Nachricht aus dem Nachlösewagen 02

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Ich sitze. Ich sitze im Schienenbus. Ich sitze in einer Kälte, die sich in meinen Rücken frisst. Es gibt im Schienenbus alle paar Reihen Bänke mit umklappbarer Rückenlehne. In Fahrtrichtung. Gegen Fahrtrichtung. In Fahrtrichtung zurück. Gegen die Fahrtrichtung nach vorne. Denke an, während es draußen düsterer wird und Schneegriesel gegen die beschlagenden Scheiben des Triebwagens leise anklopfen, Stillstand und Angebot. Klappe die Lehne von vorne, von links nach rechts, nach hinten. Stehenbleiben in der Mitte kann sie nicht. Kippunkte. Ich unterschlage das dritte kleine Peh. Krähen hoppeln über ein Feld in der Nähe. Suchen zwischen kümmerlichen Schneeflecken und angefrosteten Pfützen nach dem Rest der Ernten der letzten Jahre. Wäre mir wärmer, wenn ich mir auf dem Bahnsteig die Füße vertrete? Sollte ich in Zukunft meine kleinen Reisen, Verreisungen besser mit einem Flachmann in der Tasche antreten? Und wo ist die Schaffnerin?

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Von draußen her vermeine ich das Geräder eines Rollkoffers zu vernehmen. Mitreisende? Es klopft laut und vernehmlich an eine Scheibe im vorderen Teil des Zuges. Kann Schneegriesel dermaßen aggressiv sein? Ich muß also entgegen des Rats meiner eingefrosteten Oberschenkel aufstehen. Gehe durch die Triebwägen nach vorne. Alte Kiesel, von ehemaligen Reisenden auf dem Boden hinterlassen, knirschen unter meinen Sohlen. Wo aber ist bei einem Schienenbus hinten? Wo vorne? Ich komme an. Vorne oder hinten. Da isser. Der Fensterklopfer. Ein Postbote steht auf dem Bahnsteig. Mit seinem gelben Dienstrollkofferwagen. Grauhaarig. Hager gebeugt. Augenberingt fröstelnd unter seiner beschlagenen Brille. Wahrscheinlich hat er das Pensionsalter schon lange erreicht. Er wohnt gewiß noch bei seiner Mutter. Auch wenn sie schon lange verstorben. Ist froh, wenn er draußen sein darf und seine Kundschaft redet ab und zu mit ihm. Noch. Er spricht mich mit meinem Namen an. Er wedelt mit einem vergilbten Papier durch die feuchtkalte Luft.

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„Hallo Herr Holz! Ich habe hier ein Telegramm für Sie!“

„Woher kennen Sie mich?“

„Wir kennen unsere Pappenheimer!“

„Ich dachte das Telegramm hätte ihre Zustellungsorganisation schon vor Ewigkeiten abgeschafft?“

„Denken ist nicht Wissen, sehr geehrter Herr Holz. Herr Johann Heinrich Holz? Oder doch nicht?“

„Nein, nein! Ich bin es. Geben Sie mir das Schriftstück!“

„Können Sie sich ausweisen?“

„Aber Sie sagten doch, Sie kennten mich, Herr …?“

„Namen sind Schall und Rauch! Schönen Abend noch!“

„Sie können doch jetzt nicht einfach gehen!“

„Wir müssen! Wir sind immer im Dienst! Immer und überall! Unser Lebensraum ist der Dienst! Und: in der Blechkiste neben der Nachlösetheke befinden sich alte Wolldecken. Schlafen Sie gut! Bis morgen!“

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Nachricht aus dem Nachlösewagen 01

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Ich renne. Es ist glatt. Gestern hatte es noch geregnet. Warmer Südwestwind zerrte an meinem Schal. Über Nacht drehte der Wind auf Nordost. Andeutungen eines Sturmes und die Bürgersteige wurden glatt. Über Nacht. Ich hatte mir zum Jahresbeginn eine Rentnerkarte gekauft. Im Abo. Etwas über € 30.- werden mir nun monatlich abgebucht. Dafür kann ich jeden Tag ab 9h Busse in Stadt und über Land, Züge, solange sie nicht zu schnell sind, in dem Bundesland, in dem ich wohne, benutzen. Fahren. Fahren. Wohin aber? Ich habe mir eine Landkarte gekauft und mit spitzem Finger auf zukünftige Ziele gezeigt. Als Bube hatte ich den Diercke-Weltatlas so gut wie auswendig gelernt. Im Fingerreisen war ich damals schon ein Marco Polo unter meinen Freunden. Heute will ich los. Es ist glatt. Ich renne, aber sehr vorsichtig. Eigentlich setzte ich nur einen Tippelschritt vor den anderen. Zu mehr reicht die Kraft nicht. Der Alkohol der letzten Tage lässt die Oberschenkelmuskulatur sich zusammenziehen. Unter meinem linken Arm eingeklemmt die Mutter aller Porzellankisten. Ich bin ein geborener Deutscher. Nun ja.

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Der Zug steht regungslos am Bahnsteig. Niemand da. Vor dem Zug. Auf dem Bahnsteig. In den Triebwägen. Die Motoren aber laufen, tuckern, es riecht nach verbranntem Diesel. Auch wenn ich mir das lediglich einbilde. Da, am Ende des Schienenbusses ist er, der Nachlösewagen. Kurz freue ich mich wie ein Kind über die Worte „Schienenbus“ und „Nachlösewagen“. Dann steige ich ein. Zwei, drei steile, rutschige Stufen, eisenbegittert, nach oben. Meine Oberschenkel brüllen mich an. Ich bin drinnen. Ist es im Waggon sogar etwas kälter als draußen? Ich ziehe meinen Schal enger um den Hals. Es windet wenigstens nicht hier im Inneren des Zuges. Ich denke an Jonas, den Wal. Ich schaue mich um.

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„Hallo? Ist da jemand? Ich würde gerne eine Fahrkarte nachlösen. Hallo?“

Die Maschine wird lauter. Es klingt, als gäbe der Lokführer fest entschlossen Gas. Ich friere. Ich friere auch nach einer halben Stunde noch. Nichts ist geschehen, aber laufende Motoren unter meinen frostigen Füßen.

„Guten Tag? Wo wollen Sie denn hin?“

Ich drehe mich um. Eine sehr kräftige Schaffnerin, Damenbart, grüne Strähnen im Haar, die unter der Dienstmütze hervorlugen, steht hinter mir. Sie raucht einen Zigarillo.

„Ich weiß noch nicht so recht. Wo fahren Sie denn hin?“

„Tja. Wenn ich das wüßte. Der Lokführer hat sich noch nicht entschieden.“

„Warum?“

„Weil er noch gar nicht da ist!“

„Aber entscheiden nicht die Schienen über das Ziel, welches wir ansteuern werden?“

„Glauben Sie auch noch an das Christkind?“

„Aber Sie verkaufen doch Fahrkarten? Prinzipiell? Hier im Nachlösewagen?“

„Gewiß. Wenn wir denn fahren werden.“

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„Allein machen sie Dich ein!“ (TSS)

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Der- oder diejenige wäre heute so und so alt geworden. Einlassungen dieser Art wollte ich hier eigentlich ab sofort vermeiden. Beginne ich also die mir selbst verordnete Regeländerung mit einer Ausnahme. Einer noch. Einer.

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Wer fünfzig Minuten Zeit hat sich im Netz zu versenken – mit lieben Grüßen an die Rentner und anderweitig Gelangweilten, die hier ab und zu reinschauen – diese Dokumentation ist sehr empfehlenswert. Best of quasi.

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Das neue Jahr begann so, daß ich kurz meinte mich davor fürchten zu müssen. Es steht an eine 50Jahresfeier in Sachen Hochschulreife unten am Bodensee. Im Vorfeld trudeln Mails eines Klassenkameraden ein. Warum ich AfD wählen müsse und wenn nicht, solle ich ihm das erklären. Weia! Das ist wohl erst der Anfang. Raus aus dem Netz? Klassen? Treffen? Meinte dies Rio Reiser, als er davon sprach, sich nicht zensieren zu können? Eher nicht?

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Noch ein letztes Zitat – auch die werden hier ab morgen rausfliegen – weil es so schön passt zu einem schmerzlichen, aber nötigen Abschied am Ende des letzten Jahres. Nicht mehr Robert Zimmermann singen in Gießen. Nee.

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„Bei Rockmusik geht es um Ekstase und Wut und nicht um Timing und Virtuosität!“ (Rio Reiser)

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Demnächst hier Nachrichten aus dem Nachlösewagen. Ein letztes Video.

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