bagatelle dreißig / boomers lamento

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Vorbemerkung / Wenn ich so die Emanationen meiner Alterskohorte, also die Speerspitze der sogenannten Boomer, viele kurz vor und etliche schon drin in den Ruhejahren, lese, vor allem wenn noch die gute alte rote Fahne dezent oder eindeutig über den Texten flattert, und, geschätzter Leser, da rechne ich mich auch dazu, ist mir gerne frei nach Dylan, den ich diese Woche – Achtung Boomer, böses Jugendwort! – „abfeiere“, mal wieder in fremde Schuhe zu schlüpfen. Was ich im Folgenden aus aktuellerem Anlaß mit großer Freude tue. Sonst nix.

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Von den Elfenbeintürmen narzißtischer Kränkung

Belle ich hinunter einem waidwunden Muezzin gleich

Meinen Ekel an der Welt beschalle die Passanten Paare Hunde

Mit Gesängen von einer versinkenden Welt die so

Es nie gab denn in meinen pinkfarbenen Erinnerungen

Mit dampfendem Bügeleisen glätte ich die verknitterten Reste meines

Mit rot blinkendem Verfallsdatum versehenen Lebens

Turbogetrieben mich echauffierend über die Bagatelle

Unermüdlich über Bildschirme wischender Mädchenfinger

Phantasiere ich herbei immer noch

Unermüdlich das Ph den Banausen entgegen schreibend

Den Weltuntergang Erwachet

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Kinderlärm trifft meine sensible Seele härter als das

Brummen und Röhren der Bomberflotten die

Eltern einst in den Luftschutzkellern den Bunkern denen ich

Jahrzehnte lang den Großen Vorwurf vor die Spendierhosen geknallt

Abgründe Traumata maßgeschneidert handgearbeitet

Gedrechselte Einzelstücke stelle ich in das Schaufenster Reflektion

Angestrahlt in allen Farben des Selbstmitleides

In den Tagen und Nächten des Stöhnens und Lamentierens

VEB Eitelkeit

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Niederlagen auf eigener Scholle selbstverschuldet Hingeschludertes

Wird erklärt ex cathedra in stolzgeschwellter Amnesie zu

Gloriosen Auswärtssiegen das entscheidende Tor eben selbst erzielt

Stets wird es gewidmet dem Heldentum der arbeitenden Klasse da

an den Stränden Griechenlands Hollands Goas vor den Geysiren Islands

Erholung finde ich vom Nachdenken über das arme Subjekt

Spieglein Spieglein an der Wand

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Reckt jemand die Faust unter die Nase mir jedoch in Wortlosigkeit

Schlägt zu meine Tür verriegelt sich hastige Rolläden rauschen hinab

Der hektisch klappernden Tastatur schwillt der Bizeps und holt aus

Zu beidhändiger Rückhand gegen den Bedeutungsverlust

Halt an Zeiger oh halt an

*

Pflanzen wir doch Gurken

Oder

Helfen wir einem Kind

über die Straße

das alte Liedlein lediglich summend

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bagatelle neunundzwanzig / ostwärts

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Westward ho die Pfiffe das Schnalzen der Peitschen

Scheuende Pferde ausbrechende Rinder Stampede

Staub auf der Mattscheibe des kleinen rauschenden flimmernden

Fernsehapparats große Bubenaugen von da an der lange

Traum die Strasse nach Westen hinunter und raus und

hinein in rote Sonnenbälle nicht enden wollend

Reiten fahren sich reden sich fluchen keine Minute älter als

Die Vorherigen liegen lassen

Irgendwo am Rande der Welt werden wir das Gold schürfen

Heute wo es begann am letzten Zipfel der Republik kniend

Der Blick gen Osten neuen Tag erwartend

Ihm schon nachsinnend

oh Eos

(Konstanz / Hörnle / Sommer 2008)

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PS: Als ich dies eben schrieb, sang Bruuuce dazu. Schöne Coincidencia.

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PS2: Danke der lieben Gattin für das Foto.

bagatelle achtundzwanzig / grinsekatze glitt aus teflonpfanne auf die bühne

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Las die Zeitung ein Zitat von Mickey „Bad ass and distorted face“ Rourke

I hate actors. They are some oft the creepiest puke – asses I`ve met in life

Denke an Walter ein schwarzer Riese mit Boxerhänden und der

Seele eines neugierigen Schmetterlings

Schauspielcoach aus NYC ich war sein Übersetzer einige Wochen lang

Wie er schwärmte vom Boxer im Mimen Rourke

In der alten Schokoladenfabrik in Köln

Marathonsessions Seele aufrubbeln sich selbst durchsieben bis an

und über Grenzen hinaus Zeitreisen das Erinnern üben an alle Bagatellen

gefährliche Spiele manchmal

aber eines will ich

nicht vergessen den Rat des stets lachenden schwarzen Riesen

you gotta have commitment man commitment

wenn Dir nicht nach Grinsen ist tue es nicht du bist

Künstler keine Teflonpfanne

Und ehre deine Wunden die sind Dein Benzin

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bagatelle siebenundzwanzig / slubice 2

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wütend

müde

mütend

einen nagel in den pudding gehämmert

passt wackelt keine luft

dein duft irrt immer noch

rum in den

vernachlässigbarkeiten

gestern stolperte ich

über das vergessen

blieb liegen

heute graupelschauer

der winter winkt mir hinterher

herzensmuskelkater

ein lied meine bagatelle

ein lied noch erinnernd

immer und hin

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(frankfurt an der oder / 1999)

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bagatelle sechsundzwanzig / für h.h.

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Saß am Grabe eines alten Lehrmeisters fröstelnd

In der Sonne kalter Aprilseuchenwind Wollschal

Immer noch den Hals engend

Dachte an seine Unerbittlichkeit

Erlernt bei Beckett Tabori Barlog Kortner wenn wir beugten

Verhunzten die Worte aus fremder Feder auf der Bühne

Gedankenlos den Beliebigkeiten fröhnend

Dachte an seine Rabbinergüte die ewig brennende

Zigarette Whiskeyglas mein Hirn noch

Verklebt von den Scheißstürmen der gegenwärtigen

Hysterien was er verschmitzt sagen würde

Nun und schämte mich wohltuend meiner

Aufgeregtheit um die Bagatellen

Baumelnd an den Angelhaken der Binse

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bagatelle vierundzwanzig

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Ich las es seien die Bagatellen

Was man die Erinnerung nennt

Ein achtlos hingeworfenes Lachen

Das kurze Stolpern über eine Treppenstufe

Ein Schritt ins Leere dachte ich an die letzte Nacht

Der Geruch frisch gewaschener Hände

Dieses Räuspern nach einer Frage

Die zu stellen fehlte der Mut

Blieb eine Fotografie welche ich bewahrte

Ein Maler schuf danach ein Porträt skizzenhaft

Mit fremdem Auge blicken auf die verlorene Haut

Der Kirschkern Zweifel rumort im Magen

Ich spucke ihn aus mit aller verbliebenen Kraft

Er landet auf den Spitzen meiner Schuh‘

Weiter ging es nicht

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bagatelle dreiundzwanzig

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Las in einem Interview*

Alles komme als Schicksal zurück was nicht steige

Ins Bewußtsein und von der Möglichkeit die Vergangenheit

Zu befreien aus dem Kreiseln des Derwisch Schicksal

So wie ´Awrence der da nichts geschrieben steht zurückritt

In die Wüste was ich sah als Junge an der Seite meiner Mutter

Erschlagen von der Breitwand und dem fürchterlichen Satz des

Bewunderten Omar Sharif von Allahs Willen dem zu widersprechen

Zwecklos sei akzeptiere Gottgegebenes der Junge an der Hand der Mutter

Nach Hause wankte er und wünschte nie sei etwas geschrieben außer dort

Wo Peter O´ Toole der mir Schrecken einjagte tippte sich an seinen

Sonnenverbrannten Turbanschädel da drinnen ist es geschrieben

In meinem heißen Hirn und der Junge träumte davon in der Wüste

Einmal schreien zu können ´Awrence und entgegenzureiten

Dem Leben das nicht Sandkorn nicht Bagatelle sondern Versprechen ist in

Eigene Hand gegeben später würde er dann selbst

Umkehren nichts steht geschrieben reite hinaus

Junge steht es geschrieben

Was weißt du denn schon Junge

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*Beziehe mich auf ein Interview mit Christian Kracht, welches am 3. März in der SZ erschien.

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bagatelle zweiundzwanzig / aug. `99 / tangled up in slubice

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Auf dem Bahnsteig der Grenzstadt

in der ich den Maschinist mimte in Schopenhauers Salon

Setz Dich zu ihm er ist nett er ist klug er zeigt Dir die Hauptstadt

Sagte ich zu ihr und ging dann über die Brücke

Billige Zigaretten und Fusel zu kaufen der Grashalm verleihe mir die Kraft des Büffels

Man hatte mir erzählt in Slubice auf dem Markt bekomme man alles

Schnaps Frauen Waffen Drogen einen Killer nur nicht das Glück

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Abends saß ich an der Bar des Hotels draußen unwirtliches Industriegebiet

Dzevad der Schriftsteller der in Schopenhauers Salon das Gespenst von Kleist auf den treulosen Goethe hetzte

Erzählte mir von der Belagerung Sarajevos und wie sie schoßen die Nationalbibliothek in Brand

Drei Millionen Bücher starben seinen Studenten rezitierte er fortan den Faust aus dem Gedächtnis

Auf dem Hotelzimmer tranken wir die Flasche aus Slubice leer dann stand er auf und ging hinaus

Jede Nacht flog er mit den Schwarzen Vögeln über Sarajevo ohne Schlaf

Zum Frühstück sahen wir uns nochmal er müsse nun nach Hause ich möge meine Frau grüßen

Sie ist es nicht sagte ich noch

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In einer Probenpause rief ich ihren Anrufbeantworter an ob es nett war wollte ich wissen

Der kluge Dramaturg an dessen Tür ich klopfte hatte keine Zeit

Jetzt nicht wie es gestern war jetzt nicht später nein der Text müsse neu ob es nötig sei war meine Frage

Ein paar Stellen eigentlich nur Bagatellen wichtig nein aber na ja nötig gewiß die Türe schlug zu

Nachmittags standen alle mit gerußten Scheiben vor dem Theater und betrachteten die Sonnenfinsternis

Es sei die letzte totale Finsternis des zwanzigsten Jahrhunderts hieß es

Die Vögel schwiegen der Anrufbeantworter fiepte mich an

Sie las einen Brief er hatte ihr geschrieben vor halbvollen Gläsern wartend

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Vor dem Haus in dem Kleist ein Junge gewesen

auf der Treppe des Museums saß ich im Schatten blickte über den Fluß

fröstelnd am gegenüberliegenden Ufer glitzerte Slubice im Abendschein der zurückgekehrten Sonne

Ich ruderte hinaus auf die Oder mit Kleistens Kahn

Allein Henriette stand am Ufer und winkte fröhlich

Keine Lust auf Untergang rief sie ein knappes Jahr schritten wir

wohin denn noch und stießen an mit halbleeren Gläsern

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Diese Nacht halte ich ein Buch des Schriftstellers in der Hand ich hatte es nie zu Ende gelesen

Der nächtliche Rat die schwarzen Vögel machten sich bereit davon erzählt es das Lesezeichen an alter Stelle

„Die Vergangenheit ist immer da, unvermeidlich und unerbittlich, wie eine Falle, der wir sowenig entgehen können wie den Himmelsrichtungen.“

Kalter Regen trommelt Ich blicke in Dunkelheit gen Osten hoffnungsfroh

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bagatelle einundzwanzig / nachtgebet

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als die zahnbürste aus dem mund und

ich mein gesicht aus dem spiegel gezogen hatte

mich ins bett gelegt hatte

der schwindende tag mich fern hielt vom schlaf

das licht ließ ich brennen

und las nur einen satz

jeder weiß daß er weniger schlecht sein könnte als er von natur aus ist

das war der satz

dann las ich ihn mehrmals

wieder und nochmals den satz

sprach ich

andere nennen das

gebet

jeder weiß daß er weniger schlecht sein könnte als er von natur aus ist

jeder weiß

daß er weniger

schlecht sein

könnte als er ach ja

bagatellen erhaschen noch

im schlaf der vergangene tag

eilfertig schweigt

heute keine musik mehr

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(sommer 2014 / bearbeitet)

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