Die Jacketkrone oder: „Ich bin kein direkter Rüpel, aber die Brennnessel unter den Liebesblumen.“ (Karl Valentin)

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Die Nacht von Recklinghausen / Tragikomödie des Erinnerns in 5 Akten

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Prolog:

Letzte Woche fuhr ich nach Recklinghausen. Ruhrfestspiele. Hatte mich sehr gefreut. Reise in die Erinnerungen . Die Schattenspiele. Ein auch für mich persönlich besonderes und aufreibendes Jahr betrachten. 1982. Hadere seit einer Woche damit was und wie ich schreibe davon und dann darüber. Die grundsätzliche Frage: Ist Erinnerung nicht stets ein tragikomischer Ringelpiez? Mit oder ohne Anfassen?

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Erster Akt:

Ich hatte besagtes Spiel alleine gesehen. In meiner damaligen WG am Martin-Luther-Platz. Köln. Südstadt. Schauspielschüler. Warum alleine kann ich nur noch vermuten. Vermutlich stand unsere Premiere bevor. Und unser Regisseur hatte uns Dezenz verordnet. Die meisten Spiele dieser unsere wilden Proben begleitenden WM hatten wir davor gemeinsam angeschaut. Berauscht. Oder ernüchtert. Das Unentschieden gegen Österreich etwa. Algerische Geldscheine fliegen von den Rängen. Deutschland erfindet mal wieder einen Nichtangriffspakt. Man weiß ja wo das endet. Fragt Dschughaschwili. Wenn ich das trügerische Portfolio meiner Erinnerung durchforste, ist natürlich die legendäre 57. Minute noch vorhanden, aber vor allem uns aller Lieblings-Litti, der Fallrückzieher von Klaus Fischer und der heulende Stielike. Dass da ein Breitner mitgespielt hat, habe ich erst wieder letzte Woche erfahren. Und der Schlucksee in der Vorbereitung war natürlich Thema. Wir stießen darauf an. Nachts in den Kneipen, nachdem der Express-Verkäufer uns mit den neuesten Meldungen versorgt hatte.

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Zweiter Akt:

Ich habe mich nie am deutschen Volkssport namens Bahn-Bashing beteiligt. Die Eisenbahn hat mich stets von der Vorstellung zu den Proben, dann nach Hause und wieder zu neuen Ideen und Bühnen gefahren. Gelegentlich musste ich improvisieren, aber auf der Autobahn kommt man eher selten mit Mitreisenden ins Gespräch. Es lebe der Speisewagen! Jedoch letzte Woche! Gewiss, alte, weiße Nerven liegen blanker inzwischen. Aber, nachdem der Zug ein drittes Mal auf offener Strecke stand, der Bordlautsprecher beharrlich schwieg, kein Getränkeverkauf die Synapsen entspannte, da sieht man nicht mehr rot, sondern? Nein! Nein! Nun gut, ich war früher oft im Pott unterwegs, dachte nimm dann halt die S-Bahn. Dortmund statt Essen. Oder gleich über Wanne-Eickel. Leider da eine Streckensperrung. Dann sprach man wieder mit den Fahrgästen. In Dauerschleife. Technische Störung. Technische Störung. Technische Störung. Ich dachte: reden die jetzt vom Mittelfeld der deutschen Nationalmannschaft der letzten Jahre?

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Dritter Akt:

Diese Freundlichkeit. Kaum den Fängen der Beförderung entkommen – ist dies die Entschädigung? – offene Menschen. Ein Blumenhändler, der gerade seinen Stand abbaute und mich auf Nachfrage bis zu meinem Hotel geleitete, der Hotelbetreiber, er tut dies nun in siebter Generation, erklärt mir die Stadt und wie und wo ich laufen solle, der Busfahrer Richtung Festspielhaus unterhält, da sein Gefährt noch Behandlung braucht, die Fahrgäste mit Anekdötchen und da ich im Park vor dem Musentempel sitze, auf Einlass wartend, grüßt mich jeder Passierende. Und dann die Dämlichkeit. Die übliche wahrscheinlich. Festspielhäuser stehen wohl auf Hügeln. Nicht nur in Bayreuth. Ich war früh da gewesen. Vor dem Gebäude Buden und Sitzbänke und viel Platz. Ich drehte noch eine kleine Runde im Park. Zurück. Der gesamte Vorplatz nun zugeparkt mit Dickeiermobilen. Die Politik war angekommen. Iss ja eine Premiere. Der offizielle Parkplatz zwar keine Laufminute entfernt. Leibwächter sind wahrscheinlich zu teuer. Inmitten der alten, weißen Schlipsträger – Darf man mit über fünfzig sich eigentlich noch mit Undercut in der Öffentlichkeit zeigen? –   tanzte eine ältere Dame im unvorteilhaften, groß geblümtem (Rosen!) Konfirmantenkleidchen durch die Herren. Die Stimme schrill. Deren Präsenz den Vorplatz dominierend. Kameras: Klick. Klick. Klick. Es war Claudia Roth. Den größten Lacher in meinem Rio-Reiser-Abend kassierte das Ensemble, wenn Rio der damaligen Managerin der Scherben riet, den Rock’n’Roll sein zu lassen und zu den Grünen zu wechseln. Da meine Blase voll war oder ich dies zumindest vermutete, konnte ich mich nicht mehr fremdschämen. Wir nähern uns also ungeduldig dem Einlaß und der Kunst. Habe noch nie einen „Theaterabend“ erlebt bei dem die Schlange vor den Herrentoiletten länger war als bei den Ander*innen. Es ist die Prostataangst, die uns auffrisst. Wahrscheinlich hat auch dies zu tun mit: Erinnerung.

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Vierter Akt:

Es lässt sich nicht vermeiden. Habe mich bis hier erfolglos um den Kern der Nacht in Recklinghausen herumgetippt. Feigling! Also auf zur Kunscht! Peter Lohmeyer, nicht nur damals nacherzählendes Wunder von Bern, sondern auch ein guter Mime, betritt die Bühne. Raunend. Die Bühne: ein gewollt bescheidener Tisch mit knapp zehn Mikros bestückt. Old School. Keine Werbetafeln. Im Hintergrund zwei Flutmasten. LED bestückt. Da kann man dann die Spielstände einspeisen. Und die Atmo halt. Bisserl Hazer. Für Laien: Nebelmaschine. Der Ton spielt ständig Stadiongeraune ein. Vorspiel halt. Im Hintergrund hängt eine Art von Meisterradkappe. Projektionen braucht es, wo die die Erinnerung schwächelt. Die Bilder zum Text. Die Erklärungen. Lohmeyer fängt an und liest. Der Schwabe Förster schwäbelt. Der Kölsche Schumacher rheinisch oder so. Bayrisch kann er nicht der Peter. Also ist Breitner nicht zu identifizieren. Neben mir sitzt ein Mann. T-Shirt mit Aufdruck: Müngersdorf. Mit über den Waden abgesägten Hosen. Elf Freunde? Man ist schnell im Gespräch. Man kichert rum. Do simmer mr dabei! Die Klimaanlage pustet etwas zu kühl. Dann der Versuch Lohmeyers Litti als Berliner zu gestalten. Weia again! Den damaligen Kommentator  der Fernsehübertragung näselt er indem, wenn der seinen Auftritt hat im Text, seine Hand vor seine Nase hält. Um was geht es? Der Chef des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund hat Zitate von damals Beteiligten zu einer Textcollage zusammen gefriemelt und nennt es Theaterstück. Chuzpe. Lohmeyer jagt durch den Text. Und – weit über 70 % Textanteil – der Einlassungen der Elf der Les Bleus gestaltet er im etwas einfach gestrickten Sound der Achtziger. Entnehmen Sie diesen Züngenschlag dem unten angefügten Leedche. Alle französischen Spieler so leider nivelliert auf eine Witzichkeit. Aber ‚allo! Es ist – für mich – inzwischen unsäglich ermüdend und dennoch ist die Erzählung ergreifend und die Textzusammenstellung liebevoll. Wo war der Regisseur? Gab es überhaupt einen? Die Geschichte ist doch wichtiger als eine vermeintlich unterhaltsame Verpackung. Oder? Was hetzt den gut bezahlten Leser derart durch die Geschichte? Warum sind die ersten drei Reihen von Politiknasen okkupiert? Warum quietscht Frau Roth ständig aus der ersten Reihe rum? Hat sie damals in Fresenhagen mit Rio und Lanrue dieses Spiel gesehen? Darf man Erinnerungen dermaßen billig vergesellschaften? Wo ist eigentlich der Tünn?

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Fünfter Akt:

Alles hat – dem Schiedsrichter sei Dank – mal ein Ende. Selbst ein Scheißspiel. (Gestern Leverkusen war echt bitter!) Und dann kütt er. Aus dem Hintergrund. Aber nicht so wie einst Netzer. Ein alter Mann isser getz. Wo kommt der jetzt her? Seine Klamotten sehen so aus, als hätte er bis vor Kurzem noch in seinem Kleingarten den Schuppen aufgeräumt. Er braucht seine Zeit bis zum Tisch mit den Mikros. Setzt sich. Lohmeyer rückt zur Seite. Ehrfurcht. Die Ränge jubeln. Frau Roth steht auf. Klick. Klick. Klick. Schuhmacher schlägt einen Collegeblock auf und liest vor. Er liest vor. Ich habe mir im Vorfeld etliche Videos vom Tünn angeschaut. Stets war ich begeistert, wie locker und freudig er in alle Mikrophone dieser Welt gesprochen hat. Und nun sitzt er da, alt an Leib und Seele und seine notierten Erinnerungen wie ein unsicherer Schulbub vorlesend. Es war kein Foul. Hat der Schiri gesagt. Ich war so unsicher. Ich habe Fehler gemacht. Ich hatte einfach nur Angst. Ich hätte wenigstens zu Patrick hin gehen müssen. Aber wenn dann die Gegner durchdrehen. Wahrscheinlich war es das. Hinter mir eine ganze Alterskohorte mit den Trikots der Nationalmannschaft aus dem Jahre 1982 auf dem vorgewölbten Ranzen. Als Schumacher seine sehr bewegenden (natürlich ambivalenten) Worte verlesen hatte, springen die auf. Genauso! Bravo! Als wolle man den Krieg zwischen Deutschland und den Franzosen, der 1982 nochmal aufkochte, endlich zum letzten Sieg umdeuten. Auch Claudia Roth stand. Und neben ihr eine mir unbekannte Kultusministerin aus NRW.  Und dann verbeugte sich Harald Schumacher. Wie oft habe ich als naiver Schauspielschüler die Direktheit des Tünn bewundert, wenn der vor dem Spiel ganz Müngersdorf für sich einnahm, während ich zitternden Knies auf der Probebühne verzweifelte. Und jetzt steht der vorne an der Rampe wie ein Anfänger vor knapp tausend Minsche. Und weiß gar nicht wie man sich so verbeugen tut. Und der Lohmeyer – Schauspieler – tut so, als sei das Festspielhaus Recklinghausen sein Bernabeu. Dann wurde zur Publikumsdiskussion geladen. Die Damen aus der ersten Reihe diskutieren mit dem Intendanten über ihre Fußballerfahrungen. Die Politiker reisen ab. Ich fand eine nette Kneipe in Recklinghausen, des Pottes guter Stube. Beseelt vom Pathos des Verlierers Platini.

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Epilog:

Am nächsten Morgen fuhr ich wieder nach Hause. Von den erneuten Verspätungen gilt es zu schweigen. Nachhirnen und Bierbüchsen. Ich wusste nicht so recht, ob es sich lohnt wütend zu bleiben. Jeder Text ist ein Kompromiss. Und Erinnerungen bleiben vielleicht lieber privater Natur. Witzbold! Und weshalb wird hier rumgetippt. Gestern las ich, dass die zwei Erinnerer die Veranstaltung auch noch in Gelsenkirchen vorgelesen haben. Zwei Tage später. Hatte ich übersehen. Fehler meinerseits. Meide man besser die Premiere. Eigentlich die letzte Erkenntnis meines Berufslebens. Und jetzt sinn die och noch im Jürzenisch. Ich hann över fünfzich Üros bezahlt. Der Preis sinkt. In Kölle nur noch die Hälfte. Do simmer nit dabei. Verpasst. So ist das mit den Erinnerungen.

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