte Wut. Wetterwechsel. Wieder trommelt der Regen gegen das Fenster. Die Angst um die frisch gepflanzten Tomaten. Menschen, die nicht mehr in der Lage sind zu antworten. Oder nicht mehr wollen. Türme der Erwartungen, von denen nicht mehr regnet hinab Rapunzels Haar. Alte Matratzen. Alte längst verschorfte Wunden, welche die erneute Nacht wieder aufkratzt.

*

Die letzten Nächte boten einen großartigen Mix aus allen Zutaten. Die Cocktailbar des Grauens. So könnte man übertreiben wollen. Des Nachts.

*

Heute in der Nacht fiel mir eine Erinnerung vor die schlaflosen Füße. Zufällig. Großes ungarisches Ehrenwort. Warum auch immer. Einer meiner, wenn nicht der Lieblingsfilm, lag neben mir im Bett und ich stand auf und googelte. Lange. Auf einem ungarischen Portal fand ich ihn und schaute an.

*

STROSZEK (wer hier vorbeischaut nehme sich die Zeit!)

*

„So, the car is kaputt and your girlfriend is gone and dein haus is sold!“

*

Und Bruno S. antwortet darauf: „Hier sind meine letzten drei Dollar!“ Und fährt weiter im Kreis herum. Nennt man wohl Leben.

*

Wenn dann alles weg ist, kann man einschlafen. Dann jedoch dräut die nächste Nacht. Oder schlimmer noch ein neuer Morgen. Ein bisserl mehr kann man stets noch verlieren im Nachgang. Singt der Meister. Weiter!

…..

…..

„Je schlechter es zugeht, desto besser gefällt es mir!“ (Limonow / russ. Autor)

…..

Auf einem Fensterbrett in Gießen ein Sonnentag im Mai 2024 / Rarität

…..

Gebet dem Wüten der Innereien gewidmet

*

Wenn und dann wenn du im testament

Dem alten aber zornesrot schüttelst den kopf über diese tage

Laß mich so lange es geht bleiben

Ein greenhorn vor meiner täglichen

Wüterei

Und nicht platzen ob hinzunehmender

Nichtigkeit oh herr

Den es nicht gibt

Da ich an ihn glaube

Denn den regen fängst du nicht auf mit

Der weinkaraffe in der rechten oder linken hand die dir

Ferner und ferner ward

Nach dir werden leeren sie neue

Mißtraue den händlern

Verkaufe nichts und

Kaufe nur ein

Was du nicht benötigst

*

(in gießen am 29. Mai 2024 regnet es dieser tage jeden tag)

…..

…..

Are you in the garden of eden or alone?

…..

Konstanzer Trichter / „Schmugglerbucht“ / Irgendwann zwischen Herbst 1978 und Winter 2024

…..

Wer am längsten auf der Tanzfläche bleibt! / Bist du froh und zufrieden?

*

Douglas Lloyd „Doug“ Ingle ist verstorben. Da fallen die Erinnerungen aus dem Herzen wie der Regen dieser Tage aus dem Maienhimmel. Viel mehr als nur In A Gadda Da Vida. Jedoch, wer diesen Song, gerne unter Zuhilfenahme rezeptfreier Dopingmittel, die kompletten 17 Minuten auf der Tanzfläche durchhielt, gehörte zu den Geweihten. In der damaligen „Katakombe“ (kurz d‘ Kombe) gelang mir dies das eine oder andere Mal. Ausdruckstanz würde man es heutzutage nennen. Ein Mitglied der schlagenden Jungrocker, die das Tanzlokal einst beehrten, um die „Hippies“ und „Terrorischte“ ein bisserl zu erschrecken, sagte mal zu mir, ob jetzt ernst gemeint oder nicht, wieso ich nicht gleich zum Theater ginge. Habe ich ja dann gemacht. Das dauerte zwar entschieden länger als 17 Minuten, fühlte sich aber oft genau so an, wie in diesen unendlichen Minuten nach dem Drumsolo, welches wir alle auswendig buchstabieren konnten. Am End‘ war man fix und foxi.

*

Das immer von großem Drama erfüllte Timbre von Doug Ingles Gesang berührte mich ab dem ersten Hören. Wie man heute so sagt: Gänsehaut. Heute noch. Vor allem wenn er vom anderen Geschlecht sang. Oder mich mit einem meiner Lieblingssongs unvermittelt anbrüllte und mich fragte, ob ich glücklich sei. Was sollte ich da antworten? Beschwerdefrei glücklich war ich nie in meinem Leben. Der geerbte Schwarze Hund lief stets neben mir kläffend. Wenn es mir besser ging, vielleicht ein paar Meter hinter mir. Schwanzwedelnd wie ein folgsamer Gatte. Es dauert Jahre, Jahrzehnte bis ich den Gefährten als Schwarzen Hund erkannte. Glück ist vielleicht die Abwesenheit von Insomnia und Schulden. Wenn ich mich glücklich gab, war ich meist zu laut, zu überdreht, zu bedröhnt, viel zu selbstbesoffen.

*

1978 in Freiburg schrie das Glück nur so aus mir raus. Ich hatte eine junge, sehr junge Frau kennengelernt. Ich 21, sie 16 und schon in den Armen des Teufels H durch das Leben tanzend. Nie wieder hat mich eine „Frau“ dermaßen in der Gegend rumgeschickt. Besorg das. Färb dir die Haare. Sing nicht so. Nachts strolchte ich vor Aufregung zitternd durch Freiburg. Klaute für sie Rosen aus Vorgärten, einen Bierkasten aus dem Supermarkt, ein Fahrrad und Zigaretten überall. Und in meinen Kopf in Dauerschleife ein euphorisches Lied. Tage später schmiß ich auf ihren Wunsch Mister H ins Clo, spülte ihn runter. Wir trampten nach Amsterdam. Paris. Sie hielt den Daumen hoch. Ich mußte ins Gebüsch. Die Autos hielten ohne groß zu überlegen und sie redete mich auf den Beifahrersitz und uns so durch Deutschland, Osnabrück, Holland, Frankreich. Immer wenn es dir schlecht geht, sagte sie noch in Amsterdam, singst du vor dich hin. Sie hatte recht.

*

Wieder in Freiburg, ich hatte alten Konschtanzer Freunden versprochen zu dritt nach Marokko zu hitchhiken, räumte ich etwas überhastet den Platz an ihrer Seite. Mister H freute sich nach mehrwöchiger Abwesenheit und übernahm wieder das Regiment. Ich hatte die Reiseroute geplant und ihr die Postämter einiger Halteorte aufgeschrieben. Dort könne sie im Notfall Briefe hinsenden. Poste restante. Obwohl wir auf dem Hinweg sehr langsam vorankamen, keine Post auf Nachfrage in den vereinbarten Postämtern. Es war eine seltsame Reise. Eine eigene Geschichte wert. Zurück in Freiburg. Alles klebrig. Bitter. Hast du keine Post gekriegt? Nein. Arschloch! Aber ich hab‘ doch. Fass mich nicht an. Sing mir ein Lied. Und dann fuhren wir beide ganz weit weg. Sie mit dem Teufel nach Berlin und wurde ein Stück des Berliner Untergrunds. Ich brach mein Studium der Literatur und Politik ab, ich war extra wegen uns von Konstanz nach Freiburg gewechselt, und ging wenig später auf die Schauspielschule. Erst in den USA und dann in Köln.

*

Ich war dabei meine Sachen zu packen, da rief mich ein guter Freund an, bei dem ich zeitweise gemeldet war in Freiburg, er habe einen Packen Briefe entgegengenommen für mich. Briefe. Briefe die zurückgesandt. Aus Avignon. Barcelona. Malaga. Algeciras. Tanger. Marrakesch. Hilfeschreie. Malende Tintenfüllerschrift. Riesige violette Buchstabenkringel. Und nach Monaten noch waren die Reste des unvermeidlich heftigen Patschulis zu riechen, mit dem die Briefe besprüht wurden. Blieb die Luftspiegelung.

*

Alle paar Jahre haben wir mal miteinander telefoniert. Aus heiterem oder düsterem Himmel. Sie sang mir ihre neuesten Lieder in den Hörer. Hielt mir – clean – inzwischen Vorträge über Nüchternheit und daß der Alkohol auch ein mieser Teufel. Fast hätte ich meine Kölner Schauspielausbildung abgebrochen und wäre gen Berlin gepilgert. Später wurde sie eine Zen-Nonne und ihr Leben ward in Teilen verfilmt. Da war ich dann schon in Gießen. Mittelhessen war nie das gewesen, was ich wollte. Aber es ist auch gut so. Geworden. Sehr sogar. Gelegentlich. Auch die nächsten langen 17 Minuten. Durchhaltern und sich dabei freuen. Lebt sie noch? Altersfragen.

…..

…..

Die Jacketkrone oder: „Ich bin kein direkter Rüpel, aber die Brennnessel unter den Liebesblumen.“ (Karl Valentin)

…..

…..

Die Nacht von Recklinghausen / Tragikomödie des Erinnerns in 5 Akten

*

Prolog:

Letzte Woche fuhr ich nach Recklinghausen. Ruhrfestspiele. Hatte mich sehr gefreut. Reise in die Erinnerungen . Die Schattenspiele. Ein auch für mich persönlich besonderes und aufreibendes Jahr betrachten. 1982. Hadere seit einer Woche damit was und wie ich schreibe davon und dann darüber. Die grundsätzliche Frage: Ist Erinnerung nicht stets ein tragikomischer Ringelpiez? Mit oder ohne Anfassen?

*

Erster Akt:

Ich hatte besagtes Spiel alleine gesehen. In meiner damaligen WG am Martin-Luther-Platz. Köln. Südstadt. Schauspielschüler. Warum alleine kann ich nur noch vermuten. Vermutlich stand unsere Premiere bevor. Und unser Regisseur hatte uns Dezenz verordnet. Die meisten Spiele dieser unsere wilden Proben begleitenden WM hatten wir davor gemeinsam angeschaut. Berauscht. Oder ernüchtert. Das Unentschieden gegen Österreich etwa. Algerische Geldscheine fliegen von den Rängen. Deutschland erfindet mal wieder einen Nichtangriffspakt. Man weiß ja wo das endet. Fragt Dschughaschwili. Wenn ich das trügerische Portfolio meiner Erinnerung durchforste, ist natürlich die legendäre 57. Minute noch vorhanden, aber vor allem uns aller Lieblings-Litti, der Fallrückzieher von Klaus Fischer und der heulende Stielike. Dass da ein Breitner mitgespielt hat, habe ich erst wieder letzte Woche erfahren. Und der Schlucksee in der Vorbereitung war natürlich Thema. Wir stießen darauf an. Nachts in den Kneipen, nachdem der Express-Verkäufer uns mit den neuesten Meldungen versorgt hatte.

*

Zweiter Akt:

Ich habe mich nie am deutschen Volkssport namens Bahn-Bashing beteiligt. Die Eisenbahn hat mich stets von der Vorstellung zu den Proben, dann nach Hause und wieder zu neuen Ideen und Bühnen gefahren. Gelegentlich musste ich improvisieren, aber auf der Autobahn kommt man eher selten mit Mitreisenden ins Gespräch. Es lebe der Speisewagen! Jedoch letzte Woche! Gewiss, alte, weiße Nerven liegen blanker inzwischen. Aber, nachdem der Zug ein drittes Mal auf offener Strecke stand, der Bordlautsprecher beharrlich schwieg, kein Getränkeverkauf die Synapsen entspannte, da sieht man nicht mehr rot, sondern? Nein! Nein! Nun gut, ich war früher oft im Pott unterwegs, dachte nimm dann halt die S-Bahn. Dortmund statt Essen. Oder gleich über Wanne-Eickel. Leider da eine Streckensperrung. Dann sprach man wieder mit den Fahrgästen. In Dauerschleife. Technische Störung. Technische Störung. Technische Störung. Ich dachte: reden die jetzt vom Mittelfeld der deutschen Nationalmannschaft der letzten Jahre?

*

Dritter Akt:

Diese Freundlichkeit. Kaum den Fängen der Beförderung entkommen – ist dies die Entschädigung? – offene Menschen. Ein Blumenhändler, der gerade seinen Stand abbaute und mich auf Nachfrage bis zu meinem Hotel geleitete, der Hotelbetreiber, er tut dies nun in siebter Generation, erklärt mir die Stadt und wie und wo ich laufen solle, der Busfahrer Richtung Festspielhaus unterhält, da sein Gefährt noch Behandlung braucht, die Fahrgäste mit Anekdötchen und da ich im Park vor dem Musentempel sitze, auf Einlass wartend, grüßt mich jeder Passierende. Und dann die Dämlichkeit. Die übliche wahrscheinlich. Festspielhäuser stehen wohl auf Hügeln. Nicht nur in Bayreuth. Ich war früh da gewesen. Vor dem Gebäude Buden und Sitzbänke und viel Platz. Ich drehte noch eine kleine Runde im Park. Zurück. Der gesamte Vorplatz nun zugeparkt mit Dickeiermobilen. Die Politik war angekommen. Iss ja eine Premiere. Der offizielle Parkplatz zwar keine Laufminute entfernt. Leibwächter sind wahrscheinlich zu teuer. Inmitten der alten, weißen Schlipsträger – Darf man mit über fünfzig sich eigentlich noch mit Undercut in der Öffentlichkeit zeigen? –   tanzte eine ältere Dame im unvorteilhaften, groß geblümtem (Rosen!) Konfirmantenkleidchen durch die Herren. Die Stimme schrill. Deren Präsenz den Vorplatz dominierend. Kameras: Klick. Klick. Klick. Es war Claudia Roth. Den größten Lacher in meinem Rio-Reiser-Abend kassierte das Ensemble, wenn Rio der damaligen Managerin der Scherben riet, den Rock’n’Roll sein zu lassen und zu den Grünen zu wechseln. Da meine Blase voll war oder ich dies zumindest vermutete, konnte ich mich nicht mehr fremdschämen. Wir nähern uns also ungeduldig dem Einlaß und der Kunst. Habe noch nie einen „Theaterabend“ erlebt bei dem die Schlange vor den Herrentoiletten länger war als bei den Ander*innen. Es ist die Prostataangst, die uns auffrisst. Wahrscheinlich hat auch dies zu tun mit: Erinnerung.

*

Vierter Akt:

Es lässt sich nicht vermeiden. Habe mich bis hier erfolglos um den Kern der Nacht in Recklinghausen herumgetippt. Feigling! Also auf zur Kunscht! Peter Lohmeyer, nicht nur damals nacherzählendes Wunder von Bern, sondern auch ein guter Mime, betritt die Bühne. Raunend. Die Bühne: ein gewollt bescheidener Tisch mit knapp zehn Mikros bestückt. Old School. Keine Werbetafeln. Im Hintergrund zwei Flutmasten. LED bestückt. Da kann man dann die Spielstände einspeisen. Und die Atmo halt. Bisserl Hazer. Für Laien: Nebelmaschine. Der Ton spielt ständig Stadiongeraune ein. Vorspiel halt. Im Hintergrund hängt eine Art von Meisterradkappe. Projektionen braucht es, wo die die Erinnerung schwächelt. Die Bilder zum Text. Die Erklärungen. Lohmeyer fängt an und liest. Der Schwabe Förster schwäbelt. Der Kölsche Schumacher rheinisch oder so. Bayrisch kann er nicht der Peter. Also ist Breitner nicht zu identifizieren. Neben mir sitzt ein Mann. T-Shirt mit Aufdruck: Müngersdorf. Mit über den Waden abgesägten Hosen. Elf Freunde? Man ist schnell im Gespräch. Man kichert rum. Do simmer mr dabei! Die Klimaanlage pustet etwas zu kühl. Dann der Versuch Lohmeyers Litti als Berliner zu gestalten. Weia again! Den damaligen Kommentator  der Fernsehübertragung näselt er indem, wenn der seinen Auftritt hat im Text, seine Hand vor seine Nase hält. Um was geht es? Der Chef des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund hat Zitate von damals Beteiligten zu einer Textcollage zusammen gefriemelt und nennt es Theaterstück. Chuzpe. Lohmeyer jagt durch den Text. Und – weit über 70 % Textanteil – der Einlassungen der Elf der Les Bleus gestaltet er im etwas einfach gestrickten Sound der Achtziger. Entnehmen Sie diesen Züngenschlag dem unten angefügten Leedche. Alle französischen Spieler so leider nivelliert auf eine Witzichkeit. Aber ‚allo! Es ist – für mich – inzwischen unsäglich ermüdend und dennoch ist die Erzählung ergreifend und die Textzusammenstellung liebevoll. Wo war der Regisseur? Gab es überhaupt einen? Die Geschichte ist doch wichtiger als eine vermeintlich unterhaltsame Verpackung. Oder? Was hetzt den gut bezahlten Leser derart durch die Geschichte? Warum sind die ersten drei Reihen von Politiknasen okkupiert? Warum quietscht Frau Roth ständig aus der ersten Reihe rum? Hat sie damals in Fresenhagen mit Rio und Lanrue dieses Spiel gesehen? Darf man Erinnerungen dermaßen billig vergesellschaften? Wo ist eigentlich der Tünn?

*

Fünfter Akt:

Alles hat – dem Schiedsrichter sei Dank – mal ein Ende. Selbst ein Scheißspiel. (Gestern Leverkusen war echt bitter!) Und dann kütt er. Aus dem Hintergrund. Aber nicht so wie einst Netzer. Ein alter Mann isser getz. Wo kommt der jetzt her? Seine Klamotten sehen so aus, als hätte er bis vor Kurzem noch in seinem Kleingarten den Schuppen aufgeräumt. Er braucht seine Zeit bis zum Tisch mit den Mikros. Setzt sich. Lohmeyer rückt zur Seite. Ehrfurcht. Die Ränge jubeln. Frau Roth steht auf. Klick. Klick. Klick. Schuhmacher schlägt einen Collegeblock auf und liest vor. Er liest vor. Ich habe mir im Vorfeld etliche Videos vom Tünn angeschaut. Stets war ich begeistert, wie locker und freudig er in alle Mikrophone dieser Welt gesprochen hat. Und nun sitzt er da, alt an Leib und Seele und seine notierten Erinnerungen wie ein unsicherer Schulbub vorlesend. Es war kein Foul. Hat der Schiri gesagt. Ich war so unsicher. Ich habe Fehler gemacht. Ich hatte einfach nur Angst. Ich hätte wenigstens zu Patrick hin gehen müssen. Aber wenn dann die Gegner durchdrehen. Wahrscheinlich war es das. Hinter mir eine ganze Alterskohorte mit den Trikots der Nationalmannschaft aus dem Jahre 1982 auf dem vorgewölbten Ranzen. Als Schumacher seine sehr bewegenden (natürlich ambivalenten) Worte verlesen hatte, springen die auf. Genauso! Bravo! Als wolle man den Krieg zwischen Deutschland und den Franzosen, der 1982 nochmal aufkochte, endlich zum letzten Sieg umdeuten. Auch Claudia Roth stand. Und neben ihr eine mir unbekannte Kultusministerin aus NRW.  Und dann verbeugte sich Harald Schumacher. Wie oft habe ich als naiver Schauspielschüler die Direktheit des Tünn bewundert, wenn der vor dem Spiel ganz Müngersdorf für sich einnahm, während ich zitternden Knies auf der Probebühne verzweifelte. Und jetzt steht der vorne an der Rampe wie ein Anfänger vor knapp tausend Minsche. Und weiß gar nicht wie man sich so verbeugen tut. Und der Lohmeyer – Schauspieler – tut so, als sei das Festspielhaus Recklinghausen sein Bernabeu. Dann wurde zur Publikumsdiskussion geladen. Die Damen aus der ersten Reihe diskutieren mit dem Intendanten über ihre Fußballerfahrungen. Die Politiker reisen ab. Ich fand eine nette Kneipe in Recklinghausen, des Pottes guter Stube. Beseelt vom Pathos des Verlierers Platini.

*

Epilog:

Am nächsten Morgen fuhr ich wieder nach Hause. Von den erneuten Verspätungen gilt es zu schweigen. Nachhirnen und Bierbüchsen. Ich wusste nicht so recht, ob es sich lohnt wütend zu bleiben. Jeder Text ist ein Kompromiss. Und Erinnerungen bleiben vielleicht lieber privater Natur. Witzbold! Und weshalb wird hier rumgetippt. Gestern las ich, dass die zwei Erinnerer die Veranstaltung auch noch in Gelsenkirchen vorgelesen haben. Zwei Tage später. Hatte ich übersehen. Fehler meinerseits. Meide man besser die Premiere. Eigentlich die letzte Erkenntnis meines Berufslebens. Und jetzt sinn die och noch im Jürzenisch. Ich hann över fünfzich Üros bezahlt. Der Preis sinkt. In Kölle nur noch die Hälfte. Do simmer nit dabei. Verpasst. So ist das mit den Erinnerungen.

…..

…..