Nachricht aus dem Nachlösewagen 01

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Ich renne. Es ist glatt. Gestern hatte es noch geregnet. Warmer Südwestwind zerrte an meinem Schal. Über Nacht drehte der Wind auf Nordost. Andeutungen eines Sturmes und die Bürgersteige wurden glatt. Über Nacht. Ich hatte mir zum Jahresbeginn eine Rentnerkarte gekauft. Im Abo. Etwas über € 30.- werden mir nun monatlich abgebucht. Dafür kann ich jeden Tag ab 9h Busse in Stadt und über Land, Züge, solange sie nicht zu schnell sind, in dem Bundesland, in dem ich wohne, benutzen. Fahren. Fahren. Wohin aber? Ich habe mir eine Landkarte gekauft und mit spitzem Finger auf zukünftige Ziele gezeigt. Als Bube hatte ich den Diercke-Weltatlas so gut wie auswendig gelernt. Im Fingerreisen war ich damals schon ein Marco Polo unter meinen Freunden. Heute will ich los. Es ist glatt. Ich renne, aber sehr vorsichtig. Eigentlich setzte ich nur einen Tippelschritt vor den anderen. Zu mehr reicht die Kraft nicht. Der Alkohol der letzten Tage lässt die Oberschenkelmuskulatur sich zusammenziehen. Unter meinem linken Arm eingeklemmt die Mutter aller Porzellankisten. Ich bin ein geborener Deutscher. Nun ja.

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Der Zug steht regungslos am Bahnsteig. Niemand da. Vor dem Zug. Auf dem Bahnsteig. In den Triebwägen. Die Motoren aber laufen, tuckern, es riecht nach verbranntem Diesel. Auch wenn ich mir das lediglich einbilde. Da, am Ende des Schienenbusses ist er, der Nachlösewagen. Kurz freue ich mich wie ein Kind über die Worte „Schienenbus“ und „Nachlösewagen“. Dann steige ich ein. Zwei, drei steile, rutschige Stufen, eisenbegittert, nach oben. Meine Oberschenkel brüllen mich an. Ich bin drinnen. Ist es im Waggon sogar etwas kälter als draußen? Ich ziehe meinen Schal enger um den Hals. Es windet wenigstens nicht hier im Inneren des Zuges. Ich denke an Jonas, den Wal. Ich schaue mich um.

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„Hallo? Ist da jemand? Ich würde gerne eine Fahrkarte nachlösen. Hallo?“

Die Maschine wird lauter. Es klingt, als gäbe der Lokführer fest entschlossen Gas. Ich friere. Ich friere auch nach einer halben Stunde noch. Nichts ist geschehen, aber laufende Motoren unter meinen frostigen Füßen.

„Guten Tag? Wo wollen Sie denn hin?“

Ich drehe mich um. Eine sehr kräftige Schaffnerin, Damenbart, grüne Strähnen im Haar, die unter der Dienstmütze hervorlugen, steht hinter mir. Sie raucht einen Zigarillo.

„Ich weiß noch nicht so recht. Wo fahren Sie denn hin?“

„Tja. Wenn ich das wüßte. Der Lokführer hat sich noch nicht entschieden.“

„Warum?“

„Weil er noch gar nicht da ist!“

„Aber entscheiden nicht die Schienen über das Ziel, welches wir ansteuern werden?“

„Glauben Sie auch noch an das Christkind?“

„Aber Sie verkaufen doch Fahrkarten? Prinzipiell? Hier im Nachlösewagen?“

„Gewiß. Wenn wir denn fahren werden.“

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„Allein machen sie Dich ein!“ (TSS)

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Der- oder diejenige wäre heute so und so alt geworden. Einlassungen dieser Art wollte ich hier eigentlich ab sofort vermeiden. Beginne ich also die mir selbst verordnete Regeländerung mit einer Ausnahme. Einer noch. Einer.

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Wer fünfzig Minuten Zeit hat sich im Netz zu versenken – mit lieben Grüßen an die Rentner und anderweitig Gelangweilten, die hier ab und zu reinschauen – diese Dokumentation ist sehr empfehlenswert. Best of quasi.

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Das neue Jahr begann so, daß ich kurz meinte mich davor fürchten zu müssen. Es steht an eine 50Jahresfeier in Sachen Hochschulreife unten am Bodensee. Im Vorfeld trudeln Mails eines Klassenkameraden ein. Warum ich AfD wählen müsse und wenn nicht, solle ich ihm das erklären. Weia! Das ist wohl erst der Anfang. Raus aus dem Netz? Klassen? Treffen? Meinte dies Rio Reiser, als er davon sprach, sich nicht zensieren zu können? Eher nicht?

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Noch ein letztes Zitat – auch die werden hier ab morgen rausfliegen – weil es so schön passt zu einem schmerzlichen, aber nötigen Abschied am Ende des letzten Jahres. Nicht mehr Robert Zimmermann singen in Gießen. Nee.

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„Bei Rockmusik geht es um Ekstase und Wut und nicht um Timing und Virtuosität!“ (Rio Reiser)

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Demnächst hier Nachrichten aus dem Nachlösewagen. Ein letztes Video.

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„Und dann fängt man eben an, Mist für Gold zu verkaufen, und so einen Unsinn zu reden, wie ich es da geredet habe.“ (Ricarda Lang nachdem sie fortging)

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Konschtanz / Stadtgarten / Weihnachtsmarkt / Freitag Der Dreizehnte Dezember 24 (Foto: A. Haas)

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Wieder mal Zeit für eine Pause hier. Den Restadvent nutzen, um drüber nachzusinnen, what the fucking x-mas-hassle is all about originally. In den rauen Nächten Zwiegespräche halten mit den Gespenstern. Den Anderen gelegentlich. Vor allem jedoch mit den Eigenen. Und in Erwartung des kommenden Jahres den Zeigefinger kürzer schleifen und sich nicht in Bitternis rumwälzen, weil die Welt, die man gerne externalisiert statt ihr beizutreten, nicht nach der eigenen Pfeife tanzt.

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Also ein besinnliches Fest begehen (Oh schöne alte Sprache, in die ich hineinwuchs!), wenn es dann ansteht und weil uns Donald nächstes Jahr Frieden auf Erden machen wird, müssen wir nicht auf den Dritturlaub verzichten, um ein braver Erdenwürger zu bleiben. Die Verschärfung des Klimas fällt aus nach Ansage vom Vorjahr und weniger denken vor all diesen Wahlen, hüte, oh hüte dich vor all den Qualen, gelle, Germania. Ach.

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Rauer die Nächte nicht werden, die Tage vielleicht gelegentlich

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Ab 2025 in neuen Strümpf

Vielleicht auch löchrigen Socken

Neugeboren runderneuert

Wird Erlösung angesteuert

Ampelbefreit sind wir bereit

Zur größeren Wende

Mit vollem Beutel Weltenende

Besingend händeringend

Weiterhin

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Oder nimm am Weltenkummer teil

Mach sie heil biete feil

Auf den Märkten eig’ne Häute

Nicht das Portmonnaie der fremden Leute

Auch Kleingeld klappert

Laut gelegentlich

Zur Not hilft auch ein Gin

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Besinnliche Zeit gewünscht von hier. Bis denne.

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“Es ist alles nur geliehen auf dieser schönen Welt!” (Heinz Schenk)

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Eine Küche in Gießen / Innenstadt / Februar 2023

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„Im blauen Bock, beim Äppelwoi,

Da laß dich ruhig nieder.

Da komm´n nur gute Menschen rein,

Und singen frohe Lieder.

Und warst du erst ein paarmal treu,

Dann sagst auch du beim Gehn.

Im blauen Bock beim Äppelwoi,

Da gibt’s ein Wiedersehn.

Im blauen Bock beim Äppelwoi,

Da gibts ein Wiedersehn.“

Im Jahre 1966 kaufte mein Vater unserem Haushalt den ersten Fernseher. Schwarz-weiß. Eigentlich die einzige Farbkombination, in der man Geschichten ernsthaft erzählen mag. Eine WM stand an. Uns Uwe. Der junge Franz. Emma. Sigi, mein Held. Das dritte Tor. Hans der Tilkowski.

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Ein Fernseher tat es nicht von alleine einst wie heute auf Knopfdruck. Antennen mußten her. Ästhetische Dachverzierer, aufsaugend fremde Wellen und Schwingungen zu Diensten stehend den erwartungsfroh Schauenden. Oft aber lediglich blieb Rauschen und Nebel grieselnd und eine Ahnung nur von der Welt. Mein Vater kletterte auf dem Dach rum, die Antenne zu fixieren, zu richten gen Hamburg, Mainz oder Stuttgart. Die Mutter in berechtigter Panik ob der Sandalen des Dachbesteigers. Der Bube bewundert jedoch, muß aber nach unten und über zwei Stockwerke hoch brüllen, ob da mehr als Rauschen und Nebel grieselnd wäre zu sehen. Oben auf dem Dach wird geflucht. Der Bub zu leise sei. Die Fünffingerrüge später folgte auf den Fuße. Also auf die Backe. Zwei Stockwerke tiefer dann.

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Es war ein warmer Samstag. Juni oder Mai. Und die Kiste sprang sichtbar an. Zwei Sender nur. Wir wählten die Eins. Und da isser. Der Heinz Schenk. Frühkindliche Prägung. Wäre der FC Blauer Bock ein Fußballverein, jetzt noch wäre ich knallharte Kurve. Und Reno Nonsens mein ewiger Hrubesch.

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Das Bühnenbild aka der Hintergrund war eine fürchterliche Halle, ein Gemeindesaal oder ein Bürgerdings. Wo? Hessen. Was ist das? Wo ist das? Hätte mir damals jemand geflüstert, daß ich in diesem Bundesland, welches mir damals schon, ich saß am Ufer des Bodensees, als eine gnadenlose Manifestation obskurer Hässlichkeit? Immer noch ist es mir nicht möglich Äppelwoi zu trinken. Ich kann etliche Dialekte bundesweit nachäffen, aber dem Hessischen verweigern sich Glottisschlag, Stimmlippen und meine Zungenmuskulatur. Marmoush oder Yeboah hin oder her. Warum ich hier bin? Weil ich hier halt lebe. Jawoll Frau Wirtin. Das Loch im Eimer blieb.

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Heinz Schenk ist gebürtiger Mainzer. Dann ließ sich Schenk irgendwann zum Vorzeigehessen ummodeln. Unser David Bowie heißt Heinz Schenk singt es in einem der traurigsten und schrägsten Songs der Republik. Ich lebte wenige Monate in Mainz, welches ich, ohne groß zu klagen und trauernd hoffnungsfroh gegen Kölle eingetauscht hatte, um nach einer emotionalen Höllenfahrt in Hessen zu stranden. Ich mochte Heinz Schenk.

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Nie vergessen: „Herr Schenk, ich habe Sie in der Sportschau gesehen. Olympia in München. Sie sind beim 400m-Rennen mitgelaufen. Warum hatten Sie denn eine rote Krawatte umgebunden?“ „Das war meine Zunge!“ Morgen tät er dann 100 Jahre alt gewesen sein. Frau Wirtin! Ein Bembel!

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“It’s a sad and beautiful world.” (Zack)

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An der Lahn bei Naunheim / Lockdown / Mai 2020

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Im Jahre 1986 fiel im Gefolge von Jim Jarmushs “Down by law” Tom Waits, mit gehöriger Verzögerung, auch in Deutschland in die geneigten Ohren. Zu dieser Zeit pendelte ich zwischen Köln, Düsseldorf, St. Gallen, Münster und Basel jungschauspielernd. Viele Nächte in stets pünktlichen Zügen verdöst. Und egal wo ich ausstieg, in den Wohnungen oder Kneipen, lief die 80er Jahre Trilogie Swordfishtrombones, Rain Dogs und Frank Wild Years in Heavy Rotation. Und überall erzählte man sich die Mär vom trinkenden, einsamen Streuner aus LA. Dabei hatte der 1980 seine Frau Kathleen Brennan kennengelernt und den Whiskey in die Ecke gestellt. The Piano wasn’t drinking anymore.

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In Köln aber feiert bis 1993 Gerd Köster und das Klavier dat immer noch jesoffe hätt, den Barden mit dem kleinen Hut. Der kleine Hut blieb mir irgendwann.

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Die Welt war traurig und wunderschön. Damals. Schon immer. Und blieb sie auch dann fürderhin. Mal so oder eben so.

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 Roberto: It is a sad and beautiful world!

 Zack: Yeah, it’s a sad and beautiful world, pal. Eh, buzz off.

 Roberto: Ah, thank you! Buzz off-a to you, too.

 Zack: Buzz off!

Roberto: Ah, buzz off. Buzz off? Buzz off? It’s – it’s a sad and beautiful world. Buzz off. [writes it  down in a pocket notebook]

Roberto: Buzz – off. Good evening, buzz off to everybody. Oh, thank you. Buzz off to you too. Oh, it’s a pleasure. Thank you.

 Zack: [takes a swig of beer, starts singing] O-we, now, now, it’s a sad and beautiful world, It’s a sad and beautiful world, It’s a sad and beautiful world, It’s a sad and beautiful world …

(Dialog / Down by law / Roberto Benigni / Tom Waits)

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Heute wird er 75 Jahre alt der Mann, den ich in den letzten Jahren etwas aus den Augen und Ohren verloren habe. Bereiten wir ihm zu Ehren einen Hasen zu. An den alten Lagerfeuern. And then we all scream-a for icecream-a.

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Wieder die Monochromatisierung der Welt monochromes Erinnern setzen?

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Blick auf Frankfurt / Dezember 2023

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Seitdem ich hier wohne, wurde mir immer wieder von zu oder neben Gießen Aufgewachsenen, Gestrandteten, Lokalideologen oder Gazettenschreibern Peter Kurzeck ans Herz und in den Bücherschrank gelegt. Ich fremdelte. Nichts gegen ein exzessiv manisches Erinnern einzuwenden, aber aus jedem Stolpern, Holpern, sei es zu Staufenberg, Gießen, Paris oder dem Rest von Frankfurt, aus jedem abbessinischen Herrenschneider, jedem hier oder dort genossenen Käse jeglicher Herkunft, dem Opel Admiral und jedem nicht so fest wie erwartet angenähten Knopf am alten Mantel die Welt erzählen zu wollen? Muß man mögen. War mir nicht vergönnt. ABER:

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Zum letzten Geburtstag hat mir die Gattin das letzte(?), posthum veröffentliche, Buch von Kurzeck geschenkt. Ich hatte vor Jahresfrist Teilchen davon vorgelesen. Ich muß sagen: es war mir eine erkennende Freude. Vielleicht hat es was mit der Zeit zu tun, in der der Roman angesiedelt ist. 1977. Der deutsche Herbst. Ich studierte pro forma in Konschtanz Politik und Geschichte. Gelegentlich hielt der damalige Generalbundesanwalt Rebmann da oben auf dem Berg vor der Stadt Vorlesungen ab. Hubschrauber kreisten über dem Gelände, welches weitläufig abgesperrt wurde und bebrillte Anzugträger mit Beulen in den Jackentaschen fluteten die Hörsääle und manchmal wurde man abgetastet. War man genauso dämlich stolz drauf wie der damals dauertrunkene Autor Kurzeck an den Grenzen zwischen Germania und Frankonia. Im Audimax hatte doch gestern noch Herbert Achternbusch gelesen. Whiskybewaffnet.

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Vielleicht hat es was mit einem Namen zu tun. Sybille. Meine erste Gattin, die mir im Rückblick eine Vermeidbarkeit bleibt ewig. Schlau immer später und immer zu spät. Jedoch: der Schriftsteller erzählt davon Schriftsteller werden zu wollen und trotz allem Gejammer – auf jeder zehnten Seite – über die Abwesenheit von Geld, während er sich Tag und Nacht durch Kneipen hangelte und sich kokett volllaufen lässt: ich mag ihm folgen.

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Viele Freunde und Weggefährten gewährten ihm Unterkunft, Asyl, Schreibtische, Schränke voller Alkoholica und Plattenspieler und Kassettenrecorder. Und dann schreibt er manisch vor sich hin und hört dabei sein Lied. Fremde Kassette. Natürlich hundertmal hintereinander. Emotionaler Sparfuchs. Muß man mögen. Letzte Woche mochte ich es.

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Was ich begriffen habe. Schau ich aus dem Fenster, sehe ich wie der Welt systematisch die Farben entzogen werden. Gießen ist bunt? Lächerlich. Je lauter Vielfalt und bunte Fahnen schwenken beschrieen wird, um so grauer und uniformierter gebärdet sich die Welt. Besuchen Sie morgen einfach einen Weihnachtsmarkt. Vielleicht ist das der Kunstgriff Kurzecks, der der schon vor Jahrzehnten eingetretenen Abschaffung der Lebensfarben eine monochrome Erzählung in Dauerschleife entgegensetzt. Kann man tun.

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Keine Erwartungen. Und untiges Lied erwähnt er auch gerne in diesem Buch. Die ewige Liebe? Blödsinn. Durchhalten. Versus Dauerschleife.

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„Das Leben ist einfach, einfach zu schwer. Es wäre so einfach, wenn es einfacher wär!“ (Till Lindemann)

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Süddeutschland / Engener Steig / Grüne Weihnacht / 2014 oder 2022

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In Sachen Übertitelung: auch ein Arschloch oder wie ich gerne sage: ein Vixfrosch kann ab und an Gehaltvolles äußern. Mein RA Gewehr bei Fuß.

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Saß eben visavis des stillgelegten Riesenrads von Gießen. Tageslektüre. Es bewegte sich das Riesenrad, welches nun nicht mehr leuchten darf. Man sucht wohl den Fehler. Das verletzte Kind sei dem Krankenhaus entronnen. Jubiliert das Stadtmarketing. Ich kann nur hoffen, man findet ihn nicht, den Fehler. Warum Städte vermarkten? Verschont besser die Städte vor kompletter Verwahrlosung. Und das sind eben nicht die Säufer und Junkies und Durchgedrehten und die hoffnungslos verlorenen Migranten, die vor allem dazu beitragen. Es sind die manischen Konsumenten. Ab in den Wald.

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Adventstraum

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Wie ich jüngst vor dem Parkhaus stand

Die Schranke fest geschlossen

Nach Weihnachtsmarkt stand uns der Sinn

Und draußen hat’s gegossen

Aus der Vorstadt reisten wir

An mit Freude groß

4ter Advent und 15 Grad

Was ist da draußen los

Auf dem Rücksitz weint die Tochter

Der Bube starrt auf’s Telefon

Der Gatte auf dem Nebensitz

„Das hast du nun davon!“

Er hätte gerne ferngesehen

Wintersport bis in die Nacht

Dazu das ein‘ und andre Bier

Weil ihm dies Freude macht

Ich krallte mich am Lenkrad fest

Atmete voller Inbrunst ein

Auch Maria mit dem Kind im Bauch

Stand vor verschlossner Tür allein

Dacht‘ ich

Als es an meine Scheibe klopfte

Und ich wachte auf

Wie gut daß wir zu Haus‘ geblieben

So machten wir uns auf

Zu einem Spaziergang durch den Wald

Freuet euch

Weihnacht ist bald

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(Gießen gestern / heute Schneeregen / leises Rieseln / Dylan singt dazu / Flake übernimmt)

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“Es geht darum die Getreidepreise in den Versmaßen zu erkennen.” (H. Detering zitiert einen alten Lehrmeister)

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Karlsbrücke / Prag / Ende Oktober 2012

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Dieser Tage hat mir ein ehemaliger, damals wichtiger, Wegbegleiter einen Hörtip weitergeleitet. Dafür sei großer Dank. Die 40 Minuten lohnen sich. Sehr, wie ich meine. Also anhören erst, dann weiterlesen. Gelle.

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Heinrich Detering, ein praktizierender Katholik, der bei den Grünen aus, dann bei den LINKEN eintritt, über Dylan, Goethe, die Sprache der Rechten und Okölogie und und und arbeitet und auch noch dichtet. Und all dies zwar in extrem professoraler Schnellspreche und -denke, aber komplett dünkelfrei. Besser kann man die Freiheit zum Denken kaum definieren.

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Via Bob Dylan war mir Herr Detering seit einigen Jahren ein treuer Begleiter. Seit ich gelernt hatte halbwegs gehaltvoll zu denken, war mir stets die Frage wichtiger als die Antwort, die Ambivalenz näher als die viel besungene Haltung und der Zweifel hatte stets Vorfahrt vor dem großen “SO IST ES DOCH!”. Ob dies mir in all den mäandernen Gesprächen, Streits und Beleidigtheiten auch, immer gelungen? Eher nicht. Mögen aber andere beurteilen. Den Stimmen aus der Unterwelt höre ich weiterhin gerne zu. Jedes Mysterium zu entschlüsseln hüpfe oder hinke ich nicht auf dieser Welt herum. Wahrscheinlich landete ich so über kurz oder länger bei Bob Dylan.

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Auch mir wurde selten langweilig mit Herrn Zimmermann. Langweilig ward es mir nur, wenn mir, wissend um meine enge Beziehung zum Werk Dylans, ein Gegenüber glaubte erklären zu müssen, wer Dylan „wirklich“ ist. Und überhaupt. Und so. Und das der Blues aber anders. Ist. Und generell. Was der Bauer nicht kennt, aber halt belehrt. Vor vollen Tellern wir verhungerten.

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“Our revels now are ended. These our actors, as I foretold you, were all spirits, and are melted into air, into thin air.” (Tempest / Shakespeare)

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Und so endet unser Sehnen, unser Schwelgen, einem abgespielten Schauspiel gleich, wie ich Dir schon damals versuchte zu sagen, als Geistertanz und verwirbelt sich in die Lüfte, die dünnsten Lüfte.

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When we said good-bye, love

What had we to gain?

When I gave you my love

Was it all – in – vain -?

(Dylan / Shakespeare / Prospero / Der Wind / Die Hoffnung / Karl Marx?)

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„Lässt Christmäss Ei gev Ju mei Hartt!“ (Schorsch Meikel / Helmut Cabbage)

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Riesenrad versus Dom / Erfurt / 9. Oktober 2021

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Oh wie ist das schön oh wieder schon

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Der Oberbürgermeister leckt am Glühweinbecher

Er tut dies nur aus Pflichtgefühl

Ein Pope ist nunmal kein Zecher

Und wenn nur in der Sakristei

Keiner nur der Herr dabei

Es regnet Hund‘ trotzdem Gewühl

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Im Hintergrund ein Riesenrad

Sich dreht und windet

Beleuchtet Nachbars Schlafeszimmer

Es zählt nur dies und das auch immer

Das eigne Freud auf fremdem Terräng stattfindet

Uns geht es gut denn Ander‘n schlimmer

Soll’n sich nicht so anstellen

In ihren Schützengräben

Eben

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Man wärmt und jung die Hände sich

Steht dichtgedrängt am runden Tisch

Gepanschter Mist glüht in den Tassen

Mein trunken‘ Hirn kann es nicht fassen

Und immer wieder dieses Lied

Obskure Sehnsucht schunkelt mit

Und das wohl noch vier Wochen

Oder so

Advent Advent oh jemino

Wie ist die Lage?

Fragen wir den Lorenz Flake

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PS und Aufdatierung vom 3. Dezember: Man verzeihe mir die mitschwingende Schadenfreude. Nach wenigen Tagen verletzt das neu erstandene, in Gießen jungfräulich eingesetzte, Renommier-Riesenrad ein Kind schwer und muß stillgelegt werden. Ein weiterer Spezial dieser an durch Geldmacherei verursachten Kuriositäten reichen selbsternannt größten Kleinstadt ganz Hessens. Mir tut unser Nachbarsjunge leid. Der wollte täglich Riesenrad fahren.

Von unsereren Freiheiten und der Alternativlosigkeit des Chromosoms XX

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Hellas / Agäis / Leros / Bruuuce waiting for us / 18. August 2016

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Frau Merkel hat ein Buch geschrieben. Warum nur? Es wird gewiß niemals in keinem meiner Bücherschränke landen. Weder in dem Einem noch in dem Anderen. Und ich habe auch keine solchen Feinde, denen ich das Ding zu Weihnachten schenken könnte. Es lebe die doppelte Verneinung!

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2016 unternahmen wir eine wunderbare Inseltour durch die Agäis. Kos. Kalymnos. Leros. Patmos. Kos. Jede Insel ein eigener Motorroller. Meine liebste Urlaubsfreude. Auf Leros vermietete uns eine Klischeeinselhippie – zum Zopf gebundene lange Haare, eine behaarte Statur wie Achilles und ein wortloses Lachen im Gesicht – einen kleinen blau kompakten 50er. Möchte nicht wissen, was der mit dem angestellt hatte. Er war höllisch laut. Fuhr in der Spitze über 80km/h und jagte brüllend jeden Berg hoch. Auch mit zwei Passagieren. Als Achilles uns das Gerät vor unserem Hotel übergab und ich ihm meine Liebste vorstellte – Merkels Vorname – sagte der alte Freak nur: “Be careful with your name in this country. Better change it for this week!”

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Das blaue Kraftteil nannten wir dann “Bruuuce”. Er erinnerte uns an den unermüdlichen Schreihals Springsteen. Der schreibt ja statt zu singen auch viele Bücher meanwhile. Ich liebte dieses blaue röhrende Teil. One Two.

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Zu der Zeit wurde ich von einem Triumfeminat regiert. Staat. Stadt. Arbeitsstelle. Was die drei Damen (vom Grill?) verband? Das scheinbar zugeneigte aka aktive Zuhören – “Ja! Genau! Verstehe ich! Sehe ich ähnlich! Meinen Sie?” – wobei aber die letztlich folgenden Be- oder Entschlüsse meist auf ein ausgeprägtes Bewußtsein in Bezug auf die eigene Machtfülle hinwiesen. Fast schon XY. Weil ich ein Mädchen bin. Ich hatte einst davon gesungen. Im Nachhinein wohl eher recht peinlich. Trotzdem.

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Anfang 2015 waren die Griechen am Ende. In den Augen der deutschen Regierung. “Isch over!” Die “Dummbatze und Anarchos” Tsipras und Varoufakis halt. Schäuble was not amused at all und hatte Spaß an Herabwürdigungen. Dann folgte der Sommer, in dem Deutschland erkennen sollte, daß es das alles schafft, was da noch bevorsteht. Den folgenden Rest im Folgejahr sollten dann die Hellenen übernehmen. Moria gelle, Angie!

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2016 am vorletzten Tag auf Kos – der Roller dort war eine lahme Ente, da ich mich auf Patmos mit dem dortigen überdrehten Roller auf die Nase gelegt hatte – fanden wir an einem der noch nicht von TUI und Condor zerstörten Strandabschnitte hunderte Kinderschuhe, Schwimmwesten, Reste von Schlauchbooten, Plastikflaschen, Exkremente, nicht zu Ende gebaute Hotelanlagen, welche als Notunterkünfte genutzt worden waren. Zerbrochene Brillen. Kinderspielzeug. Püppchen. Reisetaschen. Adidas. Nike. Reebok. Fußballshirts. Liverpool. Bayern München. PSG. Real Madrid.

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Frau Merkel hatte sich inzwischen – natürlich nicht nur sie – mit dem lupenreinen Demokraten Erdogan darauf geeinigt, ihn fürstlich bezahlt, daß die armen Schweine doch bitte da drüben in der Türkei gegenüber. Usw. Gibt doch Fernseher überall. Adidas. Nike. Reebok. Liverpool. Bayern München. PSG. Real Madrid. Ronaldo, Messi trallala. Die Kopie der Kopie.

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Heute in der FAZ zu diesem Thema: “Wer glaubt, dass man die Vergangenheit nicht mehr ändern kann, hat noch keine Memoiren geschrieben.” Danke dafür, Herr Martens. Auf ins gelobte Land. Mit dem Boss. Oder einer Bossine.

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PS: Auch mein Erinnern lebt von wohlfeiler Ausgestaltung der Lücken der Erinnerung. Lücken drücken auf’s Gemüt. Man neigt so zur Überdekoration.