Wanderweg hoch zum Marienaltar bei Pfronten / 14. Juni 2022
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Solingen, jahrzehntelang „die Klingenstadt“ und spätestens seit 1993 von den gerne mal Selbstgerechten in die Riege der Städte eingereiht, die ihnen ihre Weltsicht bestätigten, wobei sich tätiges Mitleid mit den Opfern wohl stets in den Grenzen der eigenen Konsumnotwendigkeiten bewegt hatte, hat ein neues Trauma seit vorvorletzter Nacht. Keine Benzinkanister, nein, wie bescheuert ist das denn: Klingen. Ist das „widerlich“? Weiter unten.
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In einer Woche Wahlen in der Heimat meiner Vorfahren. Die Reste der BRD, falls es die noch gibt, hyperventilieren. Schaun mer mal! Die gekillte Hecke visavis und meine Restwut gibt es aber noch. Bin ich jetzt gefährdet als Wutopist? Der SPIEGEL stellte letzte Woche in einem lesenswerten Artikel weit über 10 neue und ältere sogenannte Faschismustheorien Seite an Seite, um diese im Schlusssatz für obsolet zu erklären. Mit schönem Gruß an die federführenden Ompapas gegen rechts endete der Artikel. Weird? Der Autor hat so in etwa mein Alter. Gute vier Jahre jünger. Umschwirrte damals als Beauftragter der üblichen Stadtmagazine der 80er Jahre unsere Schauspiellehrwerkstatt zu Kölle und erklärte uns Altlinken, warum die „Talking Heads“ fortschrittlicher sind als Jimi Hendrix. Hatte er mal recht. Damals. Jetzt weiß er auch nicht weiter. Trotzdem schöner Artikel und lohnenswerter als das gute alte Wertegestammel meiner üblichen Altersgenossen. Natürlich geistert zwischen den Zeilen eine seltsame Sehnsucht in Sachen Rückkehr zum Marxismus und einfachen Erklärungsversuchen herum, da Thüringen ante portas und hinter jeder Höcke ein Messerstecher. Sorry! Wollte ich schreiben hinter jedem Gartenzaun? Aber jetzt haben wir GUTEN ja die Kamala und vor allem … den Stellvertreter find ich wirklich sympathisch. No lie!
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Vergleiche. Textbausteine. Helm auf! Nicht zum Gebet, sondern um mit dem Pedelec ein bisserl schneller die Nachdenkhügel hoch zu huschen. Wir haben doch keine Zeit mehr. Es ist holprig. Lasset uns die noch befahrbaren Hügel hinter unser Restleben bringen. Dicke Hintern auf noch dickeren Rädern rauschen an mir vorbei. Ich nehme dabei aber eher ab. Weia! Ernst gemeint?
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Schlechte Vergleiche funktionieren vielleicht angenehmer als unreflektierte Textbausteine. Gerhard Gundermann hatte in der DDR nur eine Platte aufgenommen. 1988. Die gibt es jetzt wieder als Platte. Eben als Platte. Vergeht Zeit? Lohnt Erinnerung? Davon später. Erst ein Text von dieser Platte.
Solingen revisited. Es übertreffen sich die Schlagzeilen. Lautstärke wird scheinbar verhalten inszeniert. Hören wir: Menschenverachtend. Perfide. Und eben dann das „grandiose“ WIDERLICH in 10 bis 20 Mikrophone gestampft im Sommerkleid. Und: Wir werden uns wehren. Jetzt ist Schluss. Der Spaltung entgegen trotzen wir Seit‘ an Seit‘ oder wie Schüler, deren überideologisierter Aufsatz an zu vielen Rechtschreibefehler scheiterte, heiße Luft aushauchend, da wir nun Kiffer sind, eben die wir nie Kiffer waren. Oder doch? Kann man an offenen Gräbern denn auch mal schweigen?
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Was ist wichtig? Bayer Leverkusen kann immer noch Nachspielzeit? Ursula von der Leyen reagiert? Dieser Post? Jener Artikel? Ein Nägel kauendes Schweigen? Oder doch ein Wüten, wenn man hört: Wir haben denen doch die ganze Kohle in den Hals gesteckt. Der Wessi dem Ossi. Der Ossi der Treuhand. Die Merkel den Eingereisten. Der Handwerker dem Saufkopp. TUI den Klimaklebern. Und das stets beleidigte Umland dem Einkaufszentrum downtown mit Fahrradstraßen statt Stadtautobahn! Ach was! Ideologischer Helm ab, sonst zu spät fürs Gebet. Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt trotzdem drinnen um. Die vielen falschen Propheten und ihre Trompeten werden irgendwann um Jericho eine Strafrunde laufen dürfen. Oder das müssen und sollen und können. Wenn man nach oben schaut, kann man sein eigenes trauriges Flugzeug erkennen. Da kreisen auch die Geier! Wer zuerst landet, der hat noch nicht gewonnen! Falls er denn …
Uff! Das da oben ist die längste, wahrscheinlich auch blödsinnigste Übertitelung, welche ich hier je geschrieben habe. Aber die letzten zwei Tage waren nicht weniger blödsinnig. Vor allem in Sachen Wiederholung. Lieber Gerhard Gundermann! Übernehme kurz mal.
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Jeden Morgen haben wir die Möglichkeit
Daß wir liegenbleiben oder gehen
Daß wir Blinde bleiben oder sehn
Breiten wir die Flügel aus
Oder stehn wir zögernd auf dem Dach
Halten wir’s mit unsrer Liebe aus
Oder trauern wir ihr nach
Jeden Morgen haben wir die Möglichkeit
Amboß oder Hammer sein
Blumen werfen oder einen Stein
Halten wir den kleinen Finger hin
Oder geben wir die ganze Hand
Wollen wir auf Sparflamme drehn
Oder sind wir bald verbrannt
Fünf Minuten noch liegen
Auf unserm dicken Fell
Die Knochen gradebiegen
Draußen wird es schon hell
Freunde, nun laßt uns fliegen
Wir wollten doch irgendwohin
Wir sind schon zu lange geblieben
Wo wir nur zwischengelandet sind
(Gerhard Gundermann)
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Ich mag sie nicht, diese sinnlosen Karussellfahrten in Sachen Ohnmacht. Vor zwei Tagen hat wieder die Wohnbau Gießen mein tägliches Blickfeld massakrieren müssen. Warum auch immer. Siehe Bilder. Oben wie unten.
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Kurz danach / Hinterhof / Gießen / Gerne hätte ich ausgeschlafen
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Dann? Die üblichen Reflexe. Ich hüpfe nach unten. Stinksauer. Meine Wortwahl ist nicht edel. Der Ästeabschneider manisch. Auch ich. Verhindere aber den weiteren Verlauf der Exekution unschuldigen Grüns, die für die andere Seite wohl Selbstverständlichkeit, die ich Dämlichkeit nennen will.
Und wieder, nachdem ich in den letzten Jahren immer wieder mit dem jeweiligen „Chefgärtner“ der Wohnbau Gießen sprechen durfte – Wieviele haben die eigentlich? Kann sich die verarmte Stadt die alle leisten? – steht man wie der Ochse vor der massakrierten Hecke und denkt und schreibt Mails und – Tata! Tata! Tata! Wir erinnern uns an die alten Western! – stürmt der alte, gute Troubleshooter mit bezopftem Haupthaar– Klar! Hat alle Mails gelesen! Ist vorbereitet für sein „Gespräch“! Und hat eine Zeugin an seiner Seite! Falls was schiefrennt! – auf die Bühne aka unseren Hinterhof. „Hier hat sich jemand beschwert?“ „Ja! Ich!“ „Warum?“ An dieser Stelle ist es angesagt Texte auch mal abzubrechen. Natürlich ist er einer dieser zehn(tausend) Gärtner. Müde und bemüht. Oder Schreiner?
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Es war, nicht anders zu erwarten, ein höchst sinnfreies Gelaber. Textbausteine versus Wut. Ich bat dann die Gehenden, nicht mehr wirklich höflich, unser Hoftor zu schließen hinter sich und das schnell. Die Begleiterin hatte, kopfnickend und ihrer Rolle etwas unsicher, noch eingeworfen, dass auch sie zweimal im Jahr ihre Hecke schneide! Wahrscheinlich auf ihrem Balkon. Weiß schon! Ist bös‘. Geht aber ums Prinzip der Scheinkommunikation. Es knirschen meine Zähne noch.
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Und dann, das tat mir wirklich weh, die Beschwichtigungsantwort einer jungen Vorzimmerfrau – man googelt Linkedin oder so ein Scheiß – die halt beauftragt wurde …. Entschuldigung und so … die Hecke ist tot … Schluss! Ein Jeder*in muss sein Geld verdienen. Aber so? Wahrscheinlich!
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Wohnen ist nicht billiger geworden. Ein bisserl mehr Grünzeug vorm Balkon? Kann man vielleicht sogar die Miete für anheben. Das Lied dazu.
Indra, Thor, Perun, Raijin, Tuper und den wir alle kennen: Zeus. Allesamt Donnergötter, Blitzeschmeißer, Ruhestörer, Erinnerer an die dem Menschen verordnete Ohnmacht und Wundenschläger. Narbenritzer. Deshalb einst verehrt oder zumindest respektiert.
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Wie ich schon erwähnte, war ich vor 3 Wochen unten In Konstanz. Wieso schreibt und sagt man in dem Zusammenhang immer „unten“? Weil das einem der Diercke-Atlas einst so beibrachte? Egal. Tage zuvor hatte es gebrannt in der – mittlerweile meist von Touristen gefluteten – Altstadt. Ein schönes altes Haus ward Opfer. Gebaut so damals, daß eben alles mit allem zusammenhing. Wände sich gegenseitig stützten, aber so auch gefährdeten. Keine Brandschutzmauern. Abhängigkeiten. Akzeptierte Nähe. Heute schaut man sich das wohl eher gerne an. Von außen. Hübsch. Gelle. Vorstadtbewohner, die wir alle im Kopf wurden und werden. Nicht im Zentrum hausen. Aber immer kostenfreien Zugang einfordern zu organisierten Gemeinsamkeiten. Von den ruhigen Rändern ab in die vermeintlichen Mitten. Und schnell wieder zurück. Ich schweife ab.
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Natürlich musste ich ein bisserl Katastrophentourismus betreiben. Ein alter, lange schon verstorbener, Freund hatte da mal gewohnt. Unterm Dach. Bevor ich um die wohlbekannten Ecken bog, die Gasse heißt tatsächlich „Vor der Halde“, bereit Fotos zu „schießen“, schoss mir dieser beißende Geruch in die Nase. In die Nerven. Ins Hirn. In die Ecken der Erinnerung, die dort verwaltet werden. Verkohlte Balken. Verbranntes Plastik. Zerborstene Steine. Wir waren mal abgebrannt. 1972 im Sommer. Blitzschlag. Glimpflich die ganze Familie davongekommen. Jedoch mit „nachhaltig“ nachhallenden Schäden im Gefüge. Das Gerüst, welches eh schon wacklig, angelogen, rostig, es kollabierte. Schleichend. Müde. Todgeweiht. Sich selbst aus der Not heraus beschönigend. Hat man denn eine wirkliche Wahl jenseits parfümierter Lügen? Mit immer noch nicht bewältigten Folgen, dieser stechende Geruch bleibt in meinen Synapsen gespeichert. Was mich überraschte. Aber auch nicht. Auch die Koketterie ist eine angemessene Form der Katastrophenbewältigung.
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Auf der Schauspielschule betrieben wir gerne und ausgiebig „Sense Memory“. Eine durchaus wirksame, nicht ganz ungefährliche Methode, um sich die weltbedeutenden Bretter untertan zu machen. Mancher ist auf diesem Weg dennoch erfolgreich ausgeglitten in Richtung Erfolglosigkeit. Leider allzu oft Kolleginnen. Vielleicht auch ich. Dann doch lieber vergessen statt vorwärts und ohne das Vergessen? Oder doch nicht?
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Festgestellte Zeiger allenthalben. Wer hat noch Mut die Zeiger eigenständig festzuklemmen? Herr! Diese zwei Tage noch! Auf den Berg hinauf! Zur Not mit einem Pedelec! Fragen liegen rum. Wer zuerst vergisst lebt länger? Wer zuletzt vergisst ist der Ochs‘ am Berg? Es gibt etliche Möglichkeiten sich selbst auszutricksen. Die wenigsten greifen. Soweit mal heute mich aus den geschlossenen Fenstern gelehnt. Man sehnt. Und wähnt. Als weidda.
Liebe Randgruppen-Gemeinde, Wegbegleiter und aufmerksame Beobachter,
wir konnten es nicht fassen, als wir letzte Nacht die Nachricht über seinem Tod infolge eines Herzinfarktes von seiner Frau Anne per SMS erhielten. Noch letzte Woche waren wir am 6. August zu seinem 69. Geburtstag bei ihm in einem kleinen Dorf in der Nähe von Tübingen zu Gast.
Am folgenden Tag haben wir gemeinsam draußen vor der großen Scheune gefrühstückt. Er viel weniger als wir. Andreas Rogge, gelegentlicher Dudelsackspieler bei der Randgruppencombo und weltweit geschätzter Pipermaker, hatte extra Bio-Brote vorbeigebracht.
Dabei haben wir auch über das letzte Konzert der Randgruppencombo im Festsaal Kreuzberg vom Dezember 2022 gesprochen und versprochen, es endlich auf 2CD eventuell plus einer möglichen DVD mit Impressionen und vielen Interviews zu veröffentlichen. Nun wird dies zu einem besonderen Vermächtnis.
Heiner, Du fehlst schon jetzt!
Die BuschFunker in Trauer
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Gestern wurde mir vom Buschfunk obige Todesanzeige zugesandt. Ohne Heiner Kondschak, den ich schon in den frühen Neunzigern am LTT in Tübingen kennenlernte als einen beeindruckenden Menschen und Musiker und und und, wären meine zwei ergiebigsten Theaterarbeiten „Rio Reiser / Kaiser von Deutschland“ sowie „Gundermanns Tankstelle der Verdammten“ so nicht möglich geworden. Heiners Name war bei Buschfunk der Türöffner schlechthin. Dafür tieftrauriger und ewiger Dank.
Wallhausen bei Konstanz / Richtung Mariens‘ Schlucht / Gesperrte Wege / 31. Juli 2024
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Da lese ich halt gerne Zeitungen in dem Café. Hätte man mir dies vor Jahren vorausgesagt, ich hätte wohl geweint. Es sind Schritte um die Ecke. Übelst überteuerter Wein. Die Zeitungen, die ausliegen, werden von Tag zu Tag dünner. Vor allem geistig. Eine Küche von der zu schweigen geboten ist. Junge Menschen klappern sich laut an. Schwiegereltern auch. Schlimm und schlimmer. Die ein oder andere freundliche Bedienung. Alten Männern um den hängenden Bart gepinselt wird dann. Ich war immer ein überzeugter Trinkgeldgeber. Gespräch. Adele. München. Hat sie noch nie erlebt. Sagt sie.
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Jetzt Auftritt alter Sack: Hat Adele „Make You feel my love“ gesungen? In dem Tempel, da die Musikanten nicht mehr zum Volk reisen, sondern das Volk locken. Quatsch! Zwingen! Was hat das gekostet, das alles? Über 300 Euro? Für das eine Lied lohnt sich das? Warum? Ist nicht von Adele? Nee.
Ich war eine paar Tage unten am Bodensee. Altherrentreffen plus – Verzeihung – inkludierter Damen. M8a. Komprimierte Sommertage. Trocken hingereist. Feuchter abgefahren. Siehe Überschrift. Die Heimat halt und die beeindruckenden Landschaften. Diesmal auf der Bank eines E-Motorrollers. Dranbleiben am Atmen der restlichen Zeit.
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Heimreise. Lese vom Tod von Wolfgang Rihm. Schwammige Erinnerungen. Ein alter Konstanzer Freund damals, der von diesem Künstler schwärmte. Wieder mal vom einem Tod lesen, der wie immer seine Zeit brauchte. Sich streckte und dehnte und schmerzte bis zur Gnade einer erlösenden Himmelfahrt.
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Tags darauf. Zuhause. Nachklapp. Rihm vertonte, um seinen Abschied wissend, Verse eines ihm bis dahin unbekannten Dichters. Uwe Grüning. DDR-Bürger. Selbstredend eigentlich. Vom Überwinden der Zeit. Auch der letzten Tage. Die verheißen nichts und bleiben schwer und leicht. Wie jeder Sommer und seine Versprechen.
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Überwundene Zeit
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Der Sommer verrät schon das Land.
Die Mühlenflügel
stehen still wie mein Schicksal.
Jeder Spiegel scheint blicklos.
Die Augen regen sich nicht.
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Alles
scheint ohne Gewalt
und wird
unendlich leicht
wie mein Leben
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Immer, wenn ich den See besuche, verabschiede ich mich. Wovon? Von den Bildern? Von den alten Freunden, die dort unten noch eine Art von letzter Verheißung wittern? „Schon schön hier!“ Sagen wir da immer vor uns her. Ein Reflex, der bleibt. Nochmal unten Uwe Grüning. Der mir jetzt bekannte Dichter, der wenige Tage vor Rihm gestorben war. Nicht ganz einfach im Antiquariat einige seiner Werke zu bestellen. DDR-Erbe halt.
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„Landschaften sind selten, doch niemals gleichbleibend schön allein aus sich selber. Sie bedürfen des beglückenden Augenblicks, eines Frühjahrleuchtens, eines sinkenden Widerscheins, eines erfüllten Gefangenseins in Wehmut und Erwartung. Tritt die Erinnerung nicht hinzu oder eine empfundene Verwandtschaft mit dem eigenen Dasein, so bleiben sie seellos.“
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Manchmal denke ich, man sollte bevor man ins Reich seiner Erinnerungen eintreten muß, will oder darf, ein Ticket lösen. Müssen? In gereimter Form. Oder ein Lied.
Versuch angesichts vergangener Weltuntergänge lose Enden miteinander zu verknüpfen
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„Als Dylan die Bühne betrat, streckte Hilbig seinen Arm mit der zur Faust geballten Hand wie ein Boxer nach vorn. Es sah aus, als würde er bereit sein für die letzte Runde.“ (Michael Opitz / Wolfgang Hilbig – eine Biographie)
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Gelegentlich, in letzter Zeit häufiger, stoße ich beim ziellosen Herumlesen auf mannigfaltig herumbaumelnde lose Enden. Eben jetzt bei und über Wolfgang Hilbig, der gefördert wurde, Heizer noch, schreibendes Prekariat, von Franz Fühmann, jenem Großmeister der Mythenerzählung, da beide verband die Liebe zur Romantik, Counterpart zu jenen scheinbar weltwissenden Aufklärern, ETA Hofmann und vor allem der nun von mir zu entdeckende noch, Novalis, eigentlich Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, tätig im Bergbau, der erschloss die Braunkohlelagerstätten in der Gegend um den heutigen Tagebau Profen, unweit Hilbigs Geburtsort Meuselwitz, der heiratete und wirkte auch in Freiberg, wohin ich mit der Gattin die erste Reise nach dem ersten Lockdown und dem Verlust aller Tätigkeit antrat, ins Erzgebirge, welches durchlöchert, durchgegraben, ausgehöhlt, entleert, befreit vom Silber, den Erzen und ließ hunderte, tausende Männer zurück in den Stollen, Wiedergänger, Gespenster, unterirdisch rumorende Geschichten.
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Wolfgang Hilbig, der aufwuchs, malochte, boxte, zu schreiben begann in jenen Meuselwitz, halb Sachsen, eigentlich aber Thüringen, mitten in den Abbaugebieten, Profen in der Nähe, wo ich im Sommer 2000 spazieren ging mit einer Liebe, in Leipzig probte ich den Teufel in einen Faust-Projekt, und wir in die gigantischen ausgebaggerten Abgründe blickten, nicht ahnend, zumindest ich, dass dies nur der Beginn war eines unendlich tiefen Falls in schwarze Gruben, ein Einbrechen, was mich 5 lange Jahre begleiten sollte und führte in diese gesichtslose Stadt, in der ich lebe immer noch.
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Jener Franz Fühmann, einer der vielseitigsten Schriftsteller und Kinderbuchautoren der DDR, der beschloss 1974 im Mansfelder Land über Bergbau zu recherchieren, er selbst unter Tage fuhr, arbeitete wie jeder andere Bergmann, für ihn der Schacht war ein Ort der Wahrheit, ein Urerlebnis, ein Tummelplatz von Geistern, die etwas zu erzählen hatten, der dann starb, gebeugt in einer kargen Schreibgarage in Märkisch-Buchholz, wohin ich radelte in brütender Hitze 2014 durch den schlingernden märkischen Sand, über sein Spätwerk „Im Berg“, Fragment, unvollendet, der Bericht eines Scheiterns und dessen Traktat über Georg Trakl, der „Sturz des Engels“, oder wie es ursprünglich betitelt war „Vor den Feuerschlünden“, ich 1991 erst in Tübingen, dann in Thüringen las und spielte als ein schwergewichtiges Solo, den Engel ich dann vergaß, bis ich ihm 2019 wiederbegegnete in Hoyerswerda, im Tagebau Welzow, da ich Texte und Bilder sammelte für meine Arbeit „Die Tankstelle der Verdammten“ über den Sänger, Baggerfahrer und Poet Gerhard Gundermann, meine letzte Inszenierung hier vor Ort unter der Fuchtel der gerne kunstfrei Machtbesessenen.
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Und immer wieder singen in all den Jahren von den Weltuntergängen, wie auch Hilbig oft umkreiste das Ende aller Enden, als stünden die endgültig letzten Erschütterungen nicht vor der Türe, sondern haben lange schon lange stattgefunden oder ereignen sich tagtäglich, unbemerkt oder Trommelfelle platzen lassend und ein Finger weist hinüber zu Jura Soyfer der, Jude, hundert Jahre ist es her und war schon damals keine Neuheit, aus Charkiw fliehen musste mit den Eltern nach Wien, landete in dieser Stadt des fröhlichen Sterbens, den Heldenplatz vor Augen und schrieb ein monströs komisches Theaterstück: Weltuntergang oder »Die Welt steht auf kein‘ Fall mehr lang«
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Und wie sie weiter eiert durch das Universum, die Welt, welche lediglich der Planet Erde ist, krumm, schief, hechelnd, grausam, ignorant, besetzt und gefoltert von einer Spezies, die versucht ihre eigenen Geister, Gespenster, Götter, Ahnen und Erfahrungen zu ignorieren, totzuschweigen, zu übertünchen und ordinär zu schminken, aber dort wo Mondkrater aus der Landschaft gebaggert werden, wurden, atmet es weiter und die Wiedergängerin Brigitte Reimann ruft in die Nacht des Jahres 1957: „Hoyerswerda ist überwältigend, das Kombinat von einer Großartigkeit, daß ich den ganzen Tag besoffen herumlief.“, so hoffnungsbesoffen, wie ein jeder einmal sein sollte.
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Wolfgang Hilbig, vom nahenden Tode markiert, war überglücklich, als er am 3. Mai 2007 von Freunden im Rollstuhl in die Max-Schmeling-Halle geschoben wurde, der alte Boxer, den eine gute Freundin und Begleiterin seiner letzten Tage, Christiane Rusch, als wandelndes Bob-Dylan-Lexikon bezeichnete und mit ihm zusammen ein allerletztes Gedicht verfasste:
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als sie noch jung waren die winde
war ich verworren
und blind und taub
für ihren gesang
jetzt wenn ich das land durchstreife
und nicht mehr weiß
wo ich bin
und nichts mehr wissen will
in meinem herzen
denk ich an die winde
die alt geworden sind
–
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PS: Eines nur bemängelte der begeisterte Dichter, dass Dylan nicht sein Lieblingslied auf die Setlist geschrieben hatte, welches ich nachreiche den Gespenstern zu Ehren.