Wenn der Anu Branco wüßte …

… wie teuer die Liebe sein mag

Ich wette nie würde er singen

Nie wieder wecken den Tag

(Teil 2)

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„Sonne und Regen … Die Füchsin verheiratet ihre Tochter. Noch ist September. Was sollen wir tun? Warten. Auf den Regen harren, auf den ersten Donner … Warten. (Pause)“

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Die Pause war lang. Das war damals so eine Art künstlerische Mutprobe. Wie lange halte ich auf einer Bühne eine Pause aus. Und verliere nicht die Konzentration. Ungeschlagener Weltmeister in dieser Disziplin war mein guter Freund T., damals noch K. genannt. „Heinrich! Die Pause ist zu lang!“ Andere Geschichte. Ich stand also zu Beginn des „Speckhuts“ als Erzähler auf einem Erdhaufen, regungslos, barfuß in Unterhose, einen roten Lackledermantel übergeworfen, in der Hand einen Plastikbeutel. Darin ein blutendes Schweineherz. Ein echtes!

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„Ich habe kein Herz mehr. Als ich noch lebte, sagten die Leute, ich hätte kein Herz, aber das stimmt nicht. (Er lacht, schwenkt den Beutel mit dem blutenden Herz) Heute ist mein Herz Erde und Wind … Mira hab ich verziehen.“

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O. schrieb uns zur Premiere ins Programmheft: „An meine Schauspieler: Sie verwechseln das Theater mit dem Leben und das Leben mit dem Theater.“  Meine Axt war scharf, wir schmissen Flaschen – kein Zuckerglas – krachend gegen ein altes Eisentor, trugen bei kleinen Verletzungen stolz unsere Pflaster und K. mußte vor jeder Vorstellung zwei große Cola trinken, um dann erfolgreich in einen Blecheimer hinten in der Ecke zu schiffen. Ein herrlich wahrhaftiges Geräusch. Wir betrieben ein bisserl Hardcore Method Acting. Echte Tränen waren die Meßlatte. O. wollte das so und wir machten gerne mit. Grenzwertig? Haben wir nie drüber nachgedacht. Warum auch.

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„Ich erinnere mich, erinnere mich deutlich der Nacht, in der ich Mira mit der Axt den Kopf spaltete. Mitten ins Hirn der schlafenden Mira schlug das Beil. Die alte Vettel Jorobabel lief herbei und sammelte die weißen Gehirnfetzen auf, als wollte sie den Kopf ihrer Freundin zusammenflicken. Ich bereue nichts. Heute ist es mir gleich. Und sie sagen ich hätte kein Herz, das ist nicht wahr. Aber im Mai wurde Hochzeit gemacht.“

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Das war die Geschichte des Speckhut: Ein armer Vaquero, eine Art brasilianischer Woyzeck, hatte im Eifersuchtswahn seine junge Frau erschlagen, weil sie es, arm wie sie waren, für dringend nötiges Geld mit dem Großgrundbesitzer trieb. Der Erzähler, ein Art Reinkarnation des Mörders, verdiente sein Geld als Zuhälter und damit, als eine Art theatrale Buße, mit seiner Truppe von Wanderschauspielern die Geschichte der Tat immer und immer wieder zu erzählen. Ike, wie wir sie alle nannten, war bei dieser Produktion Dramaturgin und Protokollantin und schrieb auf die Geschichte unseres Versuches die Geschichte zu erzählen in diesem heißen, verwirrenden und verwirrten, euphorisch schmerzlichen Sommer 1982, ich dem ich einiges gewann und viel verlor. Noch eine Geschichte. Hier im Rahmen der Eitelkeitsgymnastik noch ein Ausschnitt aus Ike’s Bericht.

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„Christian, der Erzähler. Ein langer, dünner Kerl mit tief in den Höhlen liegenden Augen und einer weit vorstehenden, zweimal gehökerten Nase. Wie ein Geier. Er hielt sich, weil er so lang und dünn war, nach vorne gebeugt. Als wollte er uns in seiner Kleinheit entgegenkommen und sie uns nicht spüren lassen. Ihn anzuschauen stimmte uns alle gleich weicher. Sein Körper beschrieb eine Kurve der Anteilnahme. Er war die Seele der Gruppe. Alle wollten mit ihm befreundet sein. Sein schulterlanges Haar hing ihm wie einem nassen Reiher vom Kopf. Als Erzähler war er der Einzige im Stück, der eine durchgehende Rolle hatte. Und er konnte, wie ein Reiher, einfach stillstehen und dabei immer durchsichtiger werden, als wäre er ein Teil der Umgebung. Lemmy hatte ihm aus irgendeinem Grund einen langen, schwarzen Ledermantel mitgebracht, in dem er wohl selbst rumgelaufen war. Christian sollte ihn als Kostüm tragen, zumindest für die Proben, aber er zog ihn nicht mehr aus.“

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PS: Ike schrieb dann unter vielen anderen auch ein Buch über die Erinnerung an ihre Studienjahre in einer kleinen häßlichen Stadt in Mittelhessen. Hätte mir damals jemand prophezeit, daß ich dort mal landen würde, vielleicht hätte ich die scharfe Axt geworfen. Damals.

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(wird fortgeschrieben)

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bagatelle siebzehn oder Vom selbstkritischen Wochenbeginn im Februar ’21

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Früher früher früher ja

War’s immer besser dadada

So braucht man nicht vom Früher weder

Sprechen auch nicht richten

Über die Momente

Diesen jeden Augenblick

Hals gedreht nicht auf zurück

Die durchlebte man mitnichten

in Gedichten

Nur in selbiger Sekund‘

Die vor ei’m stund

Der Zeitstrahl noch gericht‘

Nach vorn

Den Reim

Der Esel im Galopp verlor’n

Hat statt

Bagatellen und dem steten

Früher früher dadada

War’s immer besser jajaja

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PS: Danke Peter Handke für den Gedanken und Wolfgang „Kein Schlaf bis Hammersmith“ Welt für die Verwurstung

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Wenn der Anu Branco wüßte …

… wie teuer die Liebe sein mag

Ich wette nie würde er singen

Nie wieder wecken den Tag

(Teil 1)

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Der Sommer des Jahres 1982 war, wie man in den wesentlichen Almanachen nachlesen kann, ein warmer und sehr sonnenreicher. Und einer der früh begann und spät endete. Als hätte er geahnt, was auf ihn folgen sollte, streckte er die Dauer seines freundlichen Regiments so gut es ging bis in den Oktober hinein. Schon Mitte März stand ich mit bloßem Oberkörper auf dem Flachdach einer stillgelegten Druckerei in einem Hinterhof der Kölner Luxemburgerstraße. Als vollwertiges Mitglied der „Brigade Dach und Boden“ – ja, liebe Kinder, so etwas gab es damals auch im Westen der BeErDe – versuchte ich unter der Anleitung eines richtigen Handwerkers – der konnte alles, sein einziges Manko war, er kam von der Schääl Sick, schlimmer noch: aus Leverkusen – zusammen mit 3 oder 4 anderen Kollegen besagtes Flachdach mit Teerpappe und röchelnden Flammenwerfern halbwegs dicht zu kriegen. Wir, das waren Schauspielschüler der damals kölnweit legendären Schauspiel – Lehrwerkstatt e.V. – kurz und knapp und ab hier: der SLW. Unsere Bemühungen sollten nicht von Dauerhaftigkeit gesegnet, denn kaum trat der lange Sommer 82 ab und machte kräftiges Tiefausläufern und der sogenannten geistig moralischen Wende Platz, regnete es rein in unsere selbst ausgebaute Theaterfabrik und bald darauf mußten wir weiterziehen, in das damals kölnweit nicht weniger legendäre Stollwerck.

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Wie kommt nun ein Schauspielschüler aufs Dach und versucht es zu decken? Ich hatte im September 1980 meine Ausbildung zum Schauspieler an der dem Theater Der Keller angegliederten Schule begonnen. Nach wenigen Wochen dort erkrankte die Theater – und Schulchefin – eine durchaus machtverliebte Dame, welche das Institut etwas altbacken führte, ziemlich schwer. Da abzusehen war, dass ihre Abwesenheit länger dauern würde, übernahmen unsere Lehrer die Verantwortung in einer Art Kollektiv und haben den Laden so nebenbei innert kürzester Zeit in Sachen Kommunikation und Führungskultur kräftig durchgepustet. Uns Schülern gefiel das, waren wir doch in wesentliche Entscheidungen miteingebunden. Zu Beginn des nächsten Jahres kehrte die Chefin zurück, schaute sich um, war entsetzt und wollte sogleich die Uhr zurückdrehen und zudem den einen oder anderen der aufsässigen Lehrkräfte zum Teufel jagen. Das gefiel uns allen nicht. Eine Vollversammlung jagte die andere. Ergebnis: praktisch alle Lehrer und alle Schüler standen auf, verließen die Schule und gründeten eine neue, eben die SLW. Unterschlupf fanden wir – die damaligen Chefs des Schauspiel Köln J. Flimm und V. Canaris unterstützen uns gerne – zuerst auf nicht genutzten Probebühnen der Bühnen der Stadt Köln, in der Roßstraße und am Ubierring. Dies nur für die Eingeweihten. Gelegentlich, wenn das Wetter es zuließ, hielten wir den Unterricht schön öffentlich auch im Volksgarten in der Kölner Südstadt ab. KStA und EXPRESS schaden ja nicht, wenn die vorbeikommen und berichten. Dann fanden wir für ein knappes Jahr eine Heimstatt im Druckhaus Deutz, gründeten dort das Theater Deutzer Freiheit, brauchten wir, da wesentlicher Bestandteil der Ausbildung Projektunterricht war und unsere Ausbilder meinten, man könne gar früh genug dem Löwe Publikum ins geöffnete Maul schauen. Als Anfänger durfte ich den älteren Kollegen bei den ersten Projekten die Requisiten bringen und das Bühnenbild abräumen. Ehrenvolle Aufgaben. Dann mußten wir Anfang 1982 raus aus dem Druckhaus. Große Bauvorhaben der Stadt ante portas. Heute steht da die Köln Arena. Und wir zogen um, ein drittes Mal, ließen Ausbildung Ausbildung sein für zwei oder drei Wochen, teilten uns auf in Brigaden und schufen ein Theater, Probenräume und auch das ein oder andere Verwaltungszimmer.  Um die Ecke, im Luxemburger Wall wohnte einer unserer Lehrer. Dessen Küche wurde Kantine. Und es ward Sommer, wir feierten ein großes Einweihungsfest und – unsere Klasse, die E – war nun dran mit einem Theaterprojekt. Die Proben begannen.

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„Speckhut“ hieß das Stück. (PS: Unbedingt die Leseprobe anklicken!) Regisseur war O., so ein bisserl der Guru unter den Lehrkräften, im Übrigen alles Regisseure und / oder Regisseurinnen, die nicht nur an der SLW arbeiteten, sondern regelmäßig am Theater Regie führten. Deshalb „Werkstatt“: die Praxisnähe. Those were the Zeiten. O. also, dessen Gunst zu genießen vielen, vor allen den weiblichen Mitgliedern der E durchaus wichtig war, gut, auch ich war nicht gefeit davor zu buhlen, hatte dieses nur einmal in der DDR aufgeführte Stück ausgegraben und bearbeitet. Armes Theater aus Brasilien. Armes Theater über arme Leute. Für arme Leute. Ich sollte spielen den Erzähler.

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„Nein, wir machen weiter! Was wir hier und heute spielen, ist etwas, was wir noch nicht wissen können, was noch geschehen wird, etwas aus der Vergangenheit, was nicht vergangen ist, was nicht vergangen sein kann, das spüren wir genau. Was, so vergangen es sein mag, noch nicht, noch immer nicht angekommen ist. Wir sind in unserem Hochland so etwas wie Gespenster, die kommen auch nur einmal, und dabei kommen sie zurück.“ Das hätte ein Christian 1982 auf einer Probe gesagt, auf einer Durchlaufprobe von „Speckhut“, in einem Hinterhof an der Luxemburgerstrasse im Köln des Sommers 1982, als der Regisseur den Durchlauf unterbrach und das Ganze von vorne beginnen wollte. Woher ich das weiß? Es gibt ein Buch über diesen ganz besonderen Sommer.

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(wird fortgeschrieben)

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Die Zivilisation ist ein dünner Firnis, darunter brodelt die Barbarei (27.1.1945)

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Verfall

Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,

Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,

Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,

Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten

Träum ich nach ihren helleren Geschicken

Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.

So folg ich über Wolken ihren Fahrten.

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.

Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.

Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,

Indes wie blasser Kinder Todesreigen

Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,

Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.

(Georg Trakl)

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Der Firnis namens Zivilisation ist doch recht dünn und rissig. Auch 76 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee der damaligen Sowjetunion schadet gelegentliche Erinnerung nicht. Ach, nötiger denn je ist sie. Genau so wenig schadet uns die Selbstbefragung. Es ist nie zu früh in den Spiegel zu blicken.

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„Du kannst tun, was du willst, du kommst von Auschwitz nicht mehr los

Gesetzt, du wärst nach Auschwitz kommandiert worden, was hättest du dort getan? Nein, sage nicht, die Frage sei unsinnig, da du ja eben nicht dort gewesen bist …

Und es brauchte ja nicht Auschwitz zu sein, nur eine Handvoll Morde, und auch gar nicht im Krieg, nur in der Kristallnacht, und auch nicht eine Handvoll – ein einziger

„Aber ein Kind hätte ich nie getötet …“ Du siehst dich mit einer großen Gebärde vorm Ofen stehen und einen Befehl verweigern und dich in die Flammen stürzen … So träumen Zwölfjährige von Heldentaten …

In diesem „Ich nicht! – Ich nie!“ schaudert die Menschheit in dir, und ihr Schaudern ist auch dein bestes Teil. Doch mit ihm allein kommst du nicht weiter, denn dieses Schaudern schließt dich nicht ein

In diesem „Ich nicht! – Ich nie!“ brüllt der Andere auf, daß er nie dieser Eine gewesen sei, und in dieser Form ist er dieser Eine ja auch nicht gewesen. Ohne dieses „Ich nicht!“ könnte der Andere nicht leben; aber mit diesem „Ich nicht!“ kann er den Einen nicht erkennen und also auch nicht überwinden

Dieses „Ich nicht! – Ich nie!“ ist ein menschliches Grundrecht, und wer es nie gestammelt, wäre ein Stein. Aber in diesem „Ich nicht! – Ich nie!“ lebt auch die romantische Auffassung vom geistig – moralisch souveränen Individuum fort, und damit sind die Bewegungen dieses Jahrhunderts nicht erfaßbar … Nicht das ist der Faschismus: daß irgendwo ein Rauch nach Menschenfleisch riecht, sondern daß die Vergaser auswechselbar sind“

(aus Franz Fühmann Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens)

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Untergang

Ueber den weißen Weiher

Sind die wilden Vögel fortgezogen

Am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind

Ueber unsere Gräber

Beugt sich die zerbrochene Stirne der Nacht,

Unter Palmen schaukeln wir auf einem silbernen Kahn.

Immer klingen die weißen Mauern der Stadt.

Unter Dornenbogen

O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht

(Georg Trakl)

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Der Blumenspaziergänger / Plot

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Las unlängst, weiß gar nicht mehr wo und wann genau, das Beste was man in diesen virulenten Tagen, Wochen, Monaten tun könne, sei frei nach Proust sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu begeben und mit seinen Erinnerungen spazieren zu gehen. Muß wohl ein Wink des Unterbewußtseins gewesen sein diese Seite ins Leben zu rufen, wobei ich schon wieder vergessen habe, in welcher Gehirnhälfte Selbiges haust, das Unbewußte selbstredend. Lechts und rinks kann man leicht verwechsern. Unterbewußtsein! Oberbewußtsein? Gibt es nicht. Manche munkeln vom Überbewußtsein. Wo wohnen die Erinnerungen?

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„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.“ Das Buchmonstrum, genauer gesagt, die Büchermonstren, seit Ewigkeiten spricht das Lesemännlein zu mir: Kaufen! Lesen! Neue Ausgabe! Neuübersetzung! Jetzt! ES TUN! Die Chance. Wird wohl beim Ruf bleiben, ähnlich wie der Mann ohne Eigenschaften und Ulysses, sogar in originaler Penguin – Ausgabe, in meinem Bücherregal wohnen und dort schlafen, wie einst die ZEIT unter meinem Arm, die ich letztlich des Rätsels im Magazin wegen erwarb. Ungelesen gelesen quasi, Wartebücher über die und nicht in denen ich regelmäßig lese. Ein Buch, welches mir meine Schwester vor Jahren schenkte, habe ich dieser Tage endlich zu Ende gebracht, fast, 30 Seiten fehlen noch. Wußte nicht, daß Gehirnforschung so unterhaltsam serviert werden kann. Und lehrreich. Damit sind wir beim Thema: Dem Blumenspaziergänger.

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Erste Gedanken:

Der Blumenspaziergänger

Ein Dialog über das Erinnern

Personen

Mann (ein Schauspieler kurz vor oder nach dem Erreichen des Rentenalters)

Frau (eine Schauspielerin, 10 – 20 Jahre jünger, muß sehr wandlungsfähig sein, da sie 6 verschiedene Varianten ihrer selbst zu spielen hat)

Ein Musiker oder eine Musikerin (Cembalo und / oder Harfe vielleicht)

Zu dem zu verfassenden Stück regte mich an ein Geschehnis im letzten Sommer: Landkreis Gießen: 66-jähriger Thüringer zu Fuß auf Autobahnen unterwegs. Der Mann war mit seinem Auto liegen geblieben, verkaufte Blumen, um damit einen Notkanister Benzin zu bezahlen, fand dann aber seinen Wagen nicht wieder und spazierte auf zwei Autobahnen herum.

Das Stück beginnt und endet auf einer mittelhessischen Polizeiwache. Verhörsituation. Man will herausfinden, was den etwas skurrilen älteren Herren zu seiner Aktion bewog. Da er darauf besteht nur mit Frauen zu sprechen, sein Wunsch wurde ihm erfüllt, versuchen nun eine Polizistin, eine Rechtsanwältin, eine Psychologin, eine Pastorin, eine Krankenschwester und eine ehemalige Geliebte / Frau / Mutter – mal sehen – zum Reden zu bringen. Der Mann, gefangen in einem anfangs kaum zu entwirrendem Gestrüpp von widersprüchlichen Erinnerungen, findet nach und nach zurück zu dem Anlaß, der ihn über die Autobahn laufen ließ. Dement ist er nicht, er traut sich nur selber nicht so recht über den Weg. Vor allem seinen Erinnerungen. Ist das sein eigenes Leben oder das eines Anderen, von dem er spricht? Die Frau(en) lassen nicht locker.

Erste Kurzbiographie des Mannes: Geboren 1955, aufgewachsen in der DDR, am 19.8.1989 (magische Zahlen?) über Ungarn im Rahmen des Paneuropäischen Frühstücks in den Westen, nach Aufenthalt im Notaufnahmelager Gießen Umzug in den Süden, dort Arbeit gefunden als Lokführer bei der Schweizer Eisenbahn. Ende der Neunziger laufen ihm innert kurzer Zeit dreimal Menschen vor seine Lok. Das wirft ihn aus der Bahn. Reha, Versuche in den Beruf zurück zu kehren, privates Chaos, Scheidung, schließlich Berufsunfähigkeit und Frührente. Rückkehr nach Thüringen. Alkoholprobleme. Entzug. Arbeitet nun nebenher als Grabredner und Mietmusiker für Hochzeitem und Geburtstage. Dann die letzte Reise in den Westen.

So weit, so gut. Jetzt an die Arbeit. Ein erster Text:

Mann          

Ich habe den Nebel immer geliebt. Das Weiche. Das Wattige. Der noch sommerwarme See dünstet sich aus, im Schilf sammeln sich die Wassertröpfchen, kondensieren und kriechen an Land, als wollten sie das sich abkühlende Land in den See hineinziehen zu einem letzten Bad. Meine Lokomotive – so schien es mir immer– sie fährt dann nicht mehr, nein sie schwebt hinein in das milchige Weiß, langsam, ganz langsam, wie die Lenorflasche, die in dieser alten Fernsehreklame in Zeitlupe in das weichgespülte Kissen fiel. Und es wird stiller und stiller. Die Fahrgäste schauen aus den Fenstern und schweigen. Ihre Blicke suchen den See. Doch der ist verschwunden. Seine kondensierte Restwärme läuft die Scheiben meines Führerstandes hinunter. (Pause) Auch letztes Jahr kam der Herbst. Gerade hatte ich meiner Frau eine SMS geschickt. „Plan 100%. Kartoffeln aufsetzen.“ Dann teilte sich das Schilf. Rechter Hand. Wie gesagt: Heimfahrt. Ich drückte auf Notbremsung, die Bremsen schrieen auf und der Nebel färbte sich mit einem dumpfen Schlag blutrot.

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Zur Erinnerung erinnert

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„Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. Man muß zurückdenken können an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die man lange kommen sah, – an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt sind, an die Eltern, die man kränken mußte, wenn sie einem eine Freude brachten, und man begriff sie nicht… Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht.“

(Franz Fühmann)

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Der Wahrheit nachsinnen / – viel Schmerz (Georg Trakl)

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„Wer sich seiner Geschichte nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ George Santayana

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Das was man früher „der Westen“ nannte, befindet sich seit einiger Zeit in einem Zustand virulenter Amnesie und / oder Geschichtsvergessenheit. Egal was geschieht, Capitol, verschärfter „Schließrunter“, Scheitern in Afghanistan, Moria, Waldbrände, Schnee in Madrid, Trainerentlassungen und eigene Krankheit, es wird oft nur aus dem Moment heraus bewertet, kommentiert und eingeordnet, meist garniert mit Entrüstung und auf alle Fälle kategorisch oder wie man es gerne nennt: meinungsstark. Man blickt auf die Geschehnisse als sei man selbst nicht Teil der Welt, sondern lediglich Beobachter. Wie und auf welchen Wegen eine Gesellschaft und so man selbst an diesen Punkt geraten ist, wird selten ins Kalkül gezogen. Keine Zeit oder man könnte ja unangenehm verstrickt gewesen sein.

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Ich lese viel, zur Zeit noch mehr. Mir fiel auf, daß in den letzten Wochen hauptsächlich Werke ostdeutsch sozialisierter Schriftsteller auf meinen Nachttisch lagen. Wolfgang Hilbig vor allem, Christoph Hein, Günter Bruyn, Brigitte Reimann, Peter Richter, Durs Grünbein, Thilo Krause. Was ich – generalisierend – an deren Werken schätze, daß sie nicht das Hohelied der Selbstverwirklichung singen oder vom Mythos des freien Individuums, sondern ihre Figuren und sich selbst stets in einem Geflecht von Abhängigkeiten, Ambivalenzen, historisch verebter Schuld, den Versuchen dieser zu entfliehen oder sich ihr zu stellen, ansiedeln. Ein Menschenleben erzählt sich mir eher in Reibung mit den Zeitläuften und nicht nur aus familiären Zusammenhängen heraus. Familie ist kein ahistorischer Raum. Diese Herangehensweise erfordert Wühlarbeit und eine gewisse Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber.

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Wie der Maulwurf / der sich gräbt wühlt ackert / unermüdlich unerschrocken unerbittlich / durch das Bergwerk / die Stollengänge seines Lebens / dessen getrübtes Auge nicht sieht den Stiefel / einmal nur die Sonne auf seinem Fell, einmal nur / Tereisias ach Tereisias / der Stiefel des Bauern / fährt nieder / einmal nur die Sonne auf seinem Fell wollte er / der Schädel bricht / die Sonne auf seinem Fell / als er schob seinen Schädel hinaus ins Licht

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Obiges schrieb ich, als ich im Sommer 2014 mit dem Fahrrad nach Märkisch – Buchholz „pilgerte“, um das Grab von Franz Fühmann zu besuchen. Fühmann – Jesuitenschüler, dann glühender Nazi, glücklicherweise – für ihn – von den Sowjets nur gefangen genommen, Umerziehungslager, später Jubelstalinist, Staatsschriftsteller, langsam wachsender Zweifel, alkoholkrank, schließlich Dämmerung, Wandlung, die Trakl – Erfahrung, Sturz des Engels, Biermann, Alkohol wieder, noch ein Entzug, radikale Askese, schließlich bis zum Tode sich aufreibend in der Auseinandersetzung mit dem einst verehrten Staat – ist der gnadenloseste literarische „In – sich – und – der – Welt – Wühler“, der mir je begegnete, übertroffen nur von seinem Ziehsohn Wolfgang Hilbig. („Das Provisorium“) Die letzten Jahre seines Lebens saß Fühmann meist in seiner Garage in Märkisch – Buchholz und arbeitet dort an einem nie vollendeten Werk, fuhr täglich ein in sein Bergwerk.

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„Ich grüße alle jungen Kollegen, die sich als obersten Wert ihres Schreibens, die Wahrheit erwählt haben.“ (Grabinschrift Franz Fühmann)

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Was immer das sei: die Wahrheit. Wesentlich scheint mir die Bereitschaft, sich auf die Suche zu begeben. Ausdauernd.

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PS: Ich hatte im Jahre 2014 schon – unterstützt vom neugierigen Denkbär Archibald Mahler – von der kleinen „Pilgerreise“ berichtet. Da und dann hier und schließlich dort!“

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bagatelle sieben

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Las heute Morgen

im Auerhaus tief bewegt

zurückgeschossen wie

der stets gefährdete Protagonist auf die Frage

seines Freundes, dem Erzähler: „Und?“

antwortet: „Ich wollte mich nicht

umbringen. Ich wollte

bloß nicht mehr leben. Ich glaube, das

ist ein Unterschied.“

Also war er lediglich müde gewesen

der Vater

schrecklich müde zu Beginn jenes fürchterlichen Jahres

als die Schweine Allende in den Tod trieben und

brachen

im Fußballstadion

die Gitarrenhände des Victor Jara

den meisten damals eine Bagatelle

worüber ich weinte um dann zu vertrocknen

lange Jahre

bis eine Liebe mich brach

erwachsen

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PS: Lektion zum Algorithmus und dem eingebauten Zynismus. Ich verlinke ein Lied von Victor Jara, der mit tausenden Anderen im Fußballstadion von Santiago de Chile gefoltert und getötet wurde. Und der Algorithmus von You Tube liest nur Estado, also Fußballstadion und zeigt blöd wie ein Meter Feldweg im folgenden nur Fußballspiele. Ich kotze. Dann schießen mir Tränen in die Augen. Hört das.

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Für obiges Foto danke ich dem Mensch an meiner Seite.

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Und ich suche die ich liebe

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Zeit zu Lesen war ausreichend dieses Jahr. Kein dienstliches Lesenmüssen, kein in irgendeine Richtung sammelndes Lesen, nein, ziellos in der Gegend rumlesen, Zufälle, sich beschenken lassen, sogar ab und zu diese nun allüberall hängenden öffentlichen Büchertauschschränke durchsuchen.

Ein Buch hat mich besonders beglückt, weil es den Nagel auf den Kopf von eben Erlebtem traf: Thilo Krauses „Elbwärts“. Ich las eine Besprechung und dachte ja und her damit. Im Juni, als wir nach dem ersten Schließrunter wieder die Nase in etwas weiter entfernte Luft stecken durften, hatten wir eine Woche Urlaub in einer Ferienwohnung im Erzgebirge gebucht, wanderten viel, fuhren in der Gegend rum: Glashütte. Königstein. Bad Schandau. Teplice. Bärenfels. Rechenberg. Usti nad Labem. Mückenberg. Und mehr. Gute Tage, sehr gute Tage. Auch deshalb bestellte ich das Buch.

Ich war eben vom Bodensee zurückgekehrt, ein alter Freund hat mir ein Zimmerchen mit Blick über den See gen Meersburg, separatem Eingang und, wenn gewollt, bestmöglicher Versorgung zur Verfügung gestellt. Ich hatte mir einen Motorroller geliehen, um den Bodanrück zu erfahren. Dummerweise war der Verleiherkerle einer der Chefnichtdenker der Virenleugner / Ortsgruppe KN. Aber des isch ä ganz andre Schtorie. Ich hüpfte jeden Morgen um achte am legendären Hörnle in den See und traf einige alte Weggefährten mit denen ich jene schwerelosen Jahre zwischen Abitur und bis es beruflich ernst wurde verbracht und verfeiert hatte. Nach langer, langer Zeit mal wieder sprachen wir mitenand. Es schrumpfte die Zwischenzeit zu alter Nähe. Gute Tage, sehr gute Tage. Ich versöhnte mich mit der Gegend da unten mit der ich schon ä weng auf Kriegsfuß stand und steh und war fast schon bereit die Heimatliebe in mir aufkeimen zu lassen, als mich wieder die gute alte linke Gerade aus Konschtanz traf, unerwartet diesmal aber wie noch selten. Dies geschah an einem der Tage, als das kürzlich bestellte Buch sich auf dem Postweg befand.

Ich nahm das Buch aus der Hand des Paketwoyzecks entgegen, packte es aus, schlug es auf und las die Widmung: ein Zitat des guten Gundi. Dann den Rest der Geschichte am Stück. Von der ersten Seite an packte mich die karge, poetische Sprache. Ich wußte nicht – die nächste Empfehlung – daß der Autor als Lyriker begonnen hatte. Keine Ausschweifungen, keine Bordüren. Kein lineares Runtererzählen einer Geschichte. Sprünge. Bilder. Assoziationen. Ich konnte die Wälder riechen, die wir im Juni durchwandert hatten. Fein. Und natürlich traf mich die Geschichte über den Versuch einer Heimkehr auf dem oben erwähnten von linker Gerade noch immer blauem Aug‘. Ich habe mich per Mail beim Autor für das Buch bedankt und er hat mir freundlichst geantwortet. Das ist selten und daher schön. Kaufen. Lesen. Und verschenken. Hier ein Gedicht von ihm. Ich hoffe, ich darf das.

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Hinterland

Im Winter sind in den Bäumen

die Nester zu sehen.

Wenn Wärme dampft innen

sehe ich, was ich selbst bin.

Ein Nest Rippen, ein Herz

an dem ich brüte. Wie lange?

Lange.

+

Die Nacht trägt das Schweigen im Maul

bringt es von einem Nest ins andere.

Ich bin durch die Zähne der Sprache gerutscht

ringle mich ein, versuche zu schlafen

unter einem riesigen Himmel.

+

Aber die Worte, die ich liebe

lassen sich sagen mit der Stimme des Bettlers

mit der Stimme von einem

der über kahler Erde die Hand aufhält

und wartet.

Verbergen

(Thilo Krause)

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Hymne der demokratischen Jugend

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Anhören. Ansehen. Großartig.

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Ballade von den Abenteurern / Bertolt Brecht

Von Sonne krank und ganz von Regen zerfressen
Geraubten Lorbeer im zerrauften Haar
Hat er seine ganze Jugend, nur nicht ihre Träume vergessen
Lange das Dach, nie den Himmel, der drüber war.

O ihr, die ihr aus Himmel und Hölle vertrieben
Ihr Mörder, denen viel Leides geschah
Warum seid ihr nicht im Schoß eurer Mütter geblieben
Wo es stille war und man schlief und man war da?

Er aber sucht noch in absinthenen Meeren
Wenn er schon seine Mutter vergißt
Grinsend und fluchend und zuweilen nicht ohne Zähren
Immer das Land, wo es besser zu leben ist.

Schlendernd durch Höllen und gepeitscht durch Paradiese
Still und grinsend, vergehenden Gesichts
Träumt er gelegentlich von einer kleinen Wiese
Mit blauem Himmel drüber und sonst nichts.

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Vom ertrunkenen Mädchen / Bertolt Brecht

Als sie ertrunken war und hinunterschwamm
Von den Bächen in die größeren Flüsse
Schien der Opal des Himmels sehr wundersam
Als ob er die Leiche begütigen müsse.

Tang und Algen hielten sich an ihr ein
So daß sie langsam viel schwerer ward.
Kühl die Fische schwammen an ihrem Bein
Pflanzen und Tiere beschwerten noch ihre letzte Fahrt.

Und der Himmel ward abends dunkel wie Rauch
Und hielt nachts mit den Sternen das Licht in der Schwebe.
Aber früh ward er hell, daß es auch
Noch für sie Morgen und Abend gebe.

Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war
Geschah es (sehr langsam), daß Gott sie allmählich vergaß
Erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt erst ihr Haar.
Dann ward sie Aas in Flüssen mit vielem Aas.

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Alter, guter Freund der deutsche Sprecher. Im Jahr der Wende teilten wir uns in Münster manches Stück. Baal und Eckhart. Shlomo und Hitler. Drache und der blinde Diener des Drachentöters. Sangen und sprachen obiges. Und seit gestern lese ich das Buch, welches er mir dieses Jahr zum Geburtstag schenkte: Serhij Zhadans „Hymne der demokratischen Jugend“. Eine Empfehlung. Gute Verbindungen. Man braucht sie.

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