Wo ist die Zeit? / Die Fallversuchungen

…..

…..

In zwei Monaten iss schon wieder Weihnachten. Man wird sich vollballern wollen. Also viele von Absturzvisionen Geplagte wollen sich vollballern werden. Oder so ähnlich. Es gab mal ein Vollballern, welches vor den Vollballereien anderer Art bewahren sollte. Das richtige teure todbringende Zeugs. Inklusive böser Rechnungen. Natürlich gibt es dieses Vollballern immer noch, es ist nur nicht mehr so romantisch wie anno längst vorbei bei W.S. Burroughs, Nick Cave, Lou Reed, John Lennon, dem nicht zu füllenden Gefäß Keith und don`t forget Tim Buckley. (Von dem später mal!) Hier nun eine romantische Frühfassung von „Öffne Deine Venen in Gelassenheit!“ zum Hören. Sind wir kurz mal Jesus‘ Sohn. Ok, i forgot Denis Johnson.

*

Nach dem zehnten Entzug kling der Beat anders. Kalter Truthahn oder den Affen schieben. Fehlbar bleiben zu möchten oder es nicht anders können wollen, mögen oder dann schon ganz gern es tun täten, ist, glaube ich, gar nicht so doof. Nur nicht immer so laut. Letztlich wäre wohl selbst Karl Valentin ein Junkie hätten werden können mögen. Wenn er es hätte mögen wollen können. Wie beginnt das Lied unten nochmal? „Ich weiß doch auch nicht, wohin ich gehe.“ Oder gehen werde? „Glaube, ich weiß es nicht!“

…..

…..

Wo ist die Zeit? / Von Gehversuchen

…..

…..

Der Charme der ersten Versuche. Hotelzimmer. Kammern. Durchgesessenes Sofa. Volle Aschenbecher und Venen. Bei aller Naivität, ein sicheres und unbeirrtes Wissen ums eigene Vermögen springt aus den Poren. Seit gestern in meinem CD – Schacht „in schwerer Umdrehung“, wie man so sagen kann: Lou Reeds und John Cales musikalisches Gründungsdokument. Und am Meister BD kam man damals wohl nicht vorbei. Schadet aber auch nicht.

*

Jahre später: Entscheide man selber. Ein langes Leben kann schmerzen.

…..

…..

Wenn des Pudels Kern ein Kranich wäre

…..

Der alte Hut / Lindau / Theatercafe / 8. Oktober 2022

…..

Seit bald drei Monaten bessere ich meine Rente auf, indem ich gelegentlich als Kulturschreiberling arbeite. Ich bemühe mich dabei ein gut und gütiger Mensch zu bleiben, so nicht auf die von mir besehenen Bühnentätigen und – tätigerinnen draufzuhauen. Manchen Zweifel an den betrachteten Darbietungen schlucke ich runter und konzentriere mich darauf, wird der Schalter denn gedrückt, nicht zu heftig auf die Empathiebremse zu treten.

*

Gestern war ich entzückt. Der großartige Christian Baron stellte hier in Gießen seine zwei – Achtung: Wiederholung! – großartigen Bücher „Ein Mann seiner Klasse“ und „Schön ist die Nacht“ vor. Auf dem Nachhauseweg, drüber hirnend, wie ich über das eben Erlebte mit den wenigen mir erlaubten Zeilen berichten soll, hörte ich die ersten Kraniche dieses Herbstes nach Süden ziehen. Finster war es, es regnete und ich sah die Vögel nicht, hörte sie nur. Als klängen die zwei Bücher Barons, die mich entfernt an meine Kindheit und Jugend gemahnten, in mir nach. Ich kramte nach meinem Telefon, um der schon schlafenden Gemahlin per SMS von der Herbstflucht der von uns verehrten Vögel zu berichten, blickte so auf Bildschirm und Fußspitze, als mich ein junger, sehr trunkener Bub anhielt mit den Worten: „Hier! Ich muss mal was fragen! Was ist des Pudels Kern? Wissen Sie das?“ Er schwankte, wollte mir schier um den Hals fallen, seine Begleiterin hielt ihn zurück.

*

Die Kraniche hörte ich nicht mehr, die Ampel am Berliner Platz war auf rot gesprungen, gegenüber grüßte meine alte Arbeitsstätte, das Stadttheater Gießen mit inzwischen dämlich verhängten Fenstern. „DEINS!“ brüllte es mir statt leise sprechender Butzenscheiben entgegen. Ach nee? Was war noch die Frage? „Was ist des Pudels Kern?“

*

Der Teufel sei es, antwortete ich und der Bub, als hätte er erstmalig in seinem Leben einen Leser des FAUST erblickt, wollte mir schon wieder um den Hals fallen. Mit der in Coronazeiten virtuos erlernten GhettoFAUST hielt ich ihn auf Distanz und empfahl ihm, der, wie er sagte, eben im Rahmen seiner ihn euphorisierenden Lektüre bei der „Gretchenerzählung“ angekommen sei, dringendst bei Bedarf mit dem zweiten Teil des FAUST nachzulegen. Da habe er was für den Rest seines Lebens. Auch wenn da nichts drinsteht. Von seinem restlichen Leben.

*

Eine wunderbare Begegnung in jenen Tagen, da ich mir vorgenommen habe, das Weltenrund nach den zarten Anzeichen einer Hoffnung abzuscannen. War jetzt kein schlechter Einstieg, diese Begegnung. Gibt es noch Gründe ein Theater zu betreten? Also für mich nur, `tschulligung! Wenn es mich nicht deppert anbrüllt, gerne. Sonst lesen der trunkene Bub und ich, der auch nicht nüchtern war, uns gegenseitig aus dem FAUST vor.

*

Bevor ich es vergesse. Oben mein Hut, unten ein Pfaffenhütchen. Und unter den Hüten wohnt? Des Pudels Kern vielleicht. Seien wir also gut behütet.

*

Zu Hause dann noch ein letzter Gedanke angeregt durch Christian Baron. Wer fällt denn dieser Tage in den Kriegen? Nicht die Söhne der Akademiker. An der Front werden die Buben der armen Leut‘ verheizt. Immer schon. Der Teufel tanzt nicht sich, sondern die anderen tot. Und wer heizt wem die Hütte? Sind wir auf der Hut. Oder ziehen mit den Kranichen von dannen. Die schlimmsten Hüte sind die Hüte der Pharisäer. Lechts wie rinks. Oder?

…..

Pfaffenhütchen / Lindau / Theatercafe / 8. Oktober 2022

…..

Herbstlachen

…..

Costa del Sol / Konstanz / 11. Oktober 2022

…..

Und wie ich zurückgekehrt

Watte zwischen den Zähnen

Eingeübt Eingeübtes ausspucke

Kein Bild mehr im Portfolio

Zwischen Ausweisen Impfbescheinigungen und

Dem Benutzerausweis der Stadtbücherei

Kein gereimtes Quengeln mehr

Nur mein Kratzen am schuppigen Haaransatz bleibt

Die Trinkerhaut

Ein Reiben ein Schieben

Das Glas in der Hand schwingt singt nicht heute

In der Magengrotte

Das schlingernde Floß

Mühselig die Muskeln um die Knochen schlackernd

Keine Erinnerung an den Tag

Morgen dann vielleicht

Aber zuerst von der Freundlichkeit der Müden

Umkreisen sich nur

Dienen

Keine lauten Volten Funken schlagen

Nicht Manegen bezaubern

Wollen nichts

Auf leiseren Sohlen aber

Die Nägel in die Wand hämmern

Den schwereren Rahmen zu halten bis er verstaubt

Herbstlachen

*

(Gießen / 20. Oktober 2022 )

…..

…..

Kant ist gern Gast im Costa del Sol (KN)

…..

Konstanz / Costa del Sol / 11. Oktober 2022

…..

Unlängst feierte ich in meiner Geburtsstadt – der gerne tümelnde Begriff Heimat sei weiterhin vermieden – diesen Geburtstag, an dem das Leben erst so richtig anfangen soll. Peinlich genug so ein Lied. Hinter unserem Tisch obiges Plakat. Die gute alte hoffärtige Hoffnung blickte gnädig auf unsere Tortillas, die frittierten kleinen grünen (HOFFNUNG!) Paprikas und den Arroz Pepe. Mein Blick glitt hinunter – Bild unten – auf Tische trunkener Jugend und aufgeladener Gespräche. Und links oben winkte der Fernseher – ein aktuelleres Modell, gewiß – auf dem wir gerne mal kollektiv Ernst Huberty schauten. Oder war es doch Heribert Jürgen Furler?

*

Damit ist mein Konto „Früher“ ab sofort überzogen. Bis gestern.

*

Hoffnungslose ziehen statt Nieten mieten

Hoffnungslose ziehen ins letzte Gefecht

Nach lose kommt das Fest

Nach dem Fest kommt es lose in die Hose

Ich heiße Loose und wohne hier

Übers Treiben übern See übern See

Übers Übertreiben als Ausgang aus der selbstgewählten Sackgasse

Ohne zu übertreiben

Weiland

Man kant es auch anders oder ganz und gar oder nichts

Erkenntnisse dann lieber morgens

am Abend

*

Home Haus Wohnung Heimat Herzensgegend Hopfen Hope

*

In den USA ist Hope sogar ein zulässiger Vorname. Mochte ich je so heißen wollen?

…..

Konstanz / Costa del Sol / zwischen jetzt und einst

…..

Der Schwarze Hund: Siegen müssen 19

…..

Bahnhof Grünberg / Kurz vor Mitternacht / 10. September 2022

…..

Da wird dieser Tage Luis Enrique, der Trainer der kickenden Spanier, zitiert. Sie hatten gerade den inzwischen hüftsteifen CR 7 inklusive Erzkonkurrent Portugal mit Achen und Krachen besiegt in einem – den Fußball neudefinierenden? – Wettbewerb namens Nations League. Weia! Was hat er noch gesagt? „Es ist ein wunderbarer Sport und ein Sieg ist das beste Mittel gegen jede Traurigkeit!“ So übersetzt es die deutsche Medienwelt. Im Original sprach er nicht von der Traurigkeit, sondern von der Depression.

*

Er benennt so präzise die Fehlschaltung im Hirn der von den Schwarzen Hunden begleiteten Wesen. Ohne es wohl zu wissen. Oder vielleicht doch, fortgeschwemmt vom erhebenden Augenblick. Dieses kurze Schnuppern am Momentum Sieg hat aber meist keinerlei Wirkung bezüglich ersehnter innerer Ruhe. Der neue Morgen schreit schon wieder nach einem nächsten Sieg. Was immer das auch sei: Siegen. Man ahnt die Sinnesleere dieses Begehrens, blickt man in den Spiegel. Wahrscheinlich reiben sich deshalb so viele Buben und Männlein wollüstig an Bayern München wund und suchen sich folglich Vereinslieben aus, welche ständige Niederlagen garantieren. Eventuelle Siege lassen dann fliegen. Bis zur Rückseite des Mondes. Nicht aber stets zurück.

*

Nein, Fußball schauen kann nicht nur sehr traurig machen dieser Tage, sondern tatsächlich depressiv. Hände weg also von der Fernbedienung und den erwarteten Siegen in Katar und sonstwo. Licht aus und Rasen kalt werden lassen. Wobei: das erledigt sich wohl von selbst.

*

Mein schwarzer Hund lässt mich zurzeit in Ruhe. Er fordert nichts. Außer auf Siege zu verzichten. Wo er Recht hat. Ähem! Ansonsten liegt er unterm Küchentisch und freut sich, wenn ich was koche. Wenn ich ihn frage, ob ein gelungenes Gericht unter Sieg abgebucht werden darf, gähnt er nur, zeigt seine Lefzen und lässt den Abend unter seinem müd zuckenden Schweif ausklingen. Wie man so sagt, wenn man schon auf dem Sofa eingeschlafen ist. Oder?

*

Wenn er wieder aufwacht, gehen wir spazieren. Ohne Leine. Ich lass ihn laufen. Der macht eh was er will, der Hund. Jetzt hier Pause in seiner Sache. Den leeren Bahnsteig genießen. Bis der nächste Zug vorbeikommt. Das Licht brennt noch. Hell genug.

…..

…..

(Gießen, 30. September 2022 / Von der Depression / Eine Art Tagebuch)

…..

Der Schwarze Hund: Kettenkarussell 18

…..

Briefkästen und Türe / Grünberg / 10. September 2022

…..

Dass der Schwarze Hund ein grauenhafter Egoist ist, es wurde, wenn ich mich nicht irre, hier schon erwähnt. Sicherlich: es ist ein Leiden, es ist eine Krankheit, wenn der Schwarze Hund dir nicht mehr von der Seite weichen will und dich an seiner Leine um die Teiche zerrt, aber es ist leider meist auch nur ein unseliger Rundweg, den man absolviert. Manchmal musst du hundertmal mal am selben Strauch vorbei, hundertmal über dieselbe Bordsteinkante stolpern, hundertmal in den letzten Haufen deines Begleiters treten, bis dir schwant, dass du Passagier eines Kettenkarussells bist und kein Karussellbremser da unten in der Kabine sitzt, sondern dass du selber Bremser, Karussell und Passagier in Personalunion bist. Kein höheres Wesen wartet ungeduldig darauf dich auf Grund deiner vermeintlich grandiosen Besonderheit zu retten.

*

In den düsteren Momenten an der Seite des Hundes bist du leider nicht in der Lage zu begreifen, dass du, außer du sitzt in Einzelhaft, nicht gänzlich alleine bist. Da ist einer, eine, manchmal mehrere, die dich auf den täglichen Runden begleiten. Du starrst auf deine Schuhspitzen und den Nabel und die Kreise werden enger, zu eng. Das Tempo der Drehungen schraubt sich in gefährliche Höhen und so vermag der ein oder andere Begleiter nicht mehr mitgehen. Dann ist es besser den Blick zu heben. Nach rechts zu schauen und nach links. Und nachzusehen, ob deine Briefkästen noch ihre Funktion erfüllen. Vielleicht modern darinnen Briefe, Mitteilungen, die raus zu fischen und zu lesen, mehr als hilfreich sein kann. Das schont auch deine Begleiter. Gib auf sie acht. Das flüstert sogar der Schwarze Hund. Er ist zwar ein fürchterlicher Egoist, aber er ist nicht dumm.

*

(Gießen, 29. September 2022 / Von der Depression / Eine Art Tagebuch)

…..

Des Schwarzen Hundes Mühe: Liebe 17

…..

Grünberg / Gerichtstrasse (sic!) / 10. September 2022

…..

„Größe hat etwas mit der Fähigkeit zu tun, Leid auf sich zu nehmen. Ob mit Lachen oder ohne, das weiß ich nicht.“, schreibt mein momentaner Lieblingsautor Bernd Wagner. (Verlassene Werke!) „Ich wünsch‘ Dir Liebe ohne Leiden.“, sang der ewige Udo Jürgens für seine Tochter.

*

Das mit der Größe und dem Hohelied auf das Leid ist so eine Sache. Je heißer das ungebremste Feuer ist, mit dem du dich auf ein begehrtes Objekt zubewegst, umso weniger bleibt – dies ist die Gefahr der Höchsten Minne – von deinen Liebeskarren über am Ende der Strasse. Bevor du vollends auseinanderfällst, bist du nur noch Chassis. Haut und Knochen. Die Wiedereinrichtung des Gefährts ist teuer und kostet nicht nur einiges an Geld, sondern auch Zeit. Und viele Runden mit dem Schwarzen Hund um den Teich im Stadtpark, den Blick auf die eigenen Schuhspitzen gerichtet. Bleibt zu hoffen, dass der wieder instandgesetzte Motor noch ins alte Chassis passt und dieses sich in der Hitze des verlorenen Gefechts nicht allzu sehr verzogen hat. Da hatte ich viel Glück gehabt.

*

Was war zuerst da? Die ewige Flucht? Oder der Schwarze Hund? Es ist Huhn wie Ei und vollkommen wurscht. Wenn ich nicht in der Lage bin, von dem zu leben, was ich naiv erträume, ernähre ich mich von dem, was ich kann. Besser wohl! Auch wenn – nochmal Wagner – behauptet werden kann, komme das Herz zur Ruhe, bedeute dies auch Stillstand des Hirns. Wie oft wünsche ich, mein Hirn würde endlich mal die Schnauze halten. Vor allem in der Nacht. Grübeln ist kein Denken.

*

Manchmal kommt man mit dem Schrecken davon. Also mit dem Schrecken. Der Schrecken verharrt nicht am Ort des unglücklichen Geschehens. Er springt in deine Manteltaschen – Es war Winter! – und tritt dir gelegentlich gegen die Hüfte. Jetzt hängt der Mantel im Schrank. Bald muss ich in wieder rausholen. Gelegentlich rappelt es im Schrank. Manchmal erschrecke ich dann. Meist wenn ich mir sicher war, vergessen zu haben. Das kannst du vergessen.

*

Das Schlimmste war und ist immer wieder die manchmal tagelange Abwesenheit des Lachens. Dann versuche ich wenigstens zu schmunzeln über das Leid, das eigene. Und versuche, die die liebt, nicht mit ins „valley below“ zu ziehen. Denn der Schwarze Hund mag eigentlich kein Selbstmitleid. Seltsamerweise fordert er Klarheit ein!

*

Raus jetzt! Um den Teich. Indianersommer. Mit oder ohne Schmerz. Hough!

*

(Gießen, 21. September 2022 / Mittags / Von der Depression / Eine Art Tagebuch)

…..

Des Schwarzen Hundes Mühe: Ebene 16

…..

Bahnhof Grünberg / 10. September 2022

…..

Das mag er gar nicht der Schwarze Hund, ruhig, gemessenen Schrittes, geradeaus gehen, Ebenen. Gipfelglück! Drunter macht er es nicht. Und dann da oben? Kurzes Verweilen und schon wieder weiter. Zum nächsten Gipfel geht es erst mal runter. Das geht auf die Knie. Und auf’s Gemüt manchmal. Was spricht gegen das Gleichmaß der Ebene? Wahrscheinlich das Loch, das unersättliche, in welches du gemeinsam mit dem Schwarzen Hund blickst, dieses Loch, welches mit nichts zu stopfen ist, da alles, was du in dieses Loch stopfst dir im Moment des Reinquetschens schon wieder sinnleer erscheint. Nur auf den Anhöhen, nur in der Nähe des ständigen Kicks scheint zu warten, was an Bestätigungen benötigt, herbeigesehnt. Das dann aber annehmen zu können, gelingt oft nicht. Der nagende Selbstzweifel und der Schwarze Hund kläffen in die schlaflose Nacht: „Das hast du eh nicht verdient!“

*

Ich kenne Menschen, die befällt, stehen sie auf flachem Land und können uneingeschränkt in alle Himmelsrichtungen blicken, kilometerweit und sehen nichts als Horizonte, eine regelrechte Panik. Keine Hügel an denen sich das Auge festhalten kann, lediglich der riesige Himmel, der alles oder nichts verspricht und der ständige Wind, der aus der Vergangenheit in die Zukunft bläst und die Grashalme tanzen lässt. Diesen Höhenjägern kommt das Wandern über die Ebenen einem steten Abstieg gleich.

*

Was ist dies für ein Loch? Der Eingang zum Hades? Vor bald zehn Jahren wateten wir den Acheron hinauf, wir wateten flußaufwärts in Richtung einer Höhle aus welcher der Fluß tritt und wo die Griechen einst den Eingang zur Unterwelt vermuteten oder besser gesagt verorteten. Das Wasser war eisig und es benötigte einige Versuche bis sich Füße, Waden und der Kreislauf an diese Temperatur gewöhnt hatten. Eine gute dreiviertel Stunde kämpften wir uns vorwärts, immer wieder unterbrochen von die Füße wärmenden Pausen auf den erhitzten Steinen am Ufer, bis wir an eine Stelle kamen, wo die Schlucht sich verengte und der Acheron schlagartig an Tiefe zulegte. Meine Frau wollte nicht mehr weiter, doch mich trieb es vorwärts. Als mir das eiskalte Wasser bis zum Hals stand, gab ich auf und drehte um. Bis zum Eingang der Höhle hätte man noch ein ganzes Stück schwimmen müssen. Vielleicht ist dies der kalte Schauer von dem man spricht, tippt einen der Sensenmann auf die Schulter. Charon musste noch auf mich warten. Auf der Fahrt den Acheron entlang Richtung Meer und seiner Mündung begannen unsere Füße zu glühen. Lebenshitze.

*

Möglicherweise gilt es gar nicht das unersättliche Loch zu fühlen. Möglicherweise reicht es aus von ihm zu wissen. Möglicherweise ist ein Starren in eine Leere auch die Möglichkeit ein geduldiges Warten zu erlernen. Oder wie Meister Tabori einst sprach: „Warten ist die wahre Zeit!“ Der Tod kommt von alleine. Man braucht ihm nicht entgegen jagen.

*

(Gießen, 21. September 2022 / Nachts / Von der Depression / Eine Art Tagebuch)

…..

Wo ist die Zeit? / Falls ich es erinnere

…..

Nein, nicht Schabbach 1952 , sondern Altstadt Grünberg / 10. September 2022

…..

Ab einem gewissen Alter hat man unweigerlich das Gefühl, die Zeitung füllt sich nur noch mit Nachrufen und Todesanzeigen. Nicht dass plötzlich mehr gestorben wird als sonst, es sind halt Menschen, die Erinnerungen entweder mit sich tragen oder auszulösen in der Lage sind, mögen sie fern sein oder näher bis ganz nah. Also die Menschen und die Erinnerungen. Man hat das Gefühl sich umdrehen zu müssen und schon fängt es an: was bitte ist denn nun erinnert?

*

Tja, die Erinnerung – folgende Gedanken angeregt durch Edgar „Heimat“ Reitz – was ist das? War es denn so, falls ich mich erinnere, erinnern kann, erinnern will? Oder war es so, wie man mir erzählte, dass es gewesen wäre oder hundertprozentig und nicht anders derart stattgefunden hat? Gute alte Freunde und sehr gerne auch Familienmitglieder neigen zu letzterer Lesart. Oder hat sich die Erinnerung entlang meiner Entwicklungen, Verwicklungen, Erfahrungen und Erkenntnisse auf dem Lebenspfad geformt? Neige ich dazu 1001 Nacht als dramaturgischen Berater heranzuziehen oder Exxeltabellen? Tagebücher oder eine durchwachte trunkene Nacht? Ist mir der Lacher der Zuhörer wichtiger als der Verbleib auf dem halbwegs korrekten Erinnerungsweg? Geht es lediglich um mein Leben, ist dies wahrscheinlich eh wurscht. Doch wie, wenn man zum Beispiel in gemeinsamer Runde, versucht sich eines anderen zu erinnern?

*

Las heute in einem der vielen Nachrufe der letzten Wochen einen guten Satz: „X ist tot. Es ist, als hätte man einen Baum gefällt!“ Ein schönes Bild. Wenig schmerzt mich mehr als der Anblick eines – meist sinnfrei – frisch gefällten Baumes. Ich denke, man kann letztlich nur Bilder erinnern. Vielleicht versuchen diese dann zu beschreiben. Man sollte sich hüten sie zu deuten oder gar zu interpretieren. Aber das ist nicht so einfach.

*

Seit 10 Tagen nun kann man sich Tag und Nacht beschießen lassen mit Erinnerungen an die tote Königin. Dabei geht es wohl gar nicht um diese Person, sondern um ein Abstraktum, ein Stück imaginierter Beständigkeit, fast Ewigkeit, unverbrüchlich kollektive Erinnerung, Heimat vielleicht. Doch wo ich so etwas wie Heimatliebe eher im Privaten, gar im Stillen ansiedeln würde, scheint mir öffentliches Erinnern nicht anderes als ein nerviger und viel zu lauter, in den letzten Jahren mehr und mehr wuchernder, Zugehörigkeitsfanatismus zu sein.

*

Für den herrlichen Ausdruck, den ich gerne hier wiederholend tippe, Zugehörigkeitsfanatismus, danke ich ebenso Edgar Reitz.

…..