In the Bordertowns of Despair / Five

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Bob Dylan / Manhattan Bridge

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5

Er erschrak, als er den Bahnsteig betrat. Es gab Tage, an denen er durch Menschenmassen tänzelte wie ein venezianischer Kellner. Heute jedoch nahm ihm die Wochendendfröhlichkeit der Menschen den Atem und er floh in den Speisewagen. Seinen Tisch teilten ein Fußballprofi eines frisch abgestiegenen Vereins und ein Bildreporter aus einer großen Stadt im Osten, in der er im Frühjahr gearbeitet hatte, den Geist gespielt hatte, der stets das Böse will und … lesen sie ihre Standardwerke doch selber. Kaum hatte der Zug den Fluss überquert und die wehmütigen Türme der großen Kathedrale der alten Stadt waren im Hintergrund verschwunden, hielt der Zug und wurde später umgeleitet. Kinder hatten auf den Gleisen gespielt. Sie hatten. Die drei Vielreiser hatten ihr Thema. Zerfetztes Fleisch zwischen Bahngleisen. Möge der Lokführer seine Träume in den Griff bekommen. Er freute sich zu hören, dass Fußballnationalspieler nachts um 4 betrunken durch die Gassen der Dunkelbierstadt laufen und dumme Lieder singen. Erich Ribbeck saß vor dem Fernseher und polierte derweilen weinend seine Big Bertha. Der Zug hatte die Flußseite gewechselt und er schaute zurück, nach drüben, dorthin wo er noch grüßen sollte, der Schatten des Doms. Es fiel ihm nicht auf, daß er dort nicht mehr zu sehen war. Auf dem Rhein trieb eine Eisscholle vorbei. Der Fußballer sprach von den Spitzen des Eisberges. Sie bestellten noch ein Bier.

„Ja! Ja!“, sagt sie sich immer wieder, „Ich bin eine schöne Frau! Ich bin die Kröte, die sich jeden Morgen selber küsst.“ Heute öffnet sich etwas anderes in ihr als das gute alte Loch. Etwas anderes als dieses ewige Nichts, welches sie seit Jahr und Tag auszufüllen versuchte mit all ihren Sammlungen, den überquellenden Kleiderschränken, nur mit Gewalt zu öffnenden Schubladen voller Ringe, Ketten, Stifte, Broschüren, Frauenzeitschriften, Briefen, ungeöffneten Kontoauszügen, den Tüten voller Schokoladenkekse, die Schuhberge. Jeder Bügel trägt acht Mäntel, zehn Kleider, zwanzig Blusen. Ja, das kann sie: Dinge falten. Sie kann Dinge zusammenlegen. Sie schafft es zehn BHs in einem Briefumschlag unterzubringen. Er hatte ihr geschrieben:

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du verwaltest die liebe wie deinen kleiderschrank.

ein modell, mehrfach erstanden,

in allen farben und schattierungen,

fein säuberlich gestapelt,

warm und wartend,

bereit gelegentlich von dir ausgeführt zu werden,

oder beim nächsten umzug

durch die erinnernd seufzenden hände zu gleiten.

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Natürlich hatte er recht, er hat immer recht. Sie ertrug ihn nicht mehr. Seine ständig ausgefahrenen Krallen. Heute kann sie über ihn lachen. Etwas ist in ihr, das sie wärmt, ihren Schritt befeuchtet. Etwas was ihr panische Angst bereitet. Ja, sie ist schön. Sie ist nicht mehr alleine. „Like a Bridge over troubled water!“ Die Morgensonne scheint in die Küche und hat keine Chance gegen ihr Leuchten. Ich werde ihn nicht umarmen, nein, meine Andere, sie wird es tun. Sie studiert ihre Rolle. Sie schreibt sich ein Drehbuch. Das Handy klingelt. Egon Schiele fragt an, ob er sie zeichnen darf. Sie nickt ein leises JA. Ein Knall, der alle Tauben der Stadt davonfliegen lässt.

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Four

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Bob Dylan / The Bridge

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4

Auch der andere betrat einen Bahnhof, den Bahnhof der neuen Stadt. Seine Freundin reiste an zur morgigen Premiere, ein junges hübsches verhuschtes Mädchen aus dem tiefen Süden, gefärbte Härte, ‚taff‘, wie man so sagt, diese Sorte Mädels, die damals in der großen Pause im Schulhof auf dem Erdboden saßen, Beine über Kreuz, selbstgedrehte Zigaretten rauchten und eben nicht auf Cat Stevens, sondern schon mal auf AC / DC standen, es gibt sie und immer noch und immer wieder. Er gibt den verhuscht mürrisch Verkaterten, sie kennt das und freut sich da zu sein. Auf dem Weg zum Theater plappert er adrenalingetränkt über Egon Schiele, diese morbid bettlakenzerwühlenden Schönheit seiner Mädchenportraits und über das Scheitern. Sie liebt ihn dafür. Er raucht.

Jetzt konnte sie sich sehen. Ihre zweiten Augen klebten auf ihrer Netzhaut. Sie war ein Maulwurf, eine Höhlenbewohnerin. Ihr Vater, er war ein junger gutaussehender – adrett hat das wohl damals geheißen – Schauspieler am Theater seines Intendantenvaters, jener, ein strenger harter gnadenloser Mann, aus dem Krieg hervor gekrochen, bis in die Seele verwundet, gemantelt in den Kokon preußischer Disziplin und Gnadenlosigkeit, hatte in jenem Sommer, den man in San Francisco als den Sommer der Liebe besungen hatte, sich im Schoss einer kleinen Tänzerin verloren und wollte sich, die Unterhose noch in der Hand, davonmachen. Doch die lästige Frucht war da und verbiss sich im Uterus der Mutter. Der Intendantenvater ergriff den flüchtenden Sohn und prügelte, ja prügelte ihn vor den Traualtar. Ein Foto gibt es noch, abgegriffen verweint in einer der vielen ihrer Kisten. Sie sammelt alles. Davon wird noch zu erzählen sein. Man sieht zwei junge Menschen lachend, das verzweifelte Lachen von Todgeweihten, Eingesperrten. Das Maulwurfskind wühlte sich ans Licht der Welt und strahlte klein dunkel pummelig, dem Vater aus dem Gesicht geschnitten, nur die spitze Nase hatte sie von ihrer Mutter mitgenommen. Sie gaben dem Kind einen russischen Männernamen, der zweite Name jedoch war Maria. Die Zeit raste dahin und der Vater war nicht aufzuhalten. Er ging. Es gab so viele Frauen. Er war so jung. Er war so schön. Er war so charmant und er konnte noch nach einer Flasche Whisky eregieren, sagt man. Die kleine Tänzerin holt das Maulwurfskind aus dem Bettchen und es lief ungebremst gegen die Wand. Es hatte über Nacht auf einem Auge 70%, auf dem anderen 30% seiner Sehkraft verloren. Aus den Augen aus dem Sinn. So sagen die Alten. Wenn ich dich nicht mehr sehen darf, will ich nur noch mich spüren. Dort draußen bist du, außerhalb meiner, da draußen weit weit weg und dort muss es auch sein, das Böse, daß dich geholt hat. Du bist nur da, wenn ich es will. Ich sehe dich nicht mehr. Nicht weil du weg bist, ich kann ja nicht sehen. Ich rieche dich. Nachdem ich Dich rief. Sie blickte in den Spiegel und hatte keinen Plan. Ihre Masken lagen im Kleiderschrank und immer noch nicht hatte sie geschrien. Die gute alte Schlange Lüge räkelte sich in ihrem Waschbecken. Ich bin Maria und habe unbefleckt empfangen.

Der andere betritt den Probenraum setzt sich und atmet ihren Duft, der in dem kleinen Theater  hängt, betritt ihre Garderobe und berührt ihre Kostüme, vergräbt sein Gesicht in ihren Rock und erleichtert sich auf der Toilette. „All apologies. Married. Buried.“ Auf dem Weg zurück kommt er an einem alten Theaterplakat vorbei. Ein dicker, schwitzender, jungenhafter Schauspieler blickt ihn an. Woher soll der Andere auch wissen, dass jener vor wenigen Wochen den Leib besessen hatte, den er nun ergreifen wollte. Er habe so schön bitte gesagt. Hatte sie gesagt. Doch dies tut nichts zur Sache. Der Andere tänzelte auf der Probebühne herum, siegestrunken und bereit zuzuschlagen. Sanft streichelte er ihr Foto, welches er seit Wochen mit sich trug. Er hatte sie fotographiert. Auf dem Weg zur Probe. Heimlich. Sie strahlte. Eine SMS verlässt den Raum. Die Liebesbriefe der Armseligen, aus der Hüfte geschossen, Zelebration des intensiven Moments. Sein kleiner schwuler Assistent überreichte ihm einen Kaffee und war ernsthaft und schlank. Er mochte seinen Chef. Er verehrte sie.

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Einwurf / Die Kraniche kehren wieder um

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Ich ergehe mich hier in neueren und steintoten Gefühlsscheitereien, beleuchte emotionale Niederlagen, wühle in alten Pappkartons und schiebe farbstichige Dias in den Projektor. Ante portas aber bellum vincit! Geht’s noch?

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Vorgestern ab 5.55 Uhr hat ein Faschist zurückgeschossen. Er möchte ein Land entnazifizieren. Ein waffenstarrender und dauerbeleidigter Mafioso will also ein benachbartes Land entmilitarisieren. Von einer drogensüchtigen Mischpoke befreien müsse er es auch noch, zetert er mit aufgedunsenem Medikamentengesicht in die Kamera. Europa empört sich. Da die Panzer unseres Landes aber noch nicht auf E – Mobilität umgerüstet sind, empfiehlt das Verteidigungsministerium den Bürgern von Kiew sich mit Sekundenkleber auf dem Maidan festzukleben. Im Kreml sei das Aceton ausgegangen. Habeck spricht aus, was alle denken. Wir können nicht helfen. Zynisch?

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Seit acht Jahren befindet sich der Osten der Ukraine im Bürgerkrieg auf Moskaus Geheiß. Ach ja, das ist ja kein Krieg. Betrifft uns nicht. Erst ab Brennpunktdringlichkeit schauen wir hin. Solange lassen wir das Gas einströmen. Man will es ja schon muckelig warm haben im mitteleuropäischen Winter. Man handelt stets den eigenen Verlust vermeidend. Gut, lügen wir uns nicht in die Tasche, unsere Gesellschaft befindet sich seit Jahren auf der Flucht ins bunte Land GEHTMICHNIXAN.

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Eben erwischte mich ein heftiger Schneeschauer. Kalter Ostwind. Ich lief einfach weiter. Die sorgenfreiesten Jahre meines Lebens durchlebte ich während des sogenannten Kalten Krieges. Dachte ich vor mich hin. Geht’s noch? Glaub schon. Mein Mantel suppte durch. Ich hörte Kraniche schreien. Ich konnte sie nicht sehen. Der Himmel riß auf. Unverschämt strahlendes Blau. Da waren sie. Die Kraniche. Sie flogen zurück. Gen Westen. Ihre Flugformation war wirr und zerrissen. Was hatten sie gesehen, dass sie zur Umkehr bewegte?

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Geht’s noch? Von den erkalteten Lieben schreiben in Zeiten des Krieges, der wahrscheinlich noch gar nicht begonnen hat? Und ob. Aus der Riege der Welterklärer und Deuter den ungeordneten Rückzug antreten? Gewiß. Ich zweifle mehr und mehr an der Lernfähigkeit unserer Art. Zuallererst an der eigenen. Vor allem an dieser. Was tun? Fliehen? Nur wohin? Fröhlicher Defätismus? Radikale Akzeptanz? Die bevorstehenden Verluste dabei einspeisen?  Auf alle Fälle.

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Die Welt ist seit gestern keine andere geworden, wie sie nun alle beteuern wollen. Nein, sie zeigt mal wieder ihr tatsächliches Antlitz. Als Entlohnung quasi gestern die erste Tagesschau seit Menschengedenken ohne das Virus. Keine Atempause: es geht voran. Zynisch?

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Musik der Gleichgültigkeit

Herz Zeit Luft Feuer Sand

der Ruhe Einsturz der Lieben

übertöne ihre Stimmen damit

ich mich nicht mehr

schweigen höre

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(Samuel Beckett)

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In the Bordertowns of Despair / Three

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Bob Dylan / Bicycle

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3

Er war damals geflohen. Nach Kreta. Einer seiner ältesten Freunde hatte sich dort ein Haus gebaut. Ganz im Süden. Eine der letzten Ecken, welche noch keine Teerstraße erreicht hatte. Stolz saßen sie dort: die Lehrer, die Sozialarbeiter, die arbeitslosen Traumtänzer, die davon lebten Oktopusse aus dem Meer zu harpunieren und jene ewig betrunkenen Witwen, die versuchten ihren Söhnen zu erklären, das Sucht kein Ausweg ist, das Weinglas in der Hand haltend. Vor der Kneipe, in welcher sich alles traf, die Illusion und das Elend, das Warten und die freundliche Euphorie stand eine Telefonzelle. Hat jemand jemals die Erfindung der Telekommunikation verflucht? Telefonkarte um Telefonkarte fraß sich in den Schlitz, um aus weiter Ferne eine eiskalte Stimme erklingen zu lassen. „Lieber Anrufer, ich tue Dinge, die sinnvoll sind und Spaß machen.“ Warmes holländisches Bier ran durch seine zittrigen Hände und er verstand einfach nichts, nur das Rauschen in seinen Ohren. Sein alter Freund staunte ihn an.

Sie hatte sich damals in Auflösung befunden. Ihre Regisseurin, eine hagere engelhafte Diva, vom Tode gekennzeichnet, der sie wenige Wochen nach der Premiere ereilen sollte, jagte sie über die Bühne, ihre nackten Brüste schleiften über den Bühnenboden, sie betete und barmte, aber keine Träne floss aus ihrem Auge. Ein kleiner blonder Junge stand neben ihr. Er trug seinen Namen, der auch der Name ihres Vaters war.

Die Bahnhofshalle brummte, der ortsansässige Bundesligaverein, gerade wieder aufgestiegen, empfing den ewigen Meister. Mit stolzgeschwellter Brust, melancholisch und maßlos wie es das Naturell der Bewohner dieser Stadt nun mal war, strebten sie einer sicheren Niederlage entgegen. Er wanderte durch ein Meer von Watte. Gott sei Dank war er im Besitz einer Fahrkarte. Es gibt ja Tage, an denen man seine eigenen Hände nicht findet, wenn man sich kratzen will. Heute war ein guter Tag um eine Niederlage zu feiern, ja, zu feiern.

Sie betrat das Bad, blickte in den Spiegel, schrie nicht, nein schrie nicht, sondern begann zu bauen, zu formen, zu gestalten, was sie sein wollte, sollte, musste in den nächsten Tagen, Stunden. Geheimnisvoll, strahlend und bewundernswert. Bodenlos einnehmend. Sich selbst in alle erdenklichen Formen gießen. Das Bad ist ihre Heimat. Sie wusste, er erwartete ihren Anruf. Auf der Hinteren Bleiche klingelte ein Fahrrad.

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Two

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Bob Dylan / Shanghai

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2

Es gibt jene Stunden, es gibt diese Nächte, in denen sich irgendetwas zusammenbraut, jene langen Minuten, in denen Gott Goldfische in ein Glas steckt, sie mit Schnaps begießt und den Pürierstab hineinhält und grinst. Es sind jene Stunden, diese Nächte, in denen Gott sich langweilt oder einfach nur den Beweis führen will: “Was ich erschuf ist ein Haufen Scheiße und ich kann nichts dafür.“ Und wenn es ihm Spaß gemacht hat, malt er ein großes X an seine Zimmertür. „Empfänger unauffindbar verzogen!“ Wer Gott schon mal besucht hat, weiß: diese Türe ist verdammt groß.

In dieser Nacht träumte sie wie sie einen Zug bestieg. Der Zug verließ den Bahnhof und an den Fenstern rauschte etwas vorbei was aussah wie eine friedliche Landschaft, grüne Wiesen, alte Bäume an denen kleine harte und saure Jungäpfel glitzerten. Ein feuchtes, Regen ankündigendes Sommerlicht, nicht sonderlich beunruhigend. Eine ihrer Angewohnheiten war es alle zehn Minuten die im Zug ausliegenden Fahrpläne zu studieren. Sicher ist sicher und wer weiß was schon. Auch Züge können abbiegen. Weichenlos. Plötzlich forderte die Stimme des ersten Zugbegleiters sie auf den Zug unverzüglich zu verlassen. Sie tat wie geheißen. Sie stand auf der grünen Wiese. Und erwachte verwirrt. Diesmal hatte sie noch nicht geschrien.

Er fasste sich und den Telefonhörer und hörte warme Worte, versuchte sich aufzurichten, packte seinen Koffer und brach auf um nach Hause zu fahren. Die Straßenbahn weigerte sich in die Haltestelle einzufahren, mehr und mehr Menschen drängelten sich aneinander. Es war ein Samstag. Wer möchte da nicht in den Fußgängerzonen zerquetscht werden? Die Verkehrsbetriebe seiner alten Stadt sprachen zu den Wartenden: „Auf Grund eines entgleisten Zuges ist auf den Linien x, x und x mit Verspätungen bis zu einer halben Stunde zu rechnen. Wir bitten um ihr Verständnis.“ Vor dem Fahrkartenautomaten bildeten sich verständnislose Schlangen und zwei junge Mädchen, die die Jugendherberge soeben ausgespuckt hatte, boten ihm an ihn unter der Bedingung, er möge ihnen zeigen, wo der Dom steht, zum Bahnhof mitzunehmen. Er willigte ein. Und fluchte in sich hinein, wie er es immer tat, wenn die Welt sich nicht in seinem Tempo bewegte. Und heute?

Sie erwachte. Sie hatte keinen Kater. Weil sie es nicht will? Weil sie es nicht kann?

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / One

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Bob Dylan / Carbondale Motel

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1

Es genügte ihm. Einmal aufwachen, Tränen und Bescheid zu wissen. In der Wohnung seiner Schwester hatte er genächtigt und der alte dicke Kater saß zu seinen Füssen und hatte ihn angeblickt. Auch der wusste: es ist vorbei. Die Luft über der Stadt hatte sich früher als erwartet und erhofft in die Arme des Herbstes gelegt. Dieses Jahr, geizig wie seine Liebste, hatte keine Sekunde zu viel des Sommers rausgerückt. Die Menschen waren nervös und von seltsam trauriger Aggressivität befeuert. Ein paar Zeitungen unter den Arm geklemmt quetschte er sich an den Tresen eines Stehcafes. Dieser war knappe drei Zentimeter breit. Seine Tasse taumelte hin und her und das belegte Brötchen verwandelte sich zu trockenem Brei zwischen seinen Zähnen. Da stand er, würgte und wußte: etwas stirbt. Wenn die Sportseite vor deinen Augen verschwimmt, ist es Zeit nachzudenken. Wenn die Geldstücke im Portemonnaie kleben bleiben und die Schalterdame in der letzten Vorortpostfiliale blickt, als hätte sie den Leibhaftigen geküsst, ist etwas geschehen, dessen Wucht dir das Genick brechen wird.

Schon der gestrige Abend trug Keime des Verfalls in sich. Die Vorstellung, von einer ominösen Stahlfirma gekauft, mit Haut und allen Haaren, begann einfach nicht. Etliche Reden wurden gehalten, es wurde der verstorbenen Firmenmitglieder gedacht und die Pause dauerte solange bis auch der Portier des Unternehmens sein siebtes Sektglas durchgegurgelt hatte. Die Kollegen trugen ihre Worte mit gebührender Distanz über die Bühne und einmal strich eine Hand über seinen Kopf : „Bist du traurig?“. Warum ist man manchmal in der Lage zu verneinen? Als der Zug zurück in die Domstadt sich eine halbe Stunde vor Ankunft auf den Gleisen festfraß und nicht mehr weiterbewegte, wuchs die Zeichenvielfalt ins Unerträgliche. Personenschaden. Er wußte von nichts. Er wußte alles. Er fuhr in den wartenden Abgrund.

In der neuen Stadt hatte sie sich betrunken. Ein Portugiese hatte um die Ecke aufgemacht und keine Stunde länger hätte sie es ausgehalten. Mit ihm. Ohne jenen. Es hatte sie etwas in den Hals gebissen, was sie so nicht kannte. Ihre Augen zogen sich zusammen und mit den letzten Resten ihres instinktsicheren Verstandes ergriff sie die Flucht. Dorthin wollte sie. Das Telefon schwirrte über ihrem toten Schlaf und heute noch ist sie sich nicht sicher, ob sie noch etwas hören konnte oder schon nicht mehr wollte.

In der neuen Stadt geht in jener Nacht der Andere Zigaretten holen und wird blind im Bier. „Come as you are!“ singt er vor sich hin und bricht ein Versprechen. Ein zweites Mal geht er Zigaretten holen, wieder und wieder greift er zum Streichholz und atmet ein den erlösenden Rauch und tänzelt, siegessicher und zitternd wie Espenlaub. Wir wissen nicht, ob er unter ihrem Fenster stand. Wir wissen lediglich: er heißt Curt. Nicht Kurt, nein, sondern: Cörd, wie dieses weggeblasene Gehirn hinter der Polizeiabsperrung an einen kalten Herbsttag in Seattle.

Sie schläft. In dieser Nacht begann der Herbst. Meteorologisch.

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(Mainz / Oktober 2000)

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Manchmal ist Stolz halt fehl am Platz

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Stolperte unlängst über ein Zitat von William Blake. Sinngemäß schrieb er, ein Narr müsse konsequent ein Narr bleiben. Dies sei für ihn die einzige Möglichkeit zur Weisheit zu gelangen. Wenn dem so ist, habe ich in letzter Zeit ordentlich Bonuspunkte einsammeln können. Die einen nennen es sich zum Affen machen. Andere sprechen von Liebe. Oder mit Keith Richards: „At least you learned how to love a fool!“

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Schlaflose Nacht. Draußen stürmt es sich ein. Der Regen klatscht gegen die Fenster. Der volle Mond nicht zu sehen. Aber er ist spürbar da. Außerdem macht mein operierter Arm Sperenzien. Gute Gelegenheit die Stadt der letzten wirren und wilden Monate innerlich zu verlassen. So eine Art Schmerztransfer. Das ist in Ordnung. Wo der Schmerz akzeptiert wird, hat das Leiden keine Chance.

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Denkpause. Mal schauen, wo danach gelandet wird.

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Der Zeigefinger erhebt sich

*

Wahre Liebe vergibt

Selbstliebe nie

Schrieb er in sein Tagebuch

Hundertmal

So wie man es ihm einst in der Volksschule

Beigebracht hatte

Fünfzehn Jahre nach dem Großen Krieg

Die fünf Finger des Vaters noch

Glühend im Gesicht

Er hat ihm vergeben

Lange schon

Nun brach er auf

die Liebe wiederzufinden

Jene die er

In den letzten Jahren besungen hatte

Diese eine besondere

Liebe

Das war er ihr schuldig

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Du atomisierst mich

Das hatte er noch vergessen ihr zu sagen

Damals

Er kniete auf seinem abgestürzten fliegenden Teppich

Und begann sich einzusammeln

Noch war seine Brille

Beschlagen

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(Gießen / Ende Januar)

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Drei Ambivalenzen

*

Die Erwartung des eigenen Todes

Macht die Menschen verrückt

Trennung ein Abgewiesen werden ist Sterben

Mit jedem Tag dem man einem Ende entgegen wandert

Gewinnt ein Gehen

Ein Gegangen werden

An Gewicht

Man wird verrückt vor Angst

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Um sie wieder sehen zu können

Mußte ich sie vom Podest stoßen

Welches ich errichtet hatte

Bombenfest

*

Etwas nicht zu tun

Ist meine Spezialität

Sagte sie

Du wirst begeistert sein

Meinen Sockel kann man

Zusammenfalten

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Leere

*

Dir entfallen

Alle Worte

Rief mir zu

Im verregneten Wald

Eine erfrischende Leere

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(Klinikum Konstanz / Ende Januar 2022)

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Jetzt fahr’n wir über’n See, über’n See!

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Gestern schrieb mir ein geneigter und auch zugeneigter Leser meiner Verlautbarungen hier eine Mail. (Danke für das lapidare: „Tja!“) Er schrieb von den rückkehrenden Kranichen dieser Tage – ich hatte sie vorgestern auch über mir – und wie er beobachtete, daß sogar Störche sich ein Nest suchen. Dann schreibt er: „Ankunft nach langer Reise, ein schöner stiller Moment. Allerdings auch gedacht: zu früh?“

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Zu früh? Ja. Ist so eine Sache mit den Entscheidungen. Es wird gefordert allenthalben – oft ist man selber Mitglied in diesem gelegentlich schrillen Chor – die schnelle und endgültige und vor allem wirkmächtige Entscheidung. „Du weißt auch nicht, was Du willst!“ Ach Ungeduld! Dinge auszuhalten, ihnen keine Gewalt anzutun – meist sind die „Dinge“ ja Menschen – nicht einfach, manchmal jedoch vonnöten bis dringend geboten.

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Gestern noch gelesen: man möge nicht immer die selben Alleen runterlatschen, will man sich einer vertrackten Situation nähern. Aber auch: beim Blick in die Sterne möge man aufpassen, daß dir der Kopf im Nacken nicht von den Schultern rollt.

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Dulce est periculum (Rendsburg revisited)

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Süß ist die Gefahr

Dulce est periculum

Auf nüchternen Magen kalten Wein

Ich trete meine Ängste stumm

Schmerz verspricht Inspiration

Der Suff erlöst vom Leiden

Der Tod macht Sonderangebote

Der Wind schüttelt die Weiden

Ein Strick geknüpft baumelt hinab

Gesundheit wie vulgär

Der Tunnel ist mein Tanzlokal

Ich fühl‘ mich leicht wenn schwer

Ein Bummelzug die Sonne sank

Wir träumten aus dem Fenster

In dieser Stunde neben ihr

Da schwiegen die Gespenster

In Riesenbögen führt die Brücke

Um unser Glück herum

Ich ritz‘ den Tag in meine Haut

Wir waren so schön stumm

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(Im IC nach Karlsruhe / 24.1.22)

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Kleines PS und Einschub: Saß heute – am 17.2. – in der Notaufnahme des Evangelischen Krankenhaus in Gießen, da ich morgen nochmals unters Messer muß. Während ich vor mich hin wartete, lief im Fernsehapparat vor Ort eine Doku über oben bedichtete Brücke in Rendsburg. Nee, oder? Jetzt ist aber mal gut mit diesen ständigen Querverweisen, bester Freund Kismet! GELLE!

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Ein Winter

*

Der See hat sich zurückgezogen

Ohne Hast breiter der Strand

Eine fahle Sonne schwach

Legt sich an mit dem Hochnebel

Das Glitzern der Wasseroberfläche

Mache daraus kein Versprechen

Keine Wette auf eine Zukunft

Bleibe hier und lausche

Vergangenheit zu Deinen Füßen

Milde nichts einfordernd

Kindheit

Adoleszenz

Euphorie

Stillstand

Ausbruch

Aufbruch

Alter

Grab

Du bist nichts Besonderes

Raunzt eine Möwe

Die Ente putzt sich ihr bescheidenes Gefieder

Morgen schon könnte es schneien

Ein Fischerboot schnurrt vorbei

Plötzlicher Wind

Wirft Wellen ans Ufer

Wieviel Meilen noch zu gehen

Die Füße übernehmen das

Kommando Schweig

Wo gehen wir hin

Ich weiß nicht aber

Wir müssen los

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(Konschtanz am Hörnle / 26.1.22)

……

*

Sturmwarnung

*

Kältegrün

Frostweiße Schaumkronen

In den bleigrauen Dunst geworfen

Aufgepeitscht vom

Wind des Nordens

Schlüpft der See in die

Larve „die See“

Ho Narro

Narri Narro

Tanze Boot Tanze

Der Katamaran jedoch fährt

Seine Flügel aus

Leicht schwankend nur

Hält er den Kurs

Vom Nebelufer her blinken

Die Warnlichter

Der Sturm der Sturm

Er kommt hab acht

Ach

Ich habe ihn hinter mir

Den großen Sturm

Kältegrüne Augen

Frostweißer Abschied 

Lodernde Furcht

Schmiede das Eisen

Heinrich komm und schmiede

Solange noch Tag

Und der Blasebalg bläst

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(Katamaran FN – KN / 1.2.22)

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