Kintsugi revisited statt Ankommen?

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Istanbul / Ende März 2012

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Erstes Sammeln von Rissen. Die Kladde füllt sich. Vor manchem Riss stehe ich mit „Abstand“ (Wie ich dieses Wort aus gewissen Mündern hasste!) kopfschüttelnd. Nach fast genau Jahresfrist. Trotzdem den Finger reinstecken vorsichtig ins alte, leicht schimmelige Marmeladenglas. Kann man noch was rausschmecken? Als die Erinnerungsfilmchen laufen lernten. Kintsugi ist ja eine nette Idee, aber letztlich füllt das nur Regale und verstaubt. Andererseits: so ein glänzend gülden prangender Altriss? Kann man vergangenes und in alten Speichern gammelndes Weh an – und rechtzeitig wieder abschalten? Mal sehen. Nichts entsorgen im Plumpsklo Verdrängung. Trotzdem ein Nichts nicht aufblasen. Gratwanderungen.

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Und jedoch immer mal wieder durch den Zeitriß springen und ein paar Runden Tagträumen. Ankommen? Morgen. Oder danach. Notieren.

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That’s how the light gets in, Leonard?

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Sonnenuntergang an der Schlei / 19. Februar 2023

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Da gäbe es diesen Riss. Diesen Riss in jedem Ding. In jedem Gegenstand. Wahrscheinlich ist auch ein Mensch lediglich ein Gegenstand. Vor den letzten Dingen. Ein Gegenstand, der atmen kann zwar, mehr jedoch kaum. Und dieser Riss ermöglicht dem Licht einzudringen. Welches Licht? Erkenntnis? Göttlich? Ängste lindernd? „Mama? Kannst Du die Türe ein bißchen auflassen, damit ich einschlafen kann?“ Oder das Wachstum ermöglichend? Leonard Cohen singt davon. Auch von den ärgerlicheren Rissen? „Entschuldigung! Deine Hose ist gerissen. Am Arsch!“

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Die Ambivalenz. Ein Wort, welches ich, vor allem bei der Theaterarbeit, gerne im Munde führe. Eindeutigkeiten haben mich schon immer erschreckt. Vor allem, wenn diese von mir im Brustton der momentanen Erregung in die Welt gespuckt werden. „So isses doch!“ Nein, eben nicht. Wie einer meiner Regievorbilder – ewiger Leibzischer – gerne rief: „Du musst nei in die Ombiwalens, nei!“ Da sei der Riss, da isser. Notwendig. Wie immer er auch entstand. Zu hoher Innendruck, der ein Gehäuse sprengte. Schläge von außen. Vielleicht sogar bewußt provoziert. Materialermüdung. Baufehler. Der Möglichkeiten viele. Gewiß nur, zieht es nach rechts und links, nach oben und unten gleichzeitig und mit gerecht verteilter Kraft in jede Himmelsrichtung, ist er nicht zu vermeiden, der Riß. Dann trete ein, oh Licht.

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Oh ihr Küchenpsychologen! Oh Spiegelbild! Oh ihr Moralreiszwecken! Es ist ein Abheften, Einordnen, Bewerten in – vor allem unserer kleinen, gerne zu Erkenntnishaftigkeit aufgeblasenen – Wohlstandswelt, daß es einem grauset. Als habe man Thoreau gänzlich falsch verstanden, der da mal schrieb: „Es kommt nicht darauf an, was man betrachtet, nur darauf, was man sieht!“ Als diente, alles was uns ins Auge fällt, lediglich dazu alte Irrtümer in den Äther zu posaunen zum Zwecke allgefälliger Selbstvergewisserung. Nach wohlfeiler Einordnung in bewährte Gedankenschränke selbstredend. Mit sich selbst redend, selbstredend. Und, hübsches Zitat noch von ‚Michl Hol Das Becks‘: „Der Erbmakel der Männer ist die Verallgemeinerung!“ Nicht albern werden. Doch, eben.

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Wird mann eines Risses ansichtig oder habhaft, greift mann gerne zu Nadel und Faden, nee besser zum Kraftkleber oder gleich zum Schweißgerät. Und wundert sich, wenn es dunkel bleibt. Drinnen. Der Riss aber schmerzt weiter vor sich hin. Manchmal ein ganzes langes oder kürzeres Leben. Und wenn nicht, ist er trotzdem da. Der Herr von Riss. Unter Nähten. Gut so. Manchmal gemahnt der Riss die eigenen Selbstgerechtigkeiten daran, daß die eigenen Eltern auch Eltern hatten. Zum Beispiel.

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Zwischen Tür und Engeln. Warten ist die wahre Zeit. Ein Leben unter Zügen. Bretter, die nichts bedeuten, weil sie nur Bretter sind. Drei Seelen, ach, sind mir zu wenig. Und dann fiel ich ab. Als ich ein letztes Blatt riss vom Kalender, brannte die Sicherung nicht durch. Es blieb hell.

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Vor ein paar Tagen hatten sich zwei Junkies auf unseren Hinterhof verzogen. Auf die Frage, was sie da auf fremdem Gelände suchen, antwortete mit schwerer Zunge die Frau: „Da draußen ist es so laut. Wir brauchen mal ein bißchen Ruhe!“ Wieso habe ich sie vom Hof gejagt?

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Auf der Schleibrücke Lindaunis – Rieseby / 19. Februar 2023

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Ist also Geben seliger denn’s Nehmen?

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Flensburg / Museumshafen / 19. Februar 2023

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Mein erste Regiearbeit als Rentner ist getan und ich kehre an die Tasten zurück. War nach Meinung etlicher Außenstehender eine gute Arbeit. Dennoch alt und manchmal wie aus der Zeit gefallen fühlte ich mich. In den letzten Jahren sind mir auf den Probebühnen öfters Menschen begegnet, welche die berühmte „work – life – balance“ flüssiger vorwärts und rückwärts buchstabieren konnten als die dringend zu lernenden, weil auf der Bühne notwendigen, Worte und die ihren vegan eingestellten „body“ weitaus achtsamer behandelten als die Kostüme, die Requisiten und fremde Zeit. Werden die (mentalen) Stechuhren an den Theaterpforten der Kunscht dienen? Fragen wir unseren Arzt oder Apotheker.

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Im Zug nach Hause las ich im Speisewagen die altehrwürdige ZEIT. Wie es sich für einen Boomer gehört als Papier. Man titelte „Rente – Traum oder Alptraum?“. Gute Frage. Ich bestellte noch einen Grauburgunder. Und las in einem der Artikel zum Thema eine kleine Geschichte von Rudyard Kipling.

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„Der Brahmane Purun Bhagat ist der überaus erfolgreiche Premierminister eines kleinen, von den Engländern geduldeten unabhängigen indischen Fürstentums. Eines Tages beschließt er, sich selbst in Pension zu schicken und als frommer Eremit Erleuchtung zu finden. Doch eines Nachts kommt es zu einem gewaltigen Erdrutsch, der das Gebirgsdorf bedroht, in dem Bhagat seine Einsiedelei bezogen hat, und der Eremit wandelt sich – er weiß nicht, wie ihm geschieht – augenblicklich zurück in den Staatsmann, der er gewesen. Er stürmt ins Dorf, befiehlt Evakuierung, organisiert die Flucht in sicheres Gelände – und stirbt, erschöpft von der Rettung, aber endlich mit sich im Reinen, noch in derselben Nacht. Nicht fromme Einkehr hat ihn erlöst, sondern die Tat. Nicht Sorge um das Selbst, sondern die Verantwortung für andere.“

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Vielleicht der richtige Zeitpunkt über den bis hierher zurückgelegten Weg zu sinnen. Mit längerem Atem all den Verästelungen und Abzweigungen nachgehen. Mal schauen, was sich findet oder vor die Erinnerungsfüße fällt. Arbeitstitel: „Der Riß.“ Das Seemannsheim darf noch ein wenig warten.

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Flensburg / 19. Februar 2023

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