Nachricht aus dem Nachlösewagen 13

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Ich denke nach, während ich rumsitze. Habe ich mich damit abgefunden, daß dieser Schienenbus steht. So vor sich? Hin und nicht her. Wie die gute alte Raute. Sich nicht bewegen als eine Art von Lebensvortäuschung. Vielleicht müsste man Angst haben vor dem Leben und nicht vor dem Tod. Der Schienenbus wächst mir ans Herz. Eben. Wünsche ich mir noch Besuch. Oder reicht der warme Mantel und die Aussicht. Können Schienenbusse fliegen. Bereitet sich der Wagen, in dem ich sitzend warte lesend, darauf vor zu FLIEGEN. Etwas Großes ante portas. Die eine endgültige Überraschung. Das Buch vor mir aufgeschlagen auf einem Knie. Ich lese nicht. Blättere lediglich hin oder her und zurück. Fetzen. Wortfetzen. Es dämmert. Taschenmesser. Taschenlampe. Stofftaschentuch. Überlebenshilfen.

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Dort, wo der Schienenbus nicht mehr hinfahren mag: Kriege. Kriege von denen ich sah und hörte, bevor ich den Fernseher aus dem Fenster geworfen hatte. Mit den letzten Zeitungen die verschimmelt stinkenden Gemüsereste umwickelt hatte. Die Küche verlassen. Und in der Flucht mein Heil. Heil. Heil. Wohin. Reime aus einem überfallenen Land. Kriegsreime. Wer entscheidet, ob der Schienenbus stehen und bleiben. Muß! Ein paar Wortfetzen. Trost. Vor mich hinsprechen. Kaum noch zitternd. Trotz der Kälte. Wohlig frierend. Geht das? Wortfetzen. Serhij Zhadan: der Dichter schreibt eine Chronik seines eigenen Atems. Ich beglückt. Frierend wohlig.

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Hier nun macht der Winter dieses Jahr die Bäume fahl.

Was sind das für Menschen, die die Ankunft des Herrn

Feiern?

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Das sind Menschen, die sich Christen nennen.

Gute Menschen eigentlich, solange es nicht um Vergebung

Geht.

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Der Himmel ist wie ein Schüler, der zum ersten Mal

Die Odyssee lesen muss,

die Fenster sind warm wie Frauen, die in Liebe geboren

haben,

die Sprache ist wie ein Rasierer:

höchst sicher, höchst nah.

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Doch an den traurigsten Tagen

Kreis über mir –

Vogel des Vertrauens.

Und in den trübsten Zeiten,

inmitten von Lärm und Erstarrung,

bleib bei mir, Sprache –

Sprache des Zweifels,

Sprache der Freude,

Sprache des Dankes.

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Es klopft an die Scheibe. Aus der Dämmerung heraus winkt mir ein Paketbote zu. Ein Paket. Ein großes Paket. Ein sehr großes Paket. Etwas unförmig. Ich erhebe mich. Ein Hieb in den Rücken. Stechend. Zur Tür.

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Nachricht aus dem Nachlösewagen 12

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Ich muß mich entscheiden. Ich muß mich bald entscheiden. Entscheide Dich. Eins Zwei oder Drei. Du mußt Dich entscheiden. Wer nicht für uns. Gegen uns. Drei Felder sind frei. Finde den Fehler! Entweder oder? Von dem Oder bis zum Wohin? Eins Zwei oder Drei. Letzte Chance. Vorbei. Es ist vorbei, bye bye. Junimond. Auf eine Kreuzung hatte ich mich, auf das Kollar blickend, hinfantasiert. Ich vermisste auf den Wegweisern einen ehemaligen Hinweis. Der eine noch. Eventueller Weg. Der Dritte. Das Kollar grinste ausdauernd. Kniff abwechselnd das eine Auge zu. Dann das andere Auge. And so on. Again and again. Grinste weiter. Und griff sich schließlich an die Nase. Ich war erleichtert. Auch die Nase des Kollars rot. Die Kälteschuld. Heißt Kollar gar Rudolf? Ja iss denn scho wieder Weihnacht?

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Der Himmel draußen hatte sich entschieden wieder tiefer zu hängen. Subjektiv auf Kniehöhe. Himmelhochgrummelnd. Das Töten geübt. Eines meiner Augen juckt. Verengt sich. Rötet sich. Ich kratze reibe jucke. Die Stimme der Mutter. Der Frau. Nicht dies tun. Nicht dies. Was dann? Dulden. Zuschwellen. Lassen. Gelassen. Es seinlassen. Geschehen. Siehst DU? Jetzt hast Du ein schlechtes Gewissen. Nein. Falsch erinnert. Siehst Du jetzt hast Du… Man rüttelt an meinen Schultern. An einer der beiden. Der mittleren.

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„Man muß kein gutes Gewissen haben. Auch wenn es bald zu Ende geht.“

„Habe ich im Schlaf gesprochen?“

„Und wenn?“

„Ist ja manchmal peinlich!“

„Machen Sie sich da keine Sorgen. Die Peinlichkeit ist die conditio sine qua non Deiner Sippe! Verzeihung! Ihrer!“

„So schlimm?“

„Tja! Wer von ganz oben abstammen will, muß dies in Kauf nehmen! Und: besser komplett blind, denn nur auf einem Auge dies und allwissend!“

„Das versuche ich einzusehen!“

„Sie versuchen es mit Humor. Ich schenke Ihnen ein Buch!“

„Die Bibel? Bitte nicht!“

„Entspannen Sie sich. Nehmen Sie dieses. Bis später!“

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Nachricht aus dem Nachlösewagen 11

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Ich warte. Warten ist die wahre Zeit. Warten ist die Zeit vor der Wahrheit. Warten auf den Messias. Er wartet. Sie wartete. Es hat gewartet. Wir hatten gewartet. Ihr wurdet gewartet. Sie sind gewartet worden. Dieser Schienenbus offensichtlich länger nicht mehr. Ich warte. Kälte kriecht von den Füßen her in die Glieder. Höher. Synapsen runtergekühlt. Kollar Zero. Eiswürfel im Hirn. Sollte ich auf meine nächste Reise eine Wärmflasche mitnehmen? Oder alte, leere Batterien und Alufolie. Daraus kann man Handwärmer basteln. Restenergien. Wenn der Stecker gezogen, der über Jahrzehnte zuverlässig. Eine mit einer freundlichen Stimme verbundene Hand legt sich auf meine hochgezogen rinkse oder lechte Schulter.

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Da sitzt es. Mir gegenüber. Ich übe noch. Mich im Gegenüber. Üben. Was ist falsch. Das ist falsch. Wer nicht üben will vielleicht. Ich werde mir schlagartig einer ominös fassbaren Schuld klar. Unfassbar. Wie jede Schuld. Und wir vergeben sie gerne. Unsere statt den Unseren. Sein Kollar leuchtet mir ins frostige Antlitz. Aha. So so. Ja ja. Na ja. Und er schweigt. Geflissentlich. Nicht unangenehm. Keine Forderungen. Das sind meist die Schlimmsten. Die Verständigen. Die Lärmflaschen. Die Zu-Tun-Listen der Guten. Denke ich so. Nichts denkend. Meine fünf Finger bilden etwas. Sie wollen etwas. Sie wollen etwas bilden. Ein Früher. Eine Kampfansage. Fünf Finger waren eine. Mal. Habe nun ach! Jetzt sind sie nichts. Kein Meer. Die fünf Finger. Eine runzlige Orange hat die fünf Finger geentert. Verwurstung. Gebrüll. Habe ich Fieber? Das Kollar kann sprechen.

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„Wir verpassten alle den Bus ins Paradies! Ich nicht minder!“

„Ist das hier jetzt eine Ertüchtigungsmaßnahme?“

„Wie Sie wollen! Inzwischen nennt man sogar die Neugestaltung oder Renovierung eines Daches so.“

„Meinen Sie, ich müßte mal wieder zum Barbier von oben?“

„Sie dürfen duzen! Wenn Du zehn Finger benutzt!“

„Will ich nicht. Stellen Sie sich vor das Glaubensbekenntnis in der Höflichkeitsform.“

Überraschend. Sie überraschen mich.“

„Kriegt man so den gezogenen Stecker wieder rein! Gesteckt? Vielleicht?“

„Beten Sie mal! Lackmustest!“

„Schilt nicht den Haderer, der sonntags nicht zu irgendeiner Kirche geht. Sein zerknirschter Blick zum Himmel ist voller der Hingabe denn jedes laute ‚Ich weiß wie’s geht!‘ Was sagst Du? Dazu? Mein Gott aber auch!“

„Mein Sohn! Erwarte nicht, daß Dein Schienenbus morgen sich setzt in Bewegung!“

„Amen?“

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Nachricht aus dem Nachlösewagen 10

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Ich muß meine Ohren nicht spitzen. Die sind spitz, seitdem ich hören darf. Diese Hammerschläge könnten selbst die Tauben nicht überhören. Ich hasse Tauben. By the way. Giftig sogar. Ich bin nicht taub. Wäre es gerne. Die Hämmer schlagen auf die Kupplung ein. Die Kupplung, welche die zwei Schienenbusse verbindet. Bitte nicht einsteigen, bevor die Wagen vereinigt. Hört man auf dem Bahnsteig. Der eine der Wägen kommt aus dem Osten oder Westen, der andere aus dem Norden oder Süden. Vereinigt nach einer Pause, die bis zu knapp fünfzig Jahren dauern kann, werden sie dann losrollen, die zwei. Vereinte. Wie die Lichtgestalt im Jahre des Ankoppelns sprach: über Jahrzehnte hinaus. Unschlagbar vorwärts rollend stehen sie nun seit Jahrzehnten rum. Stehen sich die Räder in den Bauch. Giften sich an. Verkoppelt. Der Rhythmus der Hämmer ist keiner mehr. Wieviele Schlagwerkzeuge dengeln zur Zeit auf die (noch) standhaltende Kupplung ein? Ich kann es nicht erhören.

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Ich bin nun wach. Zumindest dieses. Ich welchem der zwei Wagen sitze ich denn nun? Immer noch im Nachlösewagen? Ich war ja draußen gewesen. Auf dem Bahnsteig. Draufschau. Warten. Draufschauendes Warten. Wartende Draufschau. Blind aber auch. Oder doch im Wagen, der nach vorne drängt. Hoch auf dem Gelben? Beim Fahrer vorn? Nichts aber rauscht vorbei. Trabt wenigstens. Gefroren und unfruchtbar vor sich hinjammernd die Felder. Die Wiesen. Die Auen. Wo ist ist eigentlich meine Rentnerkarte? Berechtigt sie mich nach irgendwo, wohin der Zug fahren sollte. Können wollte. Täten würde. Angelegentlich. Das Hammerdröhnen schwillt an. Ich kann es nicht mehr hören. Ich kann es wirklich (im Sinne von tatsächlich) nicht mehr hören. Bin ich nun eine Taube? Mache meinen Frieden? Gar mit den Kriegen. Und summe einige Worte. Melodisch unterm Hämmern.

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„Ich mache meinen Frieden mit all den Idioten, die die Welt

behüten wollen mit ihren linken Pfoten. Mit jedem Samurai, mit jedem

Kamikaze,

mit jedem grünen Landei und auch mit jeder Glatze, die die

Welt nicht bessern

können, aber möchten mit viel zu kurzen Messern in viel zu langen Nächten. If I

had a hammer. A Hammer in the evening. A hammer all

over the land. Working in the Kohl

mine.“

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Nachricht aus dem Nachlösewagen 09

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Ich rüttelte an der Türe. Vollkommen undramatisch. Weder verzweifelt noch ansatzweise panisch. Ich wollte lediglich kurz raus. Treten. Es regnete eben nicht. Der Bahnsteig schien nicht mehr rutschig. Auch beim Warten sollte man sich gelegentlich die Beine vergehen. Und vielleicht steht der Küchentisch inzwischen vor der Tür. Die verschlossen. An der ich rüttele. Wie ein Falke über dem abgeernteten Feld. Schön anzusehen. Nicht jede Maus lässt sich fangen. Während ich rüttele, frage ich mich dies und das. Bin ich nun verpeilt? Habe ich etwas vergessen? Verdrängt? Vorbeigeschaut? An Tatsachen? Ich rüttelte und rüttelte. Ohne rechte Wucht. Bin ich nun ein Fatalist?

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Ich hätte gerne geflucht. Gebrüllt. Nein. Nein. Nein. Nein. Verfickte Scheiße. Dreckstüre. Bin ich blöd. Eigentlich. Und dies zunehmend zunehmender. Die war eben noch sperrangelweit offen. Die Türe. Da haben sogar Küchentische durchgepasst. Stattdessen? Ich spüre eine klebrige, billig parfümierte Hand auf meinem Mund. Atmete notdürftig durch die Nase. Hauche ein nasales Okay. Okay. Okay. Okay. Die Scheibe vor meinen müden Augen beschlägt. Ich fahre meinen Zeigefinger aus. Male ein paar Buchstaben ins Kondenswasser. A. B. E. R. Soll ich noch ein Fragezeichen dazufügen? Draußen heftige Hammerschläge. Ich fange an zu singen. Vor mich. Hin.

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„Du, lass dich nicht verhärten
In dieser harten Zeit
Die allzu hart sind, brechen
Die allzu spitz sind, stechen
Und brechen ab sogleich
Und brechen ab sogleich

Du, lass dich nicht verbittern …“

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Die Hammerschläge werden lauter. Jetzt sind es zwei Hämmer. Mindestens. Die dengelnd auf dem Eisen tanzen. Man brüllt sich an. Da draußen.

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