Ich habe sie bezahlt, meine 9 Euro / Dafür will ich aber auch den vollen Service / Fangen wir wieder an zu rauchen 02

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Oppenheim / Am Rheinufer / 7. September 2006

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Ist ja so eine Sache mit dem sogenannten Preisleistungsverhältnis. Und der Verführbarkeit. Die Billigangebote nutzen müssen oder wollen, möglichst wenig selber investieren können oder auch wollen und bei Nichtgefallen kostenfrei alles zurück. Diese Schuhe waren mir ein Irrtum. Und überhaupt. Die Rechnung zu begleichen wird zum Fremdwort. Dienstlich. Privat. Und sonst noch wo. Nennen wir es Leben und Lieben und Handeln nach Art des Hauses Zalando. Ich hab ein Recht auf Ryan – Air, mein Leben isch halt au so schwer. Meine volle Solidarität in den nächsten drei Monaten und darüber hinaus allen Zugbegleitern und Zugbegleiterinnen. Und jenen, die bereit sind auch über Zinsen nachzudenken. Oder gar Zinseszinsen.

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RAUCHPAUSE / Teil 02

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(mit oder gegen Ende des Textes vom Band beginnt der Mann zu sprechen)

Ich geh da nicht mehr rein. Rein. Raus. Tür auf. Tür zu. Was das kostet.  Heizung. CO2 ohne Ende. NSRG. Wenn das mal gesund ist. Und außerdem: Die können mich alle mal. Diese Weicheier. Feiglinge. Nachtragendes Scheißpack. „25 Jahre haben wir unter Dir gelitten. Jetzt bist Du dran. Sei ein Mann, klage nicht und friere.“ Oder: „Wieso? Ist doch spannend. Wie früher. Draußen am Lagerfeuer. Nimm es sportlich.“ Nee. Und da drinnen: Die zählen einem jetzt jede einzelne rein. Früher wurde das gar nicht bemerkt. Jetzt: „Oh, mußt Du schon wieder. Jetzt ist grad so nett. Du bist aber ungemütlich.“ Selbst der Hansi: „Jetzt bleib halt mal. Keine Selbstbeherrschung. Solidarität mit der schützenswerten Kreatur heißt das Gebot der Stunde, alter Genosse.“ Und dann blöd kichern. Der Hansi. Früher. Wir zwei. Schon morgens um sechs, aber volle Kanne. Und kein so Weicheierzeugs. Die „rote Hand“ und der „schwarze Krauser“ waren unsere Kampfnamen. Na ja. Und wie das jetzt stinkt da drin. Das hat man ja sonst gar nicht mitgekriegt früher. Jetzt riecht plötzlich jeder anders. Also riecht jetzt überhaupt. Plötzlich fällt dir nicht nur optisch, sondern auch quasi nasal auf: da sind andere Menschen. Ich komm mir plötzlich vor wie ein Hund, der an jeder Ecke die hinterlassenen Kommunikationsangebote seiner Artgenossen riecht. Man sagt ja, wir Raucher hätten durch jahrelangen Mißbrauch unser Riechorgan irreversibel zerstört. Vergiß es. Ich bestehe zurzeit nur noch aus Nase. Überall Düfte, Ausdünstungen. Odeur. Das ist schon gewöhnungsbedürftig. Von rechts kommt was – so Afterwork-Stress-Odeur. Schweiß. Schweiß. Schweiß. Riecht so nach: „Heute hat mein Chef mich wieder fertig gemacht.“ Und von links: „Ich habe mich noch schnell frisch gemacht.“ Duschgel, Marke Waldbeere, Vanilla oder Granatapfel. Ja sitze ich in einer Kneipe oder gehe ich im Botanischen Garten spazieren? Von gegenüber Hustenbonbons mit japanischen Heilpflanzenöl. Olfaktorischer Terror ist das. Und überhaupt: Parfüm. Weshalb Leute sich eigentlich parfümieren? Weil die sich selbst nicht riechen können, also nicht im übertragenen Sinne, sondern buchstäblich. Im Gegensatz zu mir haben die offensichtlich keine Nase.

In Kanada gibt es jetzt eine Bürgerinitiative gegen Parfüm. Jawohl, in Ministerien und Institutionen darf keiner mehr Parfüm tragen. Offiziell wegen Asthma und Allergien. Das stimmt. Sollte man hier zu Lande auch mal drüber nachdenken, anstatt uns zu Outcasts zu stempeln. Vor kurzem, gestern, war ich essen. Ich sitz beim Italiener, richtig gut und teuer und da kam so eine Frau rein mit so einem scharfen japanischen Duftwasser auf der Haut. Ich weiß jetzt nicht, ob ich in zehn Jahren Nasenkrebs krieg davon, aber kotzen hätte ich können. Ich bin raus. Sofort. Ich zahl doch nicht mehr als 20 € für was wirklich Gutes und schmeck nichts mehr, weil ich nicht mehr atmen kann. Das war schlimmer als eine zwanzig Zentimeter lange Cohiba. Ich bin raus an die „Frische Luft.“

Mein Vater, Kriegsteilnehmer. Der ist nur raus, wenn er unbedingt mußte. Er sagte immer: „Ist noch keiner erstunken, aber schon viele erfroren.“ Die frische Luft, das ist ja jetzt das Ding. Plötzlich überall frische Luft. Endlich wieder. Freie fromme und fröhliche frische Luft. Soviel kann ich gar nicht einatmen.

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(Gießen / Spätherbst 2009 / to be fortgesetzt)

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Der rechts überholende Radfahrer / Vom Zustand der untergehenden Res publica / Fangen wir an zu rauchen 01

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Stadttheater Gießen / Hinterausgang / Sommer 2008

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In letzter Zeit bin ich nicht wöchentlich, aber eigentlich täglich mit einem neuen Phänomen konfrontiert. Nennen wir es: der rechts überholende Radfahrer. Kann sich da aber auch – oft sogar -um einen weiblichen Menschen handeln. Jedenfalls fürchten die diversen Radbeweger wohl, daß, überholen sie gemäß StVO den vor Ihnen Herfahrenden linkerhand, von linkerhand ihrerseits ein böses Auto ihnen zu nahekommen könnte. Und da die Gefahrenabwägung immer beim Ego landet, rauschen sie dann – klingeln ist verpönt, weil aggressiv oder so – rechts an Dir vorbei. Dämlich.

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Ich habe die unselige – oder selige? – Angewohnheit aus grassierenden Alltagsgewohnheiten gesamtgesellschaftliche Schlüsse zu … ähem … behaupten. Was ich sagen will? Sich nicht selbst den Gefahren aussetzen wollen, die Verantwortung weiterreichen und wenn der Depp sich erschrickt, den ich rechts überholte, obwohl von links her der Laster erst morgen eventuell an mir vorbeigefahren wäre, dann: selber schuld Du Dino.

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Dachte heute, ob ich vielleicht wieder anfangen sollte zu rauchen. Blöde Idee natürlich. Warum auch? Nun: die rechts überholenden Radfahrer haben mich auf die Idee gebracht. Die Risiken namens Leben mal wieder selbst übernehmen. Links überholen. Der LKW ist nicht schuld. Mama nicht. Papa nicht. Noch nicht mal Du selbst. So ein paar unschuldige Regeln sind nicht gleich Guantanamo. Wenn ich mir auf den Finger haue, ist der Hammer nicht schuld. Und schon gar nicht der Nagel. Verklage halt den Baumarkt.

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Habe vor Ewigkeiten mal ein Theatersolo zu diesem Thema geschrieben. „Rauchpause oder der Sieg der langen Unterhose“ nannte ich es. Werde das jetzt hier in lesbaren Portionen servieren. Weil es mir gefällt. Und weil ich zu faul bin was Neues zu schreiben. Und wenn Sie demnächst ein Fahrradfahrer von rechts überholen sollte: ich war es ganz gewiß nicht.

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RAUCHPAUSE / Teil 01

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(Wir befinden uns im Hinterhof einer Kneipe. Nach Einführung des NRSG. Ein Mann tritt auf. Er hat viel an, sehr viel. Stellt sich an einen Rauchertisch, der wiederum in einem gelben Quadrat steht. Wartet. Raucht. Während er die erste Zigarette konsumiert läuft vom Band – mit der Stimme des Schauspielers – folgender Text:)

Ich saß am Ufer eines Baggersees, ein milder Spätsommertag neigte sich dem Ende zu. Auf dem Wasser zog ein Schwanenpärchen seine Bahnen, die sinkende Sonne färbte den Himmel ein und Flugzeuge malten weiße Kreuze ins Firmament. Ich lehnte zusammen mit meinem Fahrrad an einem Baum und zündete mir eine an, als mich schlagartig das körperlich spürbare Gefühl überfiel, beobachtet zu werden. Ich drehte mich um und sah wie ein kleines Männlein im Rollstuhl mit hektischen Ruderbewegungen im nächsten Gebüsch verschwand. Sobald ich wieder nach vorne schaute und an meinem Stäbchen zog, kam er wieder aus dem Gebüsch gefahren und fummelte hektisch an einem überdimensionalen Handy rum, dem grässlich laute Piepstöne entwichen. Die Schwäne auf dem See begannen plötzlich aufeinander einzuhacken, sich gegenseitig zu verletzen und sie bluteten gelbes Blut. Damit malten sie kleine Vierecke auf das Wasser des Sees. „Zugriff!“, schrie auf einmal das Männlein in sein Mobiltelefon und am Himmel erschienen sieben ferngesteuerte Helikopter, die – als sei dies ein monströses Hütchenspiel – begannen gigantische Plexiglaskegel vom Himmel zu werfen, offensichtlich in der Absicht, mich damit einzufangen. Ich versuchte zu fliehen, doch als ich mein Fahrrad besteigen wollte, um wegzufahren, schrie dieses mich an. „Sünder! Pestbeule! Oraler Knecht.“ Dann bewarf es mich mit überfüllten Aschenbechern und fuhr wiehernd davon. Ich blickte nach oben und sah nun wie einer dieser Plastikkegel ganz langsam auf mich zu schwebte. Er rotierte dabei leise um die eigene Achse, von einem Summgeräusch begleitet, das wie der Gesang asiatischer Mönche klang. Angewurzelt blieb ich stehen, ich hörte das Blut in meinem Schädel pochen und wie der Deckel einer Senftube schraubte sich der Kegel über mich und in die Erde. Gefangen. Schlagartig spürte ich, wie mir die Luft wegblieb und ich begann zu schwitzen. Verzweifelt strampelnd versuchte ich meine drei langen Unterhosen abzustreifen, die aber jedes Mal, wenn ich sie bis zu den Knöcheln runtergezogen hatte, sich wieder aufrollten und mit der Stimme meiner Mutter zu mir sprachen: „Ich verstehe Dich einfach nicht. Warum setzt Du Dich immer solchen Situationen aus?“ Ich versuchte zu argumentieren, ich hätte ja wohl nicht mit den Helikoptern angefangen, als das Männlein begann wie wild von außen gegen das Plexiglas zu treten und zu spucken. Dabei drückte es grinsend auf den roten Knopf einer gigantischen Klingel, die an seinen Rollstuhl befestigt war. Der Himmel hing voller Teebeutel, zwischen denen die sieben Helikopter so etwas wie Fangen spielten. Die Schwäne schwammen nicht mehr, sondern steppten jetzt übers Wasser und mein Fahrrad – inzwischen zum Rappen mutiert – hatte eine kalte Cohiba im Maul und wieherte dabei lustig vor sich hin. Ich erwachte.

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(Gießen / Spätherbst 2009 / to be fortgesetzt)

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Rückkehr der Situationisten / Mit Essen spielt man nicht / Tod der Grinsekatze

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Tambach – Dietharz (Thüringen) / 5. Oktober 2011

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Ein junger Mann, vierundzwanzig Jahre alt, steht an der Kasse des Louvre. Paris. Er möchte die Mona Lisa sehen. Er bewundere ihr zeitloses Lächeln. Sagt er. Überzeugend. Er gibt an, er könne nicht mehr laufen, er leide unter multipler Sklerose und anderen schweren bewegungseindämmenden Krankheiten. Er seufzt. Schwer. Die verständnisvolle Kassiererin stellt ihm, nach telefonischer Rücksprache mit der stellvertretenden Museumsleitung, einen Rollstuhl zur Verfügung. Er ist nicht Alexander Zverev. Oder doch?

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Korrektur: der junge Mann ist eine junge Frau. Zumindest optisch. Eine Langhaarperücke macht ihn zur Frau. Unter der Perücke lagert der junge Mann Wurfgeschosse. Madeleines? Puddingteilchen? Eine Schwarzwälder – Kirschtorte? Donauwellen? Gefüllte Krapfen? Windbeutel? Pralinen?

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Das junge Wesen wird im Rollstuhl vor Leonardo da Vincis gemalten Smashhit gerollt. Er greift unter seine Perücke und feuert die Backwaren mit aller Wucht gegen das Gemälde. Er schreit: „Denkt an die Erde! Es gibt Menschen, die dabei sind die Erde zu zerstören! Hört auf zu grinsen!“ Man stürzt sich auf ihn und führt ihn ab. Er schreit weiter. Keiner hört ihm zu.

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Die Grinsekatze Mona Lisa ist unter dickem Plexiglas verborgen und geschützt. Ihr silberäugig schielendes Grinsen, welches kein Lächeln ist und seltsamerweise von großen Teilen der Menschheit als Ausdruck gelebten Optimismus interpretiert wird, nimmt keinen Schaden. Schade.

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Ist dies die Rückkehr der Phantasie? Gar der Situationisten? Die Rückkehr eines Teufels namens Fritz, der einst den Vizepräsidenten der USA mit Pudding attackierte und ein verklemmtes Land in hocherigierte Konvulsionen versetzte? Provokation jenseits der Benzinpreise?

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Meine liebste Meldung seit Ewigkeiten. Natürlich wird der junge Mann polizeilich und medial zum psychisch instabilen Depp erklärt. Meine Sympathie hat er. Wer den Grinsekatzen und Grinsekatern dieser Welt entschlossen entgegentritt, kann nicht nur blöd sein. Ganz im Gegenteil.

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Wo ist die Zeit? / 1. FC Delius / März ’88

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Friedrich Christian Delius / In den späten Sechzigern / geklautes Photo

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Münster im Jahre 1988. Wir wussten alle nicht, daß die BRD bald Geschichte sein würde. Es war ein sehr warmer März. So eine Art Vormärz des Wandels. Wir probten ein Vier – Männerstück. Waschtag. Ich gab (was für ein bescheuerter Theaterausdruck!) die oberste Nazi – Jugend – Tucke Baldur von Schirach. Der Autor und sein Freund / Lektor / Verleger – ich erinnere es nicht mehr präzise – waren in den letzten zwei Wochen vor der Premiere vor Ort. Der kürzlich verstorbene Friedrich Christian Delius. Ein ruhiger, freundlicher, nie laut auftrumpfender Mann, der uns den ein oder anderen Fingerzeig gab, aber vor allem mit Freude und respektvoller Distanz zusah, wie wir mit großem Spaß, Hingabe, gelegentlichem Streit (und das mit … ähem … darf man das heute noch sagen ohne einen Haschischtag oder wie das heißt an den Hals gemailt zu bekommen … sogar durch den Probenraum fliegenden Stühlen) versuchten sein Stück auf die Bühne zu setzen. Wir wuschen Bettlaken, wrangen sie aus, mangelten sie, bügelten sie, falteten sie. Von Mann zu Mann. Alles live und in Farbe und mit echtem Wasser und Waschpulver. Und eine Miele spielte auch mit. Inklusive Schleudergang.

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Wo sich viele Herren treffen ist das Ritual nicht fern. Also wechselten wir zwischen den Proben stets die Straßenseite und aßen vis a vis vom HBF Münster, wo sich damals das Wolfgang Borchert Theater befand, bei einem Stehitaliener unsere Pizza und einen kleinen Vino Rosso gab es auch dazu. Den beglich gerne der Autor. Über das Theaterstück oder die Weltlage sprachen wir dabei selten. Wie schon das Namenskürzel F.C. Delius vermuten lässt: genau, stundenlang über den Fußball. Ich war damals noch, in Köln wohnend regelmäßig zu Gast im Müngersdorferstadion. Der große Toni Schumacher war zwar eben – ne, wat wor et lächerlich – wegen seiner literarischen Ersterscheinung rausgeworfen worden – aber der Kader war durchaus noch illuster. Fanden wir alle. Und nach Gründen zu suchen, warum dat unter Daum mit der Meisterschaft nie klappen würde: das füllte der Herren Mittagspause in Gänze.

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„Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“ Der Gedenkstein des Erinnerns schlechthin für unsere inzwischen verstorbene Republik, die sich damals aus dem Hintergrund zurück in die freie Welt schoß. Jahre nach unserem Zusammentreffen beschenkte F. C. Delius sich und uns mit dem schönsten Fußballbuch aller Zeiten. Ich habe es, glaube ich, mindestens fünfmal gekauft und besitze es nicht mehr, weil ich es stets weiterverschenkte. Ich war 1954 minus 2 Jahre alt. Oder plus 2 Jahre jung?

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Man zählte und zählt in den obligatorischen Rückblicken Delius zu den 68ern (Gab es die überhaupt?), aber attestiert ihm immer diese distanzierte Draufsicht. Das ist wohl die Aufgabe der Chronisten, hinschauen und nicht, was man so sieht, wenn man schaut, mehr oder weniger gewalttätig in sein eigenes, mühsam erworbenes Weltbild reinzuschustern. Fällt mir noch ein: Schuster, einer der besten und verrücktesten Kicker überhaupt! Aber das führt jetzt zu weit, war aber oft Thema bei der Mittagspizza! Eigentlich waren wir aber alle Anhänger der unglaublichen Eleganz des Klaus Allofs.

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Und einen Skandal hätte ich auch noch zu vermelden. Unser Bühnenbildner Bob (Nachname ist mir verdementet) schuf ein wunderbares Plakat. Das Logo der Nazis an einer Litfaßsäule, halb heruntergerissen – waren es wild gewordene Jugendliche oder nur der Regen? – und dort wo das Hakenkreuz schlapp in der Luft hing, erschien drunter das Logo von Coca – Cola, den Rettern der Demokratie und den Erfindern des Weihnachtsmannes. Wer glaubt, wird beschenkt. Das war die böse Idee. Und die Farben? Tja. Rot Weiß Schwarz. Eine emotionale Kombination. Dummerweise war die damalige (vielleicht noch heute) Gefährtin unseres Regisseurs und Intendanten die Tochter des Chefs von Coca – Cola NRW. Aber lesen Sie selbst.

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Ich denke gern an die Jahre in Münster zurück. Letztes Jahr war ich kurz mal wieder dort. Und nach dem Baldur von Schirach spielte ich … quatsch … gab ich den BAAL. Der nächste Aufruhr zu Münster. Davon demnächst.

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Antiquariat Michael Solder / Münster (Westfalen) / Mein rechter Daumen / 17. Juni 2021

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Unter der Leichendecke der Buchstaben weiteratmen / E viva Remontada

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Manchmal sind mir die Worte alle zuviel. Die ganzen Worte, die ich täglich inhaliere. Oder auskotze. Im Park liegen lasse. Einer Liebsten unter die Matratze schiebe. Einem Nervtöter auf die Stirn küsse. Diese Buchstaben, die Tag und Nacht auf mich einprügeln und die ich mit beidhändiger Rückhand übers Netz in die andere Spielhälfte der Welt „dengele“, eine Stille nicht ertragen könnend. Wie ein Kind vor mich her plappernd. Wie ein seniler Tourettist geräuschvoll ausatmend alle scheinwichtigen Gedanken.

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Las gestern ein sehr schönes Interview mit Armin Müller – Stahl. Er sprach davon – er pendelt zwischen der Ostsee und den Vereinigten Staaten und so falle ihm so etwas eher auf – wie sich seine Sprache, die nun mal die deutsche ist, ständig verändert, neue seltsame Worte in Mode kommen, plötzlich aufgeladen mit Bedeutung und daß dies manchmal Schmerzen bereiten könne. „Nachvollziehen“ zum Beispiel nennt er. Das Wort sei doch scheußlich. Schön. Kann ich wiederum nachvollziehen.

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„Wörter bleiben stumm und friedlich / obschon ihr Inhalt weggeflogen / Schlagen um jedoch wie Wetter / werden bös, gemein, brutal, verlogen. / Kommen aus dem Hinterhalt / schleichen, loben, lügen, richten. / Doch was sie in Wahrheit wollen, ist dich und deine Kunst vernichten.“

(A. Müller -Stahl)

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Gestern hat Toni Kroos ein Interview abgebrochen. Schön zu sehen, wie er die Hände vor sein Gesicht hält, (ge)sichtlich unter den Worten des slomkaesk gescheiten ZDF – Reporters leidend. Weil der Frager nicht kapierte, wie wichtig die „Remontada“ ist. Das Zurückkommen. Nicht die herbei phantasierte Überlegenheit kann sein Dein Ziel. Ich mochte den Trainer der alten und weniger offensiv frisierten Männer aus Spanien, der ohne Zähnefletschen und berufsjugendlicher Kappe seine Kicker gelassen ins Ziel coachte. Und sehr viel weniger Worte benutzte. Danach dann sogar.

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Manchmal düngen die Worte den Acker, oft lassen sie alles was dort wuchs oder noch wachsen wollte, verdorren. Jedoch: Wird Schweigen jemals mein Gemüse sein? Gehe jetzt mal im Gedankenschrank nachschauen.

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Armin Müller – Stahl hat im Alter den Worten abgeschworen. Er malt. Nachdenkenswert. Denke an einen alten Regisseur von mir, der es ähnlich entschied. Geh zurück in Dein Buch. Lies es und vernähe Deine Lippen.

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Postschreibum und Nachklapp vom 30. Mai 20Zwei:

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Habe eben im Hinterhof ein paar junge Pflänzlein, die meiner Ehefrau am Herzen liegen, gewässert. Das Wochenende war zwar ordentlich kühl – Was erlaube Wetter? – nach eher durchgeknallt warmen Eisheiligen – Was erlaube Wetter revisited? – aber Wasser brauchen die Kleinen trotzdem. Fährt auf den Nachbarhof unseres Hinterhofs ein eine Nachbarin. Gesprächsthema 1 natürlich das Wetter. Also wie kalt das wieder sei. Und daß man trotzdem gießen müsse. In Gießen. Sie wäre heute morgen in die Praxis gekommen und man hätte die Heizung andrehen müssen. Ich ja auch am Schreibtisch, erwidere ich und sowieso den Dings friert es ja im dicksten Winterrock. Sagte ich dann auch noch. Gießend in Gießen. Aber jetzt ist morgen oder übermorgen Juni und ich heize noch. War ihre Antwort. Sagte ich dann unbedarft: Solange die Russen uns noch Gas liefern, geht das doch alles noch. Die Nachbarin schaut mich an als sei ich Gerharda Putin oder Wladimir Merkel in Personalunion, dreht sich auf dem Absatz um und iss weg. Vielleicht ist es das, was Toni Kroos in Sachen Deutschland meinte in diesem „Feldgespräch“.

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Postscriptum due: Las ich heute. Die Mikrofonhalter nennen dieses After – Work – Stalking wirklich Field – Interview. Nachgespräche auf den Schlachtfeldern? „Sagen Sie mal, hatten Sie den Gegner gleich im Visier? Oder hatten Sie erwartet, daß die Lieferung der schweren Abwehrwaffen schon stattgefunden hatte?“ „Ich bin eigentlich nur froh, überlebt zu haben!“ „Haben Sie da kein schlechtes Gewissen? Der Gegner hatte doch die besseren Haubitzen!“ Freue mich schon wieder auf das Tagesheute. Selbstredend gegeben highgeheelt und in nachhaltigen Designerklamotten. Und nun zum Sport.

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Geburtstage / Vergessen / Schweigen

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https://www.youtube.com/watch?v=AjIsUUoebuk&ab_channel=RevisitingHighway61

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Schwieriges Thema. Geburtstage. Diesen hatte ich doch glatt vergeigt. Zwei Tage zu spät, aber rechtzeitig eben noch dachte ich dran. Für andere Geburtstäglinge, die ich oft vergessen hatte. Manche mögen es. Das Vergessen zu werden. Andere sind dann beleidigt. Die Indignierten – die Harten im Garten – schauen den geschenkten Gäulen gerne mal ins ins Maul. Ach. Geburtstage. Sie feiern oder sie vergessen? Schwieriges Thema.

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For the records: Bob Dylan wurde vor zwei Tagen 81 Jahre alt. Wenige hat es interessiert. Wenige haben es mitgekriegt. Noch nicht mal ich. Aber er lebt noch. Und wie.

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Oben das schönste Geburtstaglied ever. Hat er für einen seiner Söhne. geschrieben. Man mag es auch der Mutter, der Liebsten oder seiner eigenen Hoffnung singen. Danke für alle diese Songs und Worte. Und das auch noch.

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Was machst Du eigentlich? / Im Hinterhof sitzen 3 / Spätburgunder / L(i)eben

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Vor Kassel / Oder hinter Göttingen / Speisewagen DB / Riesling / keine Klagen / 22. 09. 2021

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Die Himmel werden gelb

Und gelber

Drohen

Die Gewitter fordern

Entscheidungen

Wir sind nicht mehr fähig

Unwetter an uns

Vorbei zu

Lass sie doch ziehen

Was donnert so laut da

In der Ferne

Einundzwanzig Zweiundzwanzig Dreiundzwanzig

Nähe

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Was machst Du eigentlich so? / An den Ufern sitzen 2 / Bier trinken / L(i)eben

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Hamburg / Landungsbrücken / Fischrestaurant / Holsten / 22. September 2021

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Quantum 1 revisited (für A.)

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Irrtümlich

Irrte ich

Ist ja irre

Wie war das nochmal

Ich erinnere das anders

Nein da liegst Du einfach

Falsch

Liegst einfach nur rum zu faul

Zum Denken ist der Mensch nicht geboren

Danach

Davor vielleicht sollte man jedoch

Was man nicht tut weil man tut

Was man

Es tutet

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Auf der Elbe ziehen die Pötte dahin

Ruhigen Schrittes auf fauligem Wasser

Auf der Reeperbahn hängen Bilder aus

Mainz

Halbe Sachen

Lachen mich an wie

Kleine Biere bestelle ich nicht

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(Quantum / Gießen heute)

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quantum 1 (eigentlich für a.)

man entwertet fahrkarten

sie haben dich von

hier nach dort gebracht

angelangt am zielpunkt

vergesse ich den weg

schlimmer noch: den

startpunkt

achtlos zerknülltes

papier

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(quantum / gießen / 27.12.2021)

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Wo ist die Zeit? / Damals in den letzten Tagen des Monats Mai 1983 zu Padova

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Platini (natürlich nicht, sondern Aleksandar Ristić, siehe unten) / Magath / Happel / Netzer in den letzten Tages des Mais 1983 bei einer Weinprobe

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Es war einmal ein Pizzabäcker. Er hatte drei Töchter. Eine schöner als die andere. Zwischen 16 und 22 wallten lange schwarze Haare, blitzten verwegene Augen und lachten Zähne, perlweiß und trugen geschickte Hände mondgroße Pizzen an die Tische. Wobei, so viele Gäste waren gar nicht vorhanden in dieser kleinen Pizzeria in Padova. Nur sei tedesci. Und ein paar Verwandte und Nachbarn des Pizzabäckers. Eben hatte, unter verhaltenem Jubel der Tedesci, die eben erst Platz genommen hatten als Gäste, ein Glücklicher aus dem Norden aus etwa zwanzig Metern Entfernung einen Medizinball ins Gehäuse der Alten Tante gewuchtet. Im fernen Athen. Daraufhin wurden sie wütend, die Balltreter aus der italienischen Autostadt und berannten das Gehäuse der Anderen. Vergeblich. Der Pizzabäcker trat an den Tisch der Tedesci. „Ragazzi? Come il Numero Uno?“ „Stein!“ Das war die Antwort! „Ä? Come il Numero Uno di Hamburgo!“ „Stein! Uli Stein!“ „Rispetto! Fantastico!“ Eine der drei Schönheiten trat an den Tisch der Gäste, man hatte die ganze Zeit wild hin und her geblinzelt, und sprach die Pizzen servierend: „Aspeta Papa. Paolo Rossi.“ Einer der Pizzaesser am deutschen Tisch, meine ich mich zu erinnern, warf ein zaghaftes „Aspeta, Bella. Horst Hrubesch!“ Gleich darauf spürte er die Faust seiner Freundin in den Rippen.

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Früh um fünf waren wir losgefahren in Köln. Der romantisch klapprige Ford Transit war vollgeladen. Drei Schauspieler, eine Schauspielerin, die Regisseurin und meine damalige Liebste, mit mir in derselben Klasse der Schauspielschule, aber diesmal gebucht als „Junge Frau für ALLES“. Licht. Ton. Soufflage. Inspizienz. Gute Laune. Kartenlesen. Im Fond ein paar zusammenklappbare Bühnenelemente. Holz. Ein paar Kostüme. Eher Lumpen. Requisitenschwerter. Eine alte Gitarre. Mehr braucht Theater ja auch nicht. Und das Wollen halt.

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Was wir spielen sollten? Wollten? Ein Stück von „Ruzante“. Ich habe den Titel vergessen. Es ging um Liebe, Krieg und alles andere. Rüpeltheater. Bauerntheater. Ich spielte den Rüpel mit dem großem Maul, der aber ständig auf selbiges kriegte. Ich glaube, weiß es aber nicht mehr, wir reisten im Auftrag des italienischen Generalkonsulats zu Kölle. Der Katholik an sich hält ja zusammen. So von schwatt zu nero.

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Gegen frühen Nachmittag erreichten wir Padua. Parkten auf dem Hof des altehrwürdigen Theaterbaus. Niemand war da, außer einem einsamen, rauchenden und Kreuzworträtsel lösenden Pförtner. Warum sind die Türen alle chiuso? Scusi. Grande Problema. Generalstreik. Wo sind die Techniker? In der Bar vis a vis vom Musentempel. Ich wurde losgeschickt, da ich bei der Vorbereitung damit angegeben hatte, ich könne … ähem … italienisch. Bin ja auch an der Grenze zur Schweiz aufgewachsen. Siehe oben. Chiaccherione.

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Da saßen sie. Die zwei Technici. Espressi. Vino rosso. Fumare. Bella figura. Trotz Hausmeisterkittel. Geht so nur in Italia. Buon giorno und so. Ich, also wir, das teatro tedesco, dings, ausladen, aber teatro chiuso, grande problema. Oggi una prova necessario. Domani … show. Antwort: Non ce niente che possiamo fare. Oggi scipero generale. Hä? Nix dürfen mache! Ah! Super. Generalstreik auf italienisch. Zweiter Versuch: Scusi, carissimi signori. Scipero generale finito? Quando? Antwort: In serata. Pause. Ob ich auch einen Rotwein wolle. Naturalmente. Geistesblitz. Sono compagno. Genosse. Communista. Teatro politico. Ruzante. E in serata: calcio! Hamburgo. Torino. Da lächeln sie, die zwei Bühnentechniker. Stolz überquerte ich – zu dritt – die strada. Die Türen wurden uns geöffnet. Ausladen und Bühne einrichten mußten wir selber. Und ein hastiger Durchlauf wurde auch noch gestemmt. Licht machen wir halt morgen. Kurz vor Anpfiff checkten wir ein in unsere Pensione. Den Göttern Dank: direkt gegenüber eine kleine Pizzeria mit Televisione. Siehe oben.

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Warum das alles? Heute abend Magath und der HSV. Man trifft sich immer zweimal im Leben und so. Gefällt mir. Bin aber für den HSV. Mein liebes St Pauli war ja letztes Jahr schwer auf Kurs. Dieses Jahr halt nur ein Tja. Schrieb ich doch – als Prophet – unlängst in anderem Zusammenhang:

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„Ich muß aufräumen. Du kannst sitzen bleiben. Da draußen vor der Tür!“

Einige Pauli – Fans torkelten vorbei. Der Aufstieg in die erste Liga mußte gefeiert werden. Auch wenn er gar nicht stattgefunden hatte.

„Noch einen Grappa? Dann trinke ich einen mit!“

(Hamburg / Januar 2022)

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Ein Lied noch zu den letzten Tagen des Mais. Die Pizzen einst in Padua waren unfaßbar. Wir Jungs waren am Ende recht trunken. Die Grappe auf Felix. Ein bisserl peinlich waren wir auch. Der Stielaugenblues. Aber unsere Frauen haben uns sicher ins Bett geleitet. Wie et halt so iss im Leeve. Und gestern? Glückwunsch Attila. Hoffe der Streich hätt‘ au zug’schaut.

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PS: Habe eben eine Mail erhalten. Ein aufmerksamer Leser, früher selber in der Presse tätig, machte mich darauf aufmerksam, daß da nicht Platini mit dem Henkelpott steht, sondern eben der Ristic. Eigentlich logisch. Danke nach Krofdorf, lieber Norbert.