Oh, it’s a long, long while / From May to December / But the days grow short / When you reach September / 08

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Gießen / An der Lahn / September 2023

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Manchmal setzen dich die Kreisel, welche ein fremdes Leben vollführt, zurück auf’s eigene Lebenskarussell. Was für eine seltsame Zeitreise gestern Abend vor der Glotze ich mit Rudi Völler erleben durfte.

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Sommer 2000. Wiesbaden. Meine damalige Gefährtin, Schauspielerin mit allen Fasern ihres Leibs und Herzens, arbeitete sich den Arsch ab am Staatstheater Wiesbaden. „Me too“ war noch nicht erfunden. Ich hatte gerade in Leipzig ein wildes Projekt absolviert und nach drei turbulenten, auch oft unlustigen Jahren einer Fernbeziehung Köln – Hessen, war der Entschluss gefallen zusammen zu ziehen. Nach Mainz also. Kloppo kickte dort noch. Ich saß nun oft, der Dinge harrend, in Hessens Hauptstadt meist in einem der innerstädtischen Biergärten und guckte EM. Auf kleinen Bildschirmen noch. Größer war aber auch der Fußball nicht, den das damalige Team unter Ribbeck, den Erich, vor sich hinrumpelte. Das Jahr in dem ein deutsches Vorrundenaus erfunden wurde. Ich ahnte noch nicht, daß auch mir ein solches bevorstand. Baldigst. Und ohne Abfindung.

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Dann ein sehr heißes Sommerende in Mainz. Ich renovierte, fast schon tobsüchtig, eine riesige Wohnung über zwei Stockwerke. Mit Sauna, Balkon, Dachterrasse, Jacuzzi und und. Die geliebte Schauspielerin probte an neuer Wirkungsstätte. Junger Regisseur. Wieder lebte ich in einer Fernbeziehung, diesmal in geographischer Nähe. Rudi hatte die Elf übernommen und ich saß, farbverschmiert, schwitzend, erschöpft vor der Glotze und die eben noch Lahmen waren aufgestanden wie einst Lazarus und fiedelten Spanien ab. Jetzt wird alles gut, dachte der ewige Bub in mir, der gerne den Ausgang einer Kickerei zu einer Art Zukunftsprognose „hochsterilisierte“. Ihre Probe dauerte zu lange und meine Euphorie war in einen traurig aggressiven Suff gekippt, als sie nach Hause kam, anderweitig euphorisiert. Es ist kein glücklicher Stern aufgegangen in der Nacht. Wenn, dann war es der Kampfstern Galaktica. So landete ich nach heftigen Gefechten in Gießen.

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Und gestern, die Frau die mir seit etlichen Jahren auch mal die Flügel stutzt, damit ich weiterfliegen kann, lag schon im Bett, staunte ich, vom Deja vu geplättet, wie schon wieder die Lahmen und Blinden des letzten Samstags sich über das Dortmunder Grün arbeiteten. Können die jetzt fliegen? Zumindest in Ansätzen? Fast meinte man Freude in ihren Augen zu erkennen. Und nun? Wenn Tante Käthe nicht weitermachen will: ich wäre für den General aus den Niederlanden. Was iss mit Loddar? Die Jugend benötigt wohl gerne klarere Ansagen. (Triggerwarnung: Ironie!)

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Wir werden alt und sind’s doch schon und sehnen uns zurück nach Zeiten, in denen wir meinten die Veränderung noch in eigener Hand zu halten wie das schwächelnde Glied. Pustetorte. Wir werden verändert. Wie Lou Reed zum September Song präludiert: Als es Zeit wurde, kreuzte sie meine Pfade.

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Was machst Du eigentlich so? / An den Ufern sitzen / Wein trinken / L(i)eben

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Konstanz / Durchgang zur Unteren und zur Oberen Sonne /11. März 2021

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Saß ich einst beim Glaserl Wein

Ließ Fünfe ungerade sein

Als eine Taube ungefragt

Sich auf meine Schulter wagt

Und gurrt und nickt den Taubenkopf

Rupft Haare mir aus meinem Schopf

Und taubt recht frech auf dieses Buch

Worinnen ich die Wahrheit such‘

Das müd‘ auf meinen Knien ruht

Ich kraulte durch die Wörterflut

Und ließ die Taub‘ gewähren

Und die Gedanken allzuschweren

Die aus meinem Hirn dem leeren

Fielen in den Hinterhof

Lagen rum und ziemlich doof

Die Taube von der Schulter runter

Pickt die Gedanken froh und munter

Ring sich durch zu einer Frage

Ich sage nur, dann frag‘, ich sage

Und das Viech, dumm, aber froh

Fragt nur: Was machst Du so

Den ganzen lieben langen Tag

Während wir Tauben sammeln

Und die Mimen gammeln

So vor sich hin

Wo ist der Sinn

Ich griff zum nächsten Glaserl Wein

Und ließ die Taube Taube sein

Weil ich ja auch nicht höre

Wenn mir das Leben rät

Dann ist es meist zu spät

Du mich nicht störe

Aus der Sonne geh‘

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Im vino ist kaum veritas

Im Keller hab‘ ich noch ein Fass

Jedoch auch tausend nackte Fragen

Ich richte meinen Kragen

Die Taub‘ hatte drauf geschissen

Ich hätt‘ es wissen müssen

Ach ja was stand im Buche

Was der Taube Suche

Hat ich es gelesen

Sehr lange ist’s wohl her gewesen

Der Rhein der floß am Dom vorbei

Aus meinem Herzen tropfte Blei

Und sie sammelte Schuhe

Doch ich fand nie die Ruhe

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Der Mensch lernt selten

Meistens nie

Säg‘ Dir doch ein Loch ins Knie

Und stelle dort den Christbaum rein

Mit allen Wünschen

Kugeln Sterne

Die aus Stroh

So sprach einst der Vater gerne

Depressiv doch lebensfroh

Bevor er sich vom Acker machte

Kalter Himmel müde lachte

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Am Fluß an jedem Vorstadtufer

Steh‘n sieben einsame Rufer

Jedoch der Flößer streikt

An manchen Tagen

Was wollt‘ ich sagen

Dann bleib‘ ich noch was sitzen

Und laß‘ den Fluß gewähren

Bei einem Glaserl Wein

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(Mix aus: Konstanz 1973 / Köln 1997 / Gießen 2006 / Kiel 2021)

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In the Bordertowns of Despair / Eight

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Bob Dylan / Hunan Province

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8

Jetzt gehe ich hinaus, sagt sie. Und wieder steht sie vor dem Spiegel ihres Badezimmers. Da ist was, pflegt sie zu sagen, da ist was. Da neben der Nase, da auf der Stirn. Eine – herrliches Wort – Hautunreinheit. Wieder und wieder kreisen ihre Fingernägel um einen kleinen Fleck, bearbeiten, kneten, drücken, schaben. Es gibt mich nicht. Es gibt nur das, was ich Spiegel sehe. Ich kann mich nicht fassen. Ich bin ein Loch. Ich bin eine These. Ich ich ich ich ich ich ich ich ich: nichts. Alles. Ich fasse meine Haut, der kleine Schmerz macht mich sehen, aber ich sehe nichts, keine Zeit, Stillstand. Milch. Butter. Salzstangen. Schokolade mit Mandeln. Fisch. Fischfilets. Tiefgefrorene Fischfilets. Da muss doch noch was sein unter meiner Haut, ich gehe unter meine Haut, es blutet. Ich blute. Blut. Was ist hinter dem Blut. Türe um Türe stoß ich auf und finde nichts, nichts. Fisch. Fischfilets. Tiefgefrorene Fischfilets. Das hatte er gesagt am Telefon. Gemüse. Auberginen. Ich habe wieder ein Loch in meine Haut gemacht. Keiner darf eindringen in mich, er wird nichts finden und gehen müssen. Abdeckstift, wo ist mein Abdeckstift. Ich bin mein eigener Verputzer. Es ist wie Weihnachten, damals, ich habe das Paket aufgerissen, ich muss es wieder verpacken. Noch eine Kordel. Keiner darf etwas sehen, nicht mal ich. Fischfilets und Abdeckstifte. Nico singt. „I`ll be your mirror.“ Jetzt ist es, jetzt ist es gut. Wie rieche ich, kann ich mich riechen. Eine Paste tilgt meinen Geruch, kann ich mich riechen, jetzt bin ich null und trage auf noch eine Creme. Jetzt rieche ich wieder. Wie. Wie er. Wie was. Jetzt gehe ich einkaufen. Fisch. Fischfilets. Tiefgefrorene Fischfilets. Tiefgefrorene Alaskafischfilets. Ich bin ein Fischfilet. Aber ein Fischfilet mit einem Plan. Kalt und ausgeliefert. Sie greift eine Einkaufstasche. Jetzt geht sie raus. Hinaus. Wer geht da raus. Geht doch alles zum Teufel.

Auf dem freien Feld steht Woyzeck und hört Stimmen. Still ist alles, so still, als sei sie tot die Welt. Zwei Hasen fraßen ab das grüne, grüne Gras. Und es geht etwas. Über uns, unter uns, neben uns. Woher kommen die Momente, wenn sich in dir plötzlich alle von den Alltäglichkeiten zugenagelten Türen öffnen und eine gräßliche Klarheit die Eingeweide streift. Sara, Sara, wie er geht, wie er steht. Der Löw. Helmer jedoch kommt nach Hause und pfeift sein Vögelchen zu sich. Das Wunder wird niemals geschehen. Ich bin doch ein schlecht Mensch. Ich könnt mich erstechen. Marie, sie lacht. Sie dreht sich, ihr Rock flattert. Ach, was Welt. Geht doch alles zum Teufel, Mann und Weib.

Der Andere hat eine Hoffnung. Was ist, wenn seine Freundin auf einmal auf der Toilette bliebe. Einfach so. Für immer. Wenn die Klospülung sie mitnimmt und hinausspült in ein Land, wo lauter trostspendende Hände von den Bäumen baumeln, sie nehmen, aufnehmen, übernehmen und er … ach. Die Klospülung rauscht und vertraute Finger fahren über und in sein Gesicht. Er murrt. Keine Premierenerektion. Zigaretten. Tränen. Abreisedrohung. Ach, Du, bleib halt. Wir werden immer mutiger.

Da ist ein Haus. Die Sonne lacht. Da ist Papa. Papa kommt von der Arbeit. Mama steht mit den Kindern am Gartentor und wartet auf Papa. Die Kleine rennt ihm entgegen. Papa hebt sie hoch und drückt ihr einen Kuss auf die Nase. Sie lacht. Den beiden Jungs streicht er über den Kopf, bevor er Mama einen Kuss auf die Wange drückt. Mama sagt, es gibt Koteletts mit Bratkartoffeln. Papa schmeißt seine Tasche auf die Eckbank in der Küche und sagt: Aha mein Lieblingsgericht. Die Sonne geht unter, alle lachen. Komm Herr Jesus sei unser Gast und segne …  Guten Appetit … Gute Nacht Johnboy … Testbild. Auf dem Balkon sitzt Papa und raucht. Er möchte seine Kinder töten. Seine Frau hat mit einem Buckligen geschlafen.  (Fragment, gekürzt)

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Seven

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Bob Dylan / Opium

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7

Sie bekommt Besuch, ein alter Bekannter, auf den Sonnenstrahlen ist es hinab gerutscht, das Vieh, unerwartet, brutal, rasend und es saß vor ihr achtbeinig, grüngepelzt, grinsend, sich mit seiner langen knallroten Zunge die schleimigen Nasenlöcher ausleckend. Es hatte viele Gesichter. Vaters Gesicht, C.`s Gesicht, Mutters Gesicht, ihr eigenes Gesicht, das Gesicht eines Intendanten, eines Finanzbeamten, eines Schuhverkäufers, einer unfreundlichen Kassiererin im Supermarkt und seit heute noch ein weiteres Gesicht voller Erwartungen, Forderungen, Hoffnungen und das traf sie ins Mark. Das Gesicht des Anderen. In den letzten Tagen hatte sie es oft vergessen können, das Vieh, aber ihr unfehlbarer Instinkt sagte ihr, es ist da, zuschnappender, fordernder, wütender, freundlicher und tätiger denn je. Sie mußte sich der Anfechtungen erwehren und hatte sich ergangen in die Gleichförmigkeiten eines Alltags, schleppte samstags Blumen in die Wohnung, fand sich mit einem Einkaufskorb durch die neue Stadt gehen und belustigt sagte sie zu ihm am Telefon : „Wie meine Mutter.“ Das Tier spuckte sich in seine kleinen miesen Pfoten und pisste in ihren Kaffee. Ihr war schlecht. „Das wird mein größter Auftritt.“ Und sie war nicht gut vorbereitet. Zwar hatte sie viel schon in die Wege geleitet, Freundlichkeiten hier, Verweigerungen dort, aber nun begriff sie: wenn man etwas tut, bewegt sich nicht nur der eigene Arsch. In diesem Haus muss man samstags die Treppe wischen. Gott sei Dank. Nein, sie schüttet den Eimer nicht um, sie nicht, sie nicht. Die alten Damen, ein Stockwerk tiefer sehen mit Freude eine schöne und „eifrige“ junge Frau durchs Treppenhaus huschen. Unsere Schauspielerin, ach. Ihre Auge glänze noch.

„Weg. Weg. Weg. Meine Gattin weint. Ich halte sie umfasst. Es ist ein trübes Frühjahr. Unten treiben müde die Frachtschiffe vorbei.  An Bord eines der Schiffe ein grüner Golf. Quer steht er. Wäscheleinen. Niederländische Unterwäsche flattert im Fahrtwind. Der Rhein riecht verfault. Das ist nicht mehr das Wasser, welches meine Heimatstadt verlassen hat. Am Rheinkilometer NULL, da kannst du schwimmen, gegenüber der Wohnung meiner Mutter. Hier erinnern große Steintafeln daran wie weit das Haus der Mutter entfernt. Meine Mutter wohnt am Rheinkilometer NULL. Ich lebe diesen Fluß hoch und runter. Meine Gattin weint. Ich halte sie umfasst. Ein Stück Fleisch. Ich umfasse eine Erinnerung. Irgendwo fliegt die Löwenmähne durch den Tag, dieser Geruch ist in mir. Ich umfasse meine Gattin. Ihre riesigen Augen versuchen mich aufzusaugen, die Bitte, die eine große Bitte. Warum stoße ich sie eigentlich nicht diesen Felsen hinab, setze mir eine blonde Perücke auf, bleibe sitzen und warte darauf, daß vorbeiziehende Japaner mich fotographieren? Ich spreche, gelassen, traurig, Warteworte, Abwiegelworte, Streichelworte, Abwieglerworte. Anstatt meine Hände um ihre Gurgel zu legen. Weil sie mich liebt. Ihren Hals zu zerquetschen und ihr in die Rehdackelaugen zu schreien, du bist nicht, die die ich liebe, du bist mir eine entsetzliche Last, weil du funktionierst, wie ich will, weil du machst, daß es mir gut geht, löse dich auf, befreie mich von dir, mach es mir einfach, mach mich leicht. Haha, ich weiß nicht, was soll es bedeuten.“ Der Zug gleitet an der Loreley vorüber. Erschrocken, aber auch angezogen von seinen Abgründen klappt er die Kladde zu. Der Fußballprofi steht auf und lächelt. „Du denkst zu laut, Schauspieler!“, sagt er. Er bestellt ein letztes Bier. Der Lautsprecher meldet sich. „Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten, erreichen wir die neue Stadt. Dort haben sie Anschluss mit der S – Bahn um sowieso Uhr in eine der älteren Städte aus Gleis 2. Auf Grund umfangreicher Bauarbeiten kann es zu Gleisänderungen kommen. Bitte beachten sie die örtlichen Lautsprecherdurchsagen.“

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Six

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Bob Dylan / Woman in Red Lion Pub

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6

Löwenmähne dachte er, Löwenmähne. Ihre Löwenmähne, eine gewaltiger wirrer lockender Haarwasserfall, den sie in seiner Gegenwart meistens streng zusammengefasst hatte, doch jeder Regisseur, jede Kostümbildnerin bat sie und meist mit Erfolg, ihr Haar zu öffnen und über die Bühne direkt in die Herzen und Hosen der Männer fliegen zu lassen. Sie liebt es hart, knapp und abgehackt zu spielen, jedes Wort behauen, ziseliert, Kontrolle bis in den kleinsten Finger, nur eines flog und wogte wild, jenseits aller Kontrolle: die Löwenmähne. An der Löwenmähne über die Bühne geschleift schrie das Tier Marie und der gelbe Schweiß des Woyzeck Franz benetzte ihre Haut. Haare, lachte er, da will sich einer die Haare abschneiden, um seine Unschuld zu beweisen. Der Fußballer lachte mit und meinte er lese die Spielberichte gar nicht mehr. Oh doch, er liebte es Kritiken zu lesen, sie selber schon mehrfach vorformuliert habend, mit unmäßiger Heraushebung der eigenen Leistung und dann dieser kleine allmonatliche Schock, wenn da so oft steht nichts, einfach nichts. Der Fotograf plusterte sich auf und sprach von den Großen vor seiner Linse. Der Kellner brachte Weißbier um Weißbier und zum ersten Mal verpasste er die Loreley, denn sie fuhren auf ihrer Seite. Es war ihm zum grässlichen Ritual geworden. Vor etwas mehr als drei Jahren, als er sich für sie entschied, nach langen Monaten des Werbens, Wartens, Gehens, Kommens, war er noch ein verheirateter Mann gewesen. Wenige Tage vor dem Geburtstag seiner Gattin hatte er die legendären Nägel mit Kopfen eingeschlagen, die, die er wollte, hatte ein lautes „Ich will dich doch auch!“ in den verräterischen nachmittäglichen Kissenkampf geschrien, er hat die Nacht durchgetrunken und sich morgens seiner Gattin offenbart. Sein Geburtstagsgeschenk hätte sein sollen: ein Rheinfahrt. Sie taten dies auch, nun verziert mit dem Bändel der Grausamkeit. Und so standen sie auf der Loreley, die Gattin weinte und weinte und weinte aus ihren riesengroßen waidwunden Augen und ihm war kein Umweg zu schade, kein Trick zu billig, um nicht sagen zu müssen: ich liebe: eine andere: nicht: dich. Und jedes Mal auf der Fahrt von seiner in ihre Stadt riss irgendetwas sein Auge aus der Zeitung, dem Text oder der Bierbüchse und er sah hinauf zum Felsen und trauerte, triumphierte oder es war ihm gleich. Es war wie ein kleines Wettspiel mit seinen Instinkten. Diese gewannen immer. Er war auf dem Weg zu einem neuen Denkmal. Ich weiß nicht was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin.

Der Andere war einer von uns. Warten sei die wahre Zeit, sagen wir, lässig die Zigarette in der Hand, lass dir Zeit, siegesgewiß und warm, es kommt wie es kommen muss, das Herz geht dahin, wo es muss und schon greifen wir das Telefon und schmeißen es ins angebetete Glashaus. Jedes kleine Hihi, ich denk an dich, ist eine Nagel. Unsere Wände, sie sind drapiert mit angenagelten Hoffnungen. Wir nageln sie. Wir nehmen sie. Wir belagern. Wir bleiben Ritter. Wir rennen gegen die Wände. Unser Lieblingswort ist der Schrei. Das aufgerissene getriebene himmelsmächtige Maul. Möge Gott der Herr Schwänze hineinstopfen. Ich werde sie malen, ich habe sie geformt, sie ist hart, klar, gnadenlos. Sie ist schön. Das sprach der Andere vor sich hin. Er drückt ihr sein Mantra ins Ohr. Auch er riecht, hier steht ein Burgfräulein auf den Zinnen. Die Luft sirrte von den Handygeschossen, diesen imaginären Sicherungsseilen virtueller Bergbesteiger in einer trostlos flachen Welt. Seine Form war die knappe, der Schmetterball. Er ahnte nicht welch offenes Tor er berannte. Manche wünschen die Uhren liefen rückwärts, er trat dem Stundenzeiger ins Kreuz. Sein Mädchen war pinkeln, das reicht ihm.

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Five

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Bob Dylan / Manhattan Bridge

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5

Er erschrak, als er den Bahnsteig betrat. Es gab Tage, an denen er durch Menschenmassen tänzelte wie ein venezianischer Kellner. Heute jedoch nahm ihm die Wochendendfröhlichkeit der Menschen den Atem und er floh in den Speisewagen. Seinen Tisch teilten ein Fußballprofi eines frisch abgestiegenen Vereins und ein Bildreporter aus einer großen Stadt im Osten, in der er im Frühjahr gearbeitet hatte, den Geist gespielt hatte, der stets das Böse will und … lesen sie ihre Standardwerke doch selber. Kaum hatte der Zug den Fluss überquert und die wehmütigen Türme der großen Kathedrale der alten Stadt waren im Hintergrund verschwunden, hielt der Zug und wurde später umgeleitet. Kinder hatten auf den Gleisen gespielt. Sie hatten. Die drei Vielreiser hatten ihr Thema. Zerfetztes Fleisch zwischen Bahngleisen. Möge der Lokführer seine Träume in den Griff bekommen. Er freute sich zu hören, dass Fußballnationalspieler nachts um 4 betrunken durch die Gassen der Dunkelbierstadt laufen und dumme Lieder singen. Erich Ribbeck saß vor dem Fernseher und polierte derweilen weinend seine Big Bertha. Der Zug hatte die Flußseite gewechselt und er schaute zurück, nach drüben, dorthin wo er noch grüßen sollte, der Schatten des Doms. Es fiel ihm nicht auf, daß er dort nicht mehr zu sehen war. Auf dem Rhein trieb eine Eisscholle vorbei. Der Fußballer sprach von den Spitzen des Eisberges. Sie bestellten noch ein Bier.

„Ja! Ja!“, sagt sie sich immer wieder, „Ich bin eine schöne Frau! Ich bin die Kröte, die sich jeden Morgen selber küsst.“ Heute öffnet sich etwas anderes in ihr als das gute alte Loch. Etwas anderes als dieses ewige Nichts, welches sie seit Jahr und Tag auszufüllen versuchte mit all ihren Sammlungen, den überquellenden Kleiderschränken, nur mit Gewalt zu öffnenden Schubladen voller Ringe, Ketten, Stifte, Broschüren, Frauenzeitschriften, Briefen, ungeöffneten Kontoauszügen, den Tüten voller Schokoladenkekse, die Schuhberge. Jeder Bügel trägt acht Mäntel, zehn Kleider, zwanzig Blusen. Ja, das kann sie: Dinge falten. Sie kann Dinge zusammenlegen. Sie schafft es zehn BHs in einem Briefumschlag unterzubringen. Er hatte ihr geschrieben:

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du verwaltest die liebe wie deinen kleiderschrank.

ein modell, mehrfach erstanden,

in allen farben und schattierungen,

fein säuberlich gestapelt,

warm und wartend,

bereit gelegentlich von dir ausgeführt zu werden,

oder beim nächsten umzug

durch die erinnernd seufzenden hände zu gleiten.

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Natürlich hatte er recht, er hat immer recht. Sie ertrug ihn nicht mehr. Seine ständig ausgefahrenen Krallen. Heute kann sie über ihn lachen. Etwas ist in ihr, das sie wärmt, ihren Schritt befeuchtet. Etwas was ihr panische Angst bereitet. Ja, sie ist schön. Sie ist nicht mehr alleine. „Like a Bridge over troubled water!“ Die Morgensonne scheint in die Küche und hat keine Chance gegen ihr Leuchten. Ich werde ihn nicht umarmen, nein, meine Andere, sie wird es tun. Sie studiert ihre Rolle. Sie schreibt sich ein Drehbuch. Das Handy klingelt. Egon Schiele fragt an, ob er sie zeichnen darf. Sie nickt ein leises JA. Ein Knall, der alle Tauben der Stadt davonfliegen lässt.

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Four

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Bob Dylan / The Bridge

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4

Auch der andere betrat einen Bahnhof, den Bahnhof der neuen Stadt. Seine Freundin reiste an zur morgigen Premiere, ein junges hübsches verhuschtes Mädchen aus dem tiefen Süden, gefärbte Härte, ‚taff‘, wie man so sagt, diese Sorte Mädels, die damals in der großen Pause im Schulhof auf dem Erdboden saßen, Beine über Kreuz, selbstgedrehte Zigaretten rauchten und eben nicht auf Cat Stevens, sondern schon mal auf AC / DC standen, es gibt sie und immer noch und immer wieder. Er gibt den verhuscht mürrisch Verkaterten, sie kennt das und freut sich da zu sein. Auf dem Weg zum Theater plappert er adrenalingetränkt über Egon Schiele, diese morbid bettlakenzerwühlenden Schönheit seiner Mädchenportraits und über das Scheitern. Sie liebt ihn dafür. Er raucht.

Jetzt konnte sie sich sehen. Ihre zweiten Augen klebten auf ihrer Netzhaut. Sie war ein Maulwurf, eine Höhlenbewohnerin. Ihr Vater, er war ein junger gutaussehender – adrett hat das wohl damals geheißen – Schauspieler am Theater seines Intendantenvaters, jener, ein strenger harter gnadenloser Mann, aus dem Krieg hervor gekrochen, bis in die Seele verwundet, gemantelt in den Kokon preußischer Disziplin und Gnadenlosigkeit, hatte in jenem Sommer, den man in San Francisco als den Sommer der Liebe besungen hatte, sich im Schoss einer kleinen Tänzerin verloren und wollte sich, die Unterhose noch in der Hand, davonmachen. Doch die lästige Frucht war da und verbiss sich im Uterus der Mutter. Der Intendantenvater ergriff den flüchtenden Sohn und prügelte, ja prügelte ihn vor den Traualtar. Ein Foto gibt es noch, abgegriffen verweint in einer der vielen ihrer Kisten. Sie sammelt alles. Davon wird noch zu erzählen sein. Man sieht zwei junge Menschen lachend, das verzweifelte Lachen von Todgeweihten, Eingesperrten. Das Maulwurfskind wühlte sich ans Licht der Welt und strahlte klein dunkel pummelig, dem Vater aus dem Gesicht geschnitten, nur die spitze Nase hatte sie von ihrer Mutter mitgenommen. Sie gaben dem Kind einen russischen Männernamen, der zweite Name jedoch war Maria. Die Zeit raste dahin und der Vater war nicht aufzuhalten. Er ging. Es gab so viele Frauen. Er war so jung. Er war so schön. Er war so charmant und er konnte noch nach einer Flasche Whisky eregieren, sagt man. Die kleine Tänzerin holt das Maulwurfskind aus dem Bettchen und es lief ungebremst gegen die Wand. Es hatte über Nacht auf einem Auge 70%, auf dem anderen 30% seiner Sehkraft verloren. Aus den Augen aus dem Sinn. So sagen die Alten. Wenn ich dich nicht mehr sehen darf, will ich nur noch mich spüren. Dort draußen bist du, außerhalb meiner, da draußen weit weit weg und dort muss es auch sein, das Böse, daß dich geholt hat. Du bist nur da, wenn ich es will. Ich sehe dich nicht mehr. Nicht weil du weg bist, ich kann ja nicht sehen. Ich rieche dich. Nachdem ich Dich rief. Sie blickte in den Spiegel und hatte keinen Plan. Ihre Masken lagen im Kleiderschrank und immer noch nicht hatte sie geschrien. Die gute alte Schlange Lüge räkelte sich in ihrem Waschbecken. Ich bin Maria und habe unbefleckt empfangen.

Der andere betritt den Probenraum setzt sich und atmet ihren Duft, der in dem kleinen Theater  hängt, betritt ihre Garderobe und berührt ihre Kostüme, vergräbt sein Gesicht in ihren Rock und erleichtert sich auf der Toilette. „All apologies. Married. Buried.“ Auf dem Weg zurück kommt er an einem alten Theaterplakat vorbei. Ein dicker, schwitzender, jungenhafter Schauspieler blickt ihn an. Woher soll der Andere auch wissen, dass jener vor wenigen Wochen den Leib besessen hatte, den er nun ergreifen wollte. Er habe so schön bitte gesagt. Hatte sie gesagt. Doch dies tut nichts zur Sache. Der Andere tänzelte auf der Probebühne herum, siegestrunken und bereit zuzuschlagen. Sanft streichelte er ihr Foto, welches er seit Wochen mit sich trug. Er hatte sie fotographiert. Auf dem Weg zur Probe. Heimlich. Sie strahlte. Eine SMS verlässt den Raum. Die Liebesbriefe der Armseligen, aus der Hüfte geschossen, Zelebration des intensiven Moments. Sein kleiner schwuler Assistent überreichte ihm einen Kaffee und war ernsthaft und schlank. Er mochte seinen Chef. Er verehrte sie.

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Three

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Bob Dylan / Bicycle

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3

Er war damals geflohen. Nach Kreta. Einer seiner ältesten Freunde hatte sich dort ein Haus gebaut. Ganz im Süden. Eine der letzten Ecken, welche noch keine Teerstraße erreicht hatte. Stolz saßen sie dort: die Lehrer, die Sozialarbeiter, die arbeitslosen Traumtänzer, die davon lebten Oktopusse aus dem Meer zu harpunieren und jene ewig betrunkenen Witwen, die versuchten ihren Söhnen zu erklären, das Sucht kein Ausweg ist, das Weinglas in der Hand haltend. Vor der Kneipe, in welcher sich alles traf, die Illusion und das Elend, das Warten und die freundliche Euphorie stand eine Telefonzelle. Hat jemand jemals die Erfindung der Telekommunikation verflucht? Telefonkarte um Telefonkarte fraß sich in den Schlitz, um aus weiter Ferne eine eiskalte Stimme erklingen zu lassen. „Lieber Anrufer, ich tue Dinge, die sinnvoll sind und Spaß machen.“ Warmes holländisches Bier ran durch seine zittrigen Hände und er verstand einfach nichts, nur das Rauschen in seinen Ohren. Sein alter Freund staunte ihn an.

Sie hatte sich damals in Auflösung befunden. Ihre Regisseurin, eine hagere engelhafte Diva, vom Tode gekennzeichnet, der sie wenige Wochen nach der Premiere ereilen sollte, jagte sie über die Bühne, ihre nackten Brüste schleiften über den Bühnenboden, sie betete und barmte, aber keine Träne floss aus ihrem Auge. Ein kleiner blonder Junge stand neben ihr. Er trug seinen Namen, der auch der Name ihres Vaters war.

Die Bahnhofshalle brummte, der ortsansässige Bundesligaverein, gerade wieder aufgestiegen, empfing den ewigen Meister. Mit stolzgeschwellter Brust, melancholisch und maßlos wie es das Naturell der Bewohner dieser Stadt nun mal war, strebten sie einer sicheren Niederlage entgegen. Er wanderte durch ein Meer von Watte. Gott sei Dank war er im Besitz einer Fahrkarte. Es gibt ja Tage, an denen man seine eigenen Hände nicht findet, wenn man sich kratzen will. Heute war ein guter Tag um eine Niederlage zu feiern, ja, zu feiern.

Sie betrat das Bad, blickte in den Spiegel, schrie nicht, nein schrie nicht, sondern begann zu bauen, zu formen, zu gestalten, was sie sein wollte, sollte, musste in den nächsten Tagen, Stunden. Geheimnisvoll, strahlend und bewundernswert. Bodenlos einnehmend. Sich selbst in alle erdenklichen Formen gießen. Das Bad ist ihre Heimat. Sie wusste, er erwartete ihren Anruf. Auf der Hinteren Bleiche klingelte ein Fahrrad.

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(Mainz / Oktober 2000)

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