Der rechts überholende Radfahrer / Vom Zustand der untergehenden Res publica / Fangen wir an zu rauchen 01

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Stadttheater Gießen / Hinterausgang / Sommer 2008

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In letzter Zeit bin ich nicht wöchentlich, aber eigentlich täglich mit einem neuen Phänomen konfrontiert. Nennen wir es: der rechts überholende Radfahrer. Kann sich da aber auch – oft sogar -um einen weiblichen Menschen handeln. Jedenfalls fürchten die diversen Radbeweger wohl, daß, überholen sie gemäß StVO den vor Ihnen Herfahrenden linkerhand, von linkerhand ihrerseits ein böses Auto ihnen zu nahekommen könnte. Und da die Gefahrenabwägung immer beim Ego landet, rauschen sie dann – klingeln ist verpönt, weil aggressiv oder so – rechts an Dir vorbei. Dämlich.

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Ich habe die unselige – oder selige? – Angewohnheit aus grassierenden Alltagsgewohnheiten gesamtgesellschaftliche Schlüsse zu … ähem … behaupten. Was ich sagen will? Sich nicht selbst den Gefahren aussetzen wollen, die Verantwortung weiterreichen und wenn der Depp sich erschrickt, den ich rechts überholte, obwohl von links her der Laster erst morgen eventuell an mir vorbeigefahren wäre, dann: selber schuld Du Dino.

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Dachte heute, ob ich vielleicht wieder anfangen sollte zu rauchen. Blöde Idee natürlich. Warum auch? Nun: die rechts überholenden Radfahrer haben mich auf die Idee gebracht. Die Risiken namens Leben mal wieder selbst übernehmen. Links überholen. Der LKW ist nicht schuld. Mama nicht. Papa nicht. Noch nicht mal Du selbst. So ein paar unschuldige Regeln sind nicht gleich Guantanamo. Wenn ich mir auf den Finger haue, ist der Hammer nicht schuld. Und schon gar nicht der Nagel. Verklage halt den Baumarkt.

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Habe vor Ewigkeiten mal ein Theatersolo zu diesem Thema geschrieben. „Rauchpause oder der Sieg der langen Unterhose“ nannte ich es. Werde das jetzt hier in lesbaren Portionen servieren. Weil es mir gefällt. Und weil ich zu faul bin was Neues zu schreiben. Und wenn Sie demnächst ein Fahrradfahrer von rechts überholen sollte: ich war es ganz gewiß nicht.

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RAUCHPAUSE / Teil 01

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(Wir befinden uns im Hinterhof einer Kneipe. Nach Einführung des NRSG. Ein Mann tritt auf. Er hat viel an, sehr viel. Stellt sich an einen Rauchertisch, der wiederum in einem gelben Quadrat steht. Wartet. Raucht. Während er die erste Zigarette konsumiert läuft vom Band – mit der Stimme des Schauspielers – folgender Text:)

Ich saß am Ufer eines Baggersees, ein milder Spätsommertag neigte sich dem Ende zu. Auf dem Wasser zog ein Schwanenpärchen seine Bahnen, die sinkende Sonne färbte den Himmel ein und Flugzeuge malten weiße Kreuze ins Firmament. Ich lehnte zusammen mit meinem Fahrrad an einem Baum und zündete mir eine an, als mich schlagartig das körperlich spürbare Gefühl überfiel, beobachtet zu werden. Ich drehte mich um und sah wie ein kleines Männlein im Rollstuhl mit hektischen Ruderbewegungen im nächsten Gebüsch verschwand. Sobald ich wieder nach vorne schaute und an meinem Stäbchen zog, kam er wieder aus dem Gebüsch gefahren und fummelte hektisch an einem überdimensionalen Handy rum, dem grässlich laute Piepstöne entwichen. Die Schwäne auf dem See begannen plötzlich aufeinander einzuhacken, sich gegenseitig zu verletzen und sie bluteten gelbes Blut. Damit malten sie kleine Vierecke auf das Wasser des Sees. „Zugriff!“, schrie auf einmal das Männlein in sein Mobiltelefon und am Himmel erschienen sieben ferngesteuerte Helikopter, die – als sei dies ein monströses Hütchenspiel – begannen gigantische Plexiglaskegel vom Himmel zu werfen, offensichtlich in der Absicht, mich damit einzufangen. Ich versuchte zu fliehen, doch als ich mein Fahrrad besteigen wollte, um wegzufahren, schrie dieses mich an. „Sünder! Pestbeule! Oraler Knecht.“ Dann bewarf es mich mit überfüllten Aschenbechern und fuhr wiehernd davon. Ich blickte nach oben und sah nun wie einer dieser Plastikkegel ganz langsam auf mich zu schwebte. Er rotierte dabei leise um die eigene Achse, von einem Summgeräusch begleitet, das wie der Gesang asiatischer Mönche klang. Angewurzelt blieb ich stehen, ich hörte das Blut in meinem Schädel pochen und wie der Deckel einer Senftube schraubte sich der Kegel über mich und in die Erde. Gefangen. Schlagartig spürte ich, wie mir die Luft wegblieb und ich begann zu schwitzen. Verzweifelt strampelnd versuchte ich meine drei langen Unterhosen abzustreifen, die aber jedes Mal, wenn ich sie bis zu den Knöcheln runtergezogen hatte, sich wieder aufrollten und mit der Stimme meiner Mutter zu mir sprachen: „Ich verstehe Dich einfach nicht. Warum setzt Du Dich immer solchen Situationen aus?“ Ich versuchte zu argumentieren, ich hätte ja wohl nicht mit den Helikoptern angefangen, als das Männlein begann wie wild von außen gegen das Plexiglas zu treten und zu spucken. Dabei drückte es grinsend auf den roten Knopf einer gigantischen Klingel, die an seinen Rollstuhl befestigt war. Der Himmel hing voller Teebeutel, zwischen denen die sieben Helikopter so etwas wie Fangen spielten. Die Schwäne schwammen nicht mehr, sondern steppten jetzt übers Wasser und mein Fahrrad – inzwischen zum Rappen mutiert – hatte eine kalte Cohiba im Maul und wieherte dabei lustig vor sich hin. Ich erwachte.

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(Gießen / Spätherbst 2009 / to be fortgesetzt)

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Unter der Leichendecke der Buchstaben weiteratmen / E viva Remontada

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Manchmal sind mir die Worte alle zuviel. Die ganzen Worte, die ich täglich inhaliere. Oder auskotze. Im Park liegen lasse. Einer Liebsten unter die Matratze schiebe. Einem Nervtöter auf die Stirn küsse. Diese Buchstaben, die Tag und Nacht auf mich einprügeln und die ich mit beidhändiger Rückhand übers Netz in die andere Spielhälfte der Welt „dengele“, eine Stille nicht ertragen könnend. Wie ein Kind vor mich her plappernd. Wie ein seniler Tourettist geräuschvoll ausatmend alle scheinwichtigen Gedanken.

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Las gestern ein sehr schönes Interview mit Armin Müller – Stahl. Er sprach davon – er pendelt zwischen der Ostsee und den Vereinigten Staaten und so falle ihm so etwas eher auf – wie sich seine Sprache, die nun mal die deutsche ist, ständig verändert, neue seltsame Worte in Mode kommen, plötzlich aufgeladen mit Bedeutung und daß dies manchmal Schmerzen bereiten könne. „Nachvollziehen“ zum Beispiel nennt er. Das Wort sei doch scheußlich. Schön. Kann ich wiederum nachvollziehen.

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„Wörter bleiben stumm und friedlich / obschon ihr Inhalt weggeflogen / Schlagen um jedoch wie Wetter / werden bös, gemein, brutal, verlogen. / Kommen aus dem Hinterhalt / schleichen, loben, lügen, richten. / Doch was sie in Wahrheit wollen, ist dich und deine Kunst vernichten.“

(A. Müller -Stahl)

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Gestern hat Toni Kroos ein Interview abgebrochen. Schön zu sehen, wie er die Hände vor sein Gesicht hält, (ge)sichtlich unter den Worten des slomkaesk gescheiten ZDF – Reporters leidend. Weil der Frager nicht kapierte, wie wichtig die „Remontada“ ist. Das Zurückkommen. Nicht die herbei phantasierte Überlegenheit kann sein Dein Ziel. Ich mochte den Trainer der alten und weniger offensiv frisierten Männer aus Spanien, der ohne Zähnefletschen und berufsjugendlicher Kappe seine Kicker gelassen ins Ziel coachte. Und sehr viel weniger Worte benutzte. Danach dann sogar.

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Manchmal düngen die Worte den Acker, oft lassen sie alles was dort wuchs oder noch wachsen wollte, verdorren. Jedoch: Wird Schweigen jemals mein Gemüse sein? Gehe jetzt mal im Gedankenschrank nachschauen.

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Armin Müller – Stahl hat im Alter den Worten abgeschworen. Er malt. Nachdenkenswert. Denke an einen alten Regisseur von mir, der es ähnlich entschied. Geh zurück in Dein Buch. Lies es und vernähe Deine Lippen.

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Postschreibum und Nachklapp vom 30. Mai 20Zwei:

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Habe eben im Hinterhof ein paar junge Pflänzlein, die meiner Ehefrau am Herzen liegen, gewässert. Das Wochenende war zwar ordentlich kühl – Was erlaube Wetter? – nach eher durchgeknallt warmen Eisheiligen – Was erlaube Wetter revisited? – aber Wasser brauchen die Kleinen trotzdem. Fährt auf den Nachbarhof unseres Hinterhofs ein eine Nachbarin. Gesprächsthema 1 natürlich das Wetter. Also wie kalt das wieder sei. Und daß man trotzdem gießen müsse. In Gießen. Sie wäre heute morgen in die Praxis gekommen und man hätte die Heizung andrehen müssen. Ich ja auch am Schreibtisch, erwidere ich und sowieso den Dings friert es ja im dicksten Winterrock. Sagte ich dann auch noch. Gießend in Gießen. Aber jetzt ist morgen oder übermorgen Juni und ich heize noch. War ihre Antwort. Sagte ich dann unbedarft: Solange die Russen uns noch Gas liefern, geht das doch alles noch. Die Nachbarin schaut mich an als sei ich Gerharda Putin oder Wladimir Merkel in Personalunion, dreht sich auf dem Absatz um und iss weg. Vielleicht ist es das, was Toni Kroos in Sachen Deutschland meinte in diesem „Feldgespräch“.

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Postscriptum due: Las ich heute. Die Mikrofonhalter nennen dieses After – Work – Stalking wirklich Field – Interview. Nachgespräche auf den Schlachtfeldern? „Sagen Sie mal, hatten Sie den Gegner gleich im Visier? Oder hatten Sie erwartet, daß die Lieferung der schweren Abwehrwaffen schon stattgefunden hatte?“ „Ich bin eigentlich nur froh, überlebt zu haben!“ „Haben Sie da kein schlechtes Gewissen? Der Gegner hatte doch die besseren Haubitzen!“ Freue mich schon wieder auf das Tagesheute. Selbstredend gegeben highgeheelt und in nachhaltigen Designerklamotten. Und nun zum Sport.

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Von den alten Telefonaten einer Stille

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Konstanz / Verteilerbuchse über der Unteren Sonne hinter der Hinteren Sonne / 11. März 2022

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So. Mit drei Ausrufezeichen. Das letzte Ruinenphoto aus Konstanz. Das ist eine alte Verteilerdose. Über Drähte miteinander schwätze! Wosch noh? Man mag kaum glauben, daß diese Drähte damals Gespräche hin und her ruckeln ließen. Von rotierender Scheibe zu rotierender Scheibe. Stand man in der Telefonzelle, galt es zu beachten stets genug Zehnerle dabei zu haben und sich trotzdem kurz zu fassen. Wartende – vor allem nächtens und promillt – konnten recht wütend werden. „Wenn Du Seggl etz it gleich do raus kommscht, no loß i di dä Telefonhörer fresse! Kapiert?“ Wenn man selbst vor der Telefonzelle stand, weil die neue Freundin nicht so auf Blitzbesuche stand, sondern (Die hatte schon ein Telefon … ähem … also ihre Eltern!) darauf bestand „kurz mal anzuklingeln“, war es wichtig die eigenen Aggressionen im Zaum zu halten. Indische Heilkräuter konnten zur Gelassenheit beitragen. Eventuell. Was nicht heißt, daß man nicht selbst auch mal beherzt gegen die Scheibe trat. Nicht immer wissend, was daraus folgen mag. Ging meistens gut aus. Früher endeten Auseinandersetzungen, selbst nach blauem Auge, nicht gleich auf der Polizeiwache. Eher am Tresen.

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Zwischenbemerkung: Man soll als AGM (bianco) doch nicht die alten Zeiten beschwören und dann auch noch die Errungenschaften der digitalen Kommunikation ausnutzend. Gelle! Ich weiß. Aber als AGM (white) habe ich heute zur morgendlichen Weinprobe (Vorsicht! Satire!) gerne und erfreut folgendes von Herrn Martenstein gelesen. Hier mal zum HÖREN.

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Zurück in die Telefonzelle. Also wenn man war drinnen. In der Telefonzelle. Das andere war noch nicht möglich. Dann hat es halt manchmal gedauert. Und die korrekten Geständnisse, obwohl es die noch nicht so gab in Sachen Korrektheit des Empfindens, mußte man ja auch noch lernen.

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„Hallo? Bist Du noch da?“

„Ja!“

„Leg bitte nicht auf!“

„Ok!“

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Das minutenlange mit – Seufzern / Zwischenrufen / „Ja, Mama, ich komm gleich!“ / Heulrotz hochziehen / Feuerzeugklicken und dann hektisches Inhalieren / im Hintergrund LC’s „Hey! That’s no way to say good bye“ – garnierte Schweigen wurde abrupt beendet von einem lauten Schlag gegen die Scheibe der Zelle. „Wenn Du Seggl etz it gleich do raus kommscht aus derre Zelle, no loß i di dä Telefonhörer fresse! Kapiert? Und mach Dein geischtige Hosestall zu. `S zieht! Brauchsch ä Tempo? Heulsuse!“

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Manchmal ist man dann halt doch einfach bei ihr vorbeigegangen. Wenn man keine Zehnerle mehr hatte. Oder Herzensnot. Hat geklingelt. Geklopft. Steinchen gegen das Fenster geschmissen. Im Guten wie im Bösen. Fiel damals noch nicht unter Stalken. Und dann schlich man wieder heim. Mit oder ohne blauem Auge. Gelegentlich mit rosaroter Brille. Roten Ohren eigentlich immer. Ich muß aufhören mich zu erinnern an das, was ich eigentlich vergessen hatte, aber mein Kopftelefon klingelt eben:

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Was machst Du eigentlich so? / An den Ufern sitzen / Wein trinken / L(i)eben

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Konstanz / Durchgang zur Unteren und zur Oberen Sonne /11. März 2021

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Saß ich einst beim Glaserl Wein

Ließ Fünfe ungerade sein

Als eine Taube ungefragt

Sich auf meine Schulter wagt

Und gurrt und nickt den Taubenkopf

Rupft Haare mir aus meinem Schopf

Und taubt recht frech auf dieses Buch

Worinnen ich die Wahrheit such‘

Das müd‘ auf meinen Knien ruht

Ich kraulte durch die Wörterflut

Und ließ die Taub‘ gewähren

Und die Gedanken allzuschweren

Die aus meinem Hirn dem leeren

Fielen in den Hinterhof

Lagen rum und ziemlich doof

Die Taube von der Schulter runter

Pickt die Gedanken froh und munter

Ring sich durch zu einer Frage

Ich sage nur, dann frag‘, ich sage

Und das Viech, dumm, aber froh

Fragt nur: Was machst Du so

Den ganzen lieben langen Tag

Während wir Tauben sammeln

Und die Mimen gammeln

So vor sich hin

Wo ist der Sinn

Ich griff zum nächsten Glaserl Wein

Und ließ die Taube Taube sein

Weil ich ja auch nicht höre

Wenn mir das Leben rät

Dann ist es meist zu spät

Du mich nicht störe

Aus der Sonne geh‘

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Im vino ist kaum veritas

Im Keller hab‘ ich noch ein Fass

Jedoch auch tausend nackte Fragen

Ich richte meinen Kragen

Die Taub‘ hatte drauf geschissen

Ich hätt‘ es wissen müssen

Ach ja was stand im Buche

Was der Taube Suche

Hat ich es gelesen

Sehr lange ist’s wohl her gewesen

Der Rhein der floß am Dom vorbei

Aus meinem Herzen tropfte Blei

Und sie sammelte Schuhe

Doch ich fand nie die Ruhe

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Der Mensch lernt selten

Meistens nie

Säg‘ Dir doch ein Loch ins Knie

Und stelle dort den Christbaum rein

Mit allen Wünschen

Kugeln Sterne

Die aus Stroh

So sprach einst der Vater gerne

Depressiv doch lebensfroh

Bevor er sich vom Acker machte

Kalter Himmel müde lachte

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Am Fluß an jedem Vorstadtufer

Steh‘n sieben einsame Rufer

Jedoch der Flößer streikt

An manchen Tagen

Was wollt‘ ich sagen

Dann bleib‘ ich noch was sitzen

Und laß‘ den Fluß gewähren

Bei einem Glaserl Wein

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(Mix aus: Konstanz 1973 / Köln 1997 / Gießen 2006 / Kiel 2021)

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Ruhe des Herzens bedeutet in der Regel nichts anderes als Stillstand des Hirns (Bernd Wagner)

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Konstanz / hinter der Hinteren Sonne / 11. März 2022

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Noch mehr schwere Waffen genehmigt. Eben im Radio. Gestern Abend ukrainischer Kinderchor auf dem Kirchenplatz. Allenthalben die neuen T – Shirts. FCK PTN. Eben vor dem etwas schweren Aufstehen las ich:

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„Da waren auch die Überreste der Residenz und seiner Getreuen unweit der Grenzbarriere von Koromogaseki, die den Zugang zum Nambu – Gebiet sicherte: keineswegs eine unpassende Stelle, um die Nordbarbaren abzuwehren. Die treuen Vasallen (des Helden Yoshitsune) hatten sich dort verschanzt – ach, der Ruf ihrer Ruhmestaten war von kurzer Dauer. Von dichtem Gestrüpp sind alle Spuren überwuchert.

Das Land ist verwüstet – Berge und Flüsse aber blieben unversehrt – über Burgruinen grünt, wenn der Lenz kommt, nur noch Gras!

Diese Gedichtworte gingen mir durch den Kopf. Mit meinem Bambushut unter mir ausgebreitet, saß ich da, vergoß Tränen und vergaß die Zeit.

Sommergras …!

Von all den Ruhmesträumen

die letzte Spur“

(Basho / Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland)

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„Die Frage nach der Verhinderung des Krieges muß anders formuliert werden: Wie kann der Mensch ohne Krieg auskommen?“

(Bernd Wagner / Verlassene Werke)

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Weismann und Rotgesicht revisited / Just another Desert Blues to be sung

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Konstanz / hinter der Hinteren Sonne / 11. März 2022

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Wenn wir uns in den wüsten treffen

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Wenn wir uns in den wüsten treffen

Ich gepeinigt vom fußpilz

Du gequält von filzläusen

Wenn wir uns die badelatschen um die ohren hauen

Und sprechen von überhöhten rezeptgebühren

Da wir gestern noch träumten

Oder lagen in beheizten schützengräben

Statt zu feuern in den badezimmerspiegel

Heilige eide aber in den maihimmel singend

Die einzuhalten wir niemals fähig werden sein

Oder gar wollten dies

Wenn der wüste sand um unsere knöchel tanzt

Der schwanz des skorpions sich reckt

Und in geliehenen gamaschen wir

Wieder die wildgänse durch die nacht rauschen lassen

Mit schrillem schrei nach norden

Links zwo drei vier

Links zwo drei vier

Stillgestanden

Steht der esel der uns im galopp verloren

Stoisch neben einem kaktus

Und nagt an den stacheln

Dahinter sei das wasser gespeichert

Sagte man ihm

Hätten wir vielleicht auch zugehört

Dürsteten wir weniger

Die schlimmsten väter sind die

Die keine sind

Die krippe scheint leer dieser tage

Der ochse dreht sich am spieß

Der esel tröstet die joseflose marie

Die rollenden dornbüsche kreuzen unsere wege

Zwölf uhr mittags

Und keine helden in sicht

Die hauptstrassen nicht leer

Sondern voller

Toter

Utopien

Gedanken

Wünsche

Hoffnungen

Menschen

Kinder

Menschenskind

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(gießen / vor zwanzig Minuten / heute)

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Ich weiß nicht warum, aber gestern nachdem ich Putin, dieses morbide Steinzeitreptil, neben seinem Wachsfigurenkabinett sitzen sah in der Tagesschau, in den leeren Himmel starrend, wo sie ihre mächtigen Flieger erwartet hatten, Zeichen des Sieges in den Äther zu schreiben, mußte ich an meinen verehrten Theaterleitstern George Tabori und seine Theaterfassung von „Weismann und Rotgesicht“ denken, wo ein alter Jud‘ und ein zum Indianer umgemodelter Cowboydarsteller – wohl auch ein Jud‘ – sich permanent ihre eigenen Leiden um die Ohren hauten. Wer hat denn wohl noch mehr gelitten? Conclusio: Nur ich habe mehr gelitten als ich. Gelle! Wie sehr ich diesen bösen Humor angesichts aller eigenen besungenen Leiden und Schmerzen, die meistens die der Anderen sind, doch vermisse. Leider auch visavis des eigenen Badezimmerspiegels. Also den Humor. Die Schmerzen weniger. Irgendwo in den alten Pappkartons muß es noch rumliegen das Werk. Erst mal suchen. Dann vielleicht finden. Wird bald hier zitiert. Und beim Tippen der Worte oben hörte ich dieses Lied. Warum? Rongwrong oder I look into my little black book. I’m old before my time. I feel that i’m growing out of this world. Dann noch die „düsteren – sompre reptiles – Reptilien“. Die alle Zeitläufte überleben. Aber hören Sie selbst!

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„Niemand glaubt mir, nicht mal ich!“ (Rammstein)

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Die nahende Rente. Die Untätigkeit. Die Nachwirkungen der weiter umherschleichenden Pandemie. Diverse unangenehme Mondknoten. Die grauenvollen Zeitläufte. Da hadert man gerne. Mit sich. Den Anderen. Kurz: der ganzen Welt. Oder kramt in der Hoffnung auf gelegentliche Milderung in alten Pappkartons. Meist findet man das immer gleiche. Das Leben ist ein Karussell. Manchmal sogar eine Falle, die man sich selber stellte.

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Dies denkend, höre ich im Radio – Rockantenne aka die alten Pappkartons und der immer gleiche Inhalt – das NEUE Album von Rammstein. Zeit. Wo ist sie hin, wie ich vor zwei Tagen hier schrieb. Ich mag das Pathos der Herren. Die Selbstironie. Und die versteckten Anspielungen. Und die Visualisierung in banaler Härte dieses ewigen Bubenwunsches: zurück in den Mutterleib. In jenen Momenten der Tiefe und Größe.

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Gestern landete ein bestelltes Buch bei mir. Ich nahm es in die Hand und inhaliere es seitdem. Bernd Wagner: Verlassene Werke. Vor einiger Zeit (sic!), aber nicht sooo lange her, schenkten mir die Veranstalter einer Lesung im Gießener Büchnerclub, ich sang und rezitierte Gerhard „Gundi“ Gundermann, ein Buch von Bernd Wagner. Ich glaube: Die Wut im Koffer. Reichte ich dann an meinem alten Freund Thomas weiter und er fand mehr und mehr von Wagner. Noch begeisterter als ich. Wir kannten ihn beide nicht. Eine Entdeckung. Nun dieser NEUE 600 Seiten – Wälzer. Verlassene Werke. Aufzeichnungen aus den Jahren 1976 bis 1989.  Erstes Zitat: „Die DDR hat den totalen Sport erklärt! Schweigen ist Silber, Reden ist Gold. Die heiligen Kühe sind die zähesten.“

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Zweites Zitat: „Verlassene Werke sind wie gewisse Steine an den Meeresküsten. Man kam von weit her, hob sie auf, schleppte sie ein Stück mit, man warf sie zurück in die See. Denn unter ihnen war nicht der richtige, der Urstein. Doch einmal lagen sie in der Hand, einmal wurden sie betrachtet. Ihre Unschuld ist dahin, sie können nicht zurück in die Anonymität. Sie gehen umher wie Geister und leben hinter geschlossenen Augen, unerlöst.“ (Bernd Wagner)

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Nein. Erlösung wird man nicht finden. Wir sind keine Eidechsen, denen die abgefallenen Schwänze nachwachsen. Auch die dümmsten Gedanken müssen gedacht werden. Man kann sie zurück in die See werfen. Oder lässt sie am Strand rumliegen. Die meisten gehen vorbei. Vielleicht bückt sich einer. Gar eine. Was dann geschieht, lag mal in eigener Hand.

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Drittes und vorläufig letztes Zitat: „Was mich zum Schreiben zwing, weiß ich: Ehrgeiz, die blödsinnige und durchschnittliche Sucht mich zu zeigen. Was aber rechtfertigt es? Nichts. Weder bin ich über alle Maßen phantasievoll noch intelligent. Ich kann nur nicht anders!“ Nun denn, sprach ich und bückte mich. Ein stechender Schmerz. Auf meiner Mailbox der Rücken. Zurück zum Radio und dem näherrückenden Krieg.

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Vergiß Westbahn! Dig Ostbahn – Kurti!

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Dös gfreit mi jetzt richtig. Wos zu schreiben, wos wirklich mit die Ränder zu tun hoad. Simmer gleichzeitig traurig und a ned! Vertikal und horizontal!

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Am Bodensee groß geworden sammer, aber net so recht gscheit. Am Bodensee, der etliche Ränder hat, gibt es ganz im Osten eine kleine Randerscheinung, die sich Felix Austria nannte, aber gar nicht Österreich ist, sondern Vorarlberg. Geh scheißn, denk net nach. Bis Vienna ist es weit.

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Man hat sie nie ernst genommen aus bundesrepublikanischer Warte, aber ich fand sie schon immer cooler, selbstironischer, musikalischer, mit mehr Humor gesegnet, der böse ist und sie können sogar Fußball spielen, die sogenannten Ösis. Cordoba et Alaba! Und kochen eh! So viel besser!

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Ambros und seine Dylan – Cover. Hände weg vom Herrn Zimmermann! War Dogma einst! Werde aber nie vergessen, wie wir im „Beese Miggle“ zu Konschtanz saßen und das erste Mal „Da Mensch in mir“ hörten. Peppi R., a Jud, zwang uns Zweifler und Puristen dazu. Und natürlich der unfaßbare nach uns bekifften Idioten rufende Watzmann. Es lebe die Gailtalerin!

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Irgendwann wurden die Ösis schick. Opus. Der Stern der Deinen Namen trägt. Schifoan. Das wäre ihr Schmerzblatt gewesen. Und man einigte sich auf seine eigene und so die erste allgemeine Verunsicherung. Hahaha auf höherem Niveau. Jeder sein eigener Herminator. Später kamen Wanda und Andere. Wurde es wieder besser. Neues Thema. Und noch gailtalerischer.

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Krimis schauen im TV ist Folter. Den Tatort auch. Aber es gibt wenigstens die Bibi und den Fellner. Und die Toten von Salzburg. Der Rollstuhl! Und nicht zu vergessen der Kottan, der ermittelte. Schäferhunde gab es auch. Viele meiner liebsten Kollegen waren Nachfahren der Kaiserin Sisi.

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Endlich beim Thema. Die Schmetterlinge. Die Proletenpassion. Linkes Pathos. Der Ostbahn – Kurti. Nach dem Leben als Geheimtipp dann alle Arten von lauter Unterhaltungsmusik. Viele hübsche Cover. Und wer kennt eigentlich schon Warren Zevon? Er. Siehe oben. Letztlich war es sein Name, der mich lockte ihm zuzuhören. Ostbahn – Kurti? Geh bitte! Geil!

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Und jetz hoit i die Pappn. Da spüat der Ostbahn – Kurti mit OPUS ein ewiges Liederl. Jetzt ist er droben im Himmel. Geh, grüß er doch bitte den Falco!

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