An den Bordsteinkanten / Spiegelfechtereien und Begegnungen / 2025 / Zwei

…..

Schwarzwald / Über dem Schluchsee / Kunst im Wald / 15. April 2014

…..

Und dann stand da der Rothirsch im Wald. Ein schwarzer Rothirsch. Seine Konturen in die sehr heiße Aprilluft geschnitten. April! April? Weit über zwanzig Grad. Der Schwarzwald knirschte bedenklich unter unseren Schritten. Der Schluchsee halb leer. Deja vu. Von heute aus zurück.

*

Zwei Tage nach einer Premiere unten in Freiburg wanderten wir da rum. Die Regiokarte hatte noch Gültigkeit. Kein einfaches Thema in der Arbeit der vergangenen Wochen. Selbstmorde. Trauerarbeit. Vorwürfe. Vor den Vätern sterben auch die Söhne. Nach der Mutter auch. Wir haben an Grenzen gekratzt und uns nicht blamiert. Im Gegenteil. Und dann steht da der Hirsch, genauer der Hirschdarsteller, im knirschend verdorrenden Wald.

*

Wie heißt es so kokett? Kaufen Sie, wenn Ihnen nichts mehr einfällt: die witzige Postkarte! Harhar! Ist das Kunst oder kann das weg? Der Hirsch blieb stehen. Im Wald. Trotzdem. Blechspielzeug. Eitel.

*

Ich hatte mich für diese Inszenierung tief in meinen persönlichen und familiären Trauerwald begeben. Selbstredend von der Umsetzung diffuser Erinnerung überzeugt und wohl auch immer mal wieder selbstgerecht. Aber ohne Krokodilstränen. Sagte mir zumindest die Liebste, die nun auch vor dem Blechhirsch stand. Noch amüsiert.

*

Habe ich in den letzten Wochen nicht auch nur eine blecherne Behauptung in den Theaterwald gesetzt? Auch wenn die abgefeiert wurde?

*

Der Chef des kleinfeinen Theaters da unten war begeistert. Vorgestern noch. Premierengeschmier. Er hatte vor Jahren, Sohn eines schwäbischen Geschäftlemachers, eingeheiratet in den theatralen Familienbetrieb. Als der Patriarch im Jahre vor unserer Wanderung gestorben war, hatte der kleine Prinz sein Ziel, einst nur ungeliebter Thronfolger der er war, erreicht. Ich bin der Kalif an Stelle des Kalifen. Isnogod. Ab sofort erklärte er mir, wie ich Komödien zu inszenieren habe. Palim. Palim.

*

Mal stehen die Hirsche im Wald. Immer auch die berühmten Elefanten im Raum. Theater sind letztlich nur Porzellanläden. Colonel Hathi übernimmt!

…..

An den Bordsteinkanten / Spiegelfechtereien und Begegnungen / 2025 / Eins

…..

Castrop-Rauxel (Gastvertrag) / stillgelegte Zeche / April 2008

…..

Ich kann das Wort Bordsteinschwalbe nicht aus meinem persönlichen Wörterbuch streichen. Es existiert. Ich verbinde damit keinerlei Bedeutung. Keinerlei Scham. Keinerlei Reue. Aber auch kein Bedürfnis damit in irgendeiner senilen und pflegeheimnahen Selbstgerechtigkeit den gichtigen Zeigefinger in die müde Welt hinaus zu strecken. Palim Palim und Depp.

*

Anfang der Neunzehnneunziger war ich ein paar Jahre am Landestheater in Tübingen engagiert. Eine gute Zeit. Naiv und einer damals so nicht erahnten Zukunft zugewandt. Spaziergänge in den Probenpausen führten gerne mal an das Grab von Ernst Bloch. Kaum was von ihm gelesen. Jedoch auf den Grabstein blickend bedeutende Luft einatmend. Schlaumeiernd. Walter Jens sei heute im Publikum. Raunte der Intendant. In der Pizzeria nahe meiner Wohnung verkehrte gerne der erblindete Hans Mayer in seinen letzten Monaten. Weltgeist atmete den Duft von Grappa aus. Oder ein. Der Neckar rauschte. Die Stocherkähne stakten. Und die hiesigen Burschenschaftler tranken Bier. Die besoffene Linke protestierte dagegen. Stocknüchtern?

*

Jene alte Zukunft ist inzwischen vergoren, übelriechend und schon länger noch nicht mal mehr Vergangenheit, sondern lediglich Erinnerung. Beachten Sie bitte das Verfallsdatum. Am Flaschenhals. Am Flaschenboden. Oder an den hängenden Hoden Ihrer Erinnerungen in Sachen Matratzen.

*

Weshalb Tübingen? Bordsteinschwalbe? Was erlaube Gedankenflug?

*

Wir Mimen wohnten damals in von der französischen Armee aufgegebenen Siedlungen. Dünne Wände, große Terrassen, preiswerter als preiswert dank der Landesregierung (CDU), viel Grün drumherum und die rauschende Steinlach rechterhand. Einer meiner Kollegen und Mitbewohner, ein wilder Niederbayer, der kraushaarige Michi, schlug die Faust auf den Tisch, wenn das Bier, welches er uns gerne aus seiner Heimat mitgebracht hatte, in Strömen in uns hineingeflossen war. „Dös woas mir mochen. Dös ist nur ein dreckater Nuttenberuf! Nutten sammer! Mir alle! Nutten!“

*

Wenn ich auf die letzten Bühnenjahre zurückschau, versuche ich gelegentlich in den beschlagenen Spiegel zu sehen. Eine Art der Selbstvergewisserung? Die Bordsteinschwalbe taucht auf. Stets und gerne. Bei mir. Den Anderen. Das Wort Nutte wird aber vermieden. A bisserl Feigheit vor dem Feind namens Einsicht muß schon bleiben. Wie einen friedlichen Abschied finden von seinem alten Gewerbe? Schreiben wir mal!

…..

Nachricht aus dem Nachlösewagen 27

…..

…..

Da stehe ich rum. Immer noch. Vorsätze. Frierend. Schwitzend. Inzwischen gar nicht mehr denkend. An das. Anklopfen. Aber. Das Danach. Später.

*

Widde Widde Wit. Alles so schön bunt hier. Vor der Türe verriegelt ich. Rumstehen. Inzwischen. Nicht vor dem Gesetz. Pegel runter. Besser. Vor den Toren stehen die Toren. Stolze Esel. Was haben sie verbrochen. Ein Leben. Lediglich. Ach mein Schienenbus. Bleibe er stehen. Die Fahrpläne singen doch von der Beliebigkeit nur. Von den Toren und vor den Toren der Stille. Stehen. Still. Es verhasen die Harren. Quatsch. Es verharren die Hasen. Setzen sich eine Perücke über die Löffel. Wären. So gerne. Ein Löwe. Mal.

*

Alles so schön grau hier. Heute Nacht. Aber. Werde ich sein. Ein Schauspieler. An den Tagen unsichtbar stets. Die Dämmerung. Nun denn. Ich ein Glühwürmchen. Zeigefinger ins Auditorium. Stumm. Dumm. Bewunderung. Ersehnt. Morgen wieder Eckensteher. Denkdrückeberger.

*

Akku leer. Wo. Bitte. Darf ich meinen Welterkenntnis-Fundus aufladen. Alle Ladesäulen besetzt. Die Klagen lauter. Es gäbe sie nicht. Die ewigen Säulen. Man fühlt sich so. Verladen. Und suhlt sich in den Sumpfgenüssen unverbindlicher Schmerzen. Löse mich auf. Komme mir abhanden. Soso?

*

Die wiederkehrenden Träume. Gleißender Schnee. Schneeblind. Meine Augen verweigern den Dienst. Tränen. Aber nur. Ein Mensch. Der Eine. Einzige. Wird Dich weinen. Lassen. Sonst schafft das keiner. Aber das Ego.

*

Alles so schön bunt hier. Vor der geschlossenen Türe. Es rüttelt der Falke. Ich nicht mehr. An den Gattern. Ich streichle meinen Nachlösewagen. Von rechts. Von links. Bleib. Stehen. Alter Genosse. Bleibe stehen er nur.

*

Ein alter Freund. Wenn er besoffen. Sagte er zu mir. Ich lass Dich jetzt. Ich trank dann weiter. Ohne ihn. Weiter. Bis ich aufhörte. Bis denne dann.

…..

Sonntags Reime unter Bildern / 04

…..

…..

Tango mediale

*

Idioten steppen dazu beten Deppen die Me-Litanei

Verblöden mit Stil alles kostet zuviel nur Herr Keiner dabei

Um die Welt wird gerast mit Hingabe gehasst einerlei einerlei

Auf der Gass‘ zu verschenken wo lassen wir denken unser kostbarer Müll

Falls wer zweifelt selten schleimt so sei ER denn still

Gott muß sich besaufen die Glatze sich raufen zuviel ach zuviel

Unter den Brücken fließt ohne Entzücken die Zeit still nach Haus‘

Unter den Teppichen feiern die Läppischen die Gedankenpaus‘

Das Morgen wird Chimäre Welt an Mensch Habe die Ehre

Auch Glotzen und Telefone können fliegen

Die Fenster auf Ach Zeitenläufte

Und Alkmene seufzte

Again und erneut

Ach und weiter Bleibe

Gemach

…..

Nachricht aus dem Nachlösewagen 26

…..

…..

Ich klopfte nicht an. Zweifel. Ich habe dann auch nicht mehr angeklopft. Nach diesem letzten Traum. Der drinnen. Geschehen. Wenn er das war. Ein Traum. Ein Träumen. Vom Klopfen. An verrammelten Türen. Die mich anglotzten. Kann ich denn. Verlassen. Müssen. Können. Wollen. Nicht sollen. Den Nachlösewagen einfach. Lass ihn doch in Ruhe. Bleibe. Gehadert werden aber doch. Muß. Vor dem Schienenbus. Vor dem Gesetz. Vor der vergangenen Zeit. Was das Verbrechen. Meins. Deins. Welches. Fränzchen. Franz. Aber. Sollte ich doch. Anklopfen. Manche treten Türen ein.

*

Ich klopfte nicht an. Ich habe dann auch nicht mehr angeklopft. Nach diesem letzten Traum. Stand jetzt. Stehe ich. Draußen. Wärmer das Licht. Die Lüfte. Wer nicht klopft. Wenn nicht jetzt. Ach. Verzicht schadet denen, die Türen eintreten. Müssen. Können. Wollen. Nicht sollen. Verzeihung. Dummes Geschwätz. Was tun. Auf dem Bahnsteig gibt es keine Bänke. Keiner begrüßt das Warten. Nach dem Ende des Winters beklage ich die Wärme. Der Schienenbus errötet. Ein bisserl mehr. Aber sonst. Das Licht. Die Hitze. Erinnerungen. Und jetzt?

*

Jeden Morgen haben wir die Möglichkeit

Daß wir liegenbleiben oder gehen

Daß wir Blinde bleiben oder sehn

Breiten wir die Flügel aus

Oder stehn wir zögernd auf dem Dach

Halten wir’s mit unsrer Liebe aus

Oder trauern wir ihr nach

Jeden Morgen haben wir die Möglichkeit

Amboß oder Hammer sein

Blumen werfen oder einen Stein

Halten wir den kleinen Finger hin

Oder geben wir die ganze Hand

Wollen wir auf Sparflamme drehn

Oder sind wir bald verbrannt

Fünf Minuten noch liegen

Auf unserm dicken Fell

Die Knochen gradebiegen

Draußen wird es schon hell

Freunde, nun laßt uns fliegen

Wir wollten doch irgendwohin

Wir sind schon zu lange geblieben

Wo wir nur zwischengelandet sind

…..

Nachricht aus dem Nachlösewagen 25

…..

…..

Der Schlaf ist nicht mein Freund. Schon lange nicht mehr. Aber wir bleiben uns gewogen. Weiterhin. Ich habe mir ein Eckchen eingerichtet. Ein Eckelein. Ein Eckeleinchen. Im Nachlösewagen. Dort lässt sich nachtträumen. Tagträumen. Gewiß vermisse ich das Rattern der Schienen unter dem dahinjagenden – naja – Schienenbus. Aber die Stille. Das Stillestehen. Der stille Steher steht. Wertvoller Tag für Tag. Die alten Decken wärmen noch. Immer. Die Nächte kalt weiterhin. Die Tage nun brennen auf das alte rote Blech herab. Der Schienenbus steht. Will er sich noch einmal bewegen. Ich träume. Oder sehe. Rauhreif. Vereisung der Außenwelt. Stopzeichen. Schranken. Zölle. Gebrüll. Ich schrecke auf. Das Telefon. Klingelt. Im anderen Wagen. Oder doch. In dem Wagen in dem. Ich.

*

Ich schrecke auf. Das Telefon. Klingelt. Im anderen Wagen. Oder doch. In dem Wagen in dem. Ich hebe ab. Die Schaffnerin. Ihre Stimme knarzt. Vielleicht betrunken. Sie habe mit dem Lokführer. Konferiert. Fragezeichen. Er grüße. Aus einer Klinik. Zu oft seien in den letzten zwei Jahren vom Leben gemüdete Gestalten auf den Geleisen. Er stieg in die Eisen. Vergeblich. Er würde gerne weiterhin. Er lasse mich grüßen. Unbekannterweise. Und sie käme vorbei. Morgen. Bald. Oder gleich. Aber dann schon. Klick. Klack. Der Hörer noch in meiner Hand. Ich blicke aus dem Fenster. Immer noch Rauhreif. Frostige Ausblicke. Träume wohl. Oder auch nicht. Ach ja. Ich solle mich selber befragen. Die letzten Worte der Schaffnerin. Aber sie käme. Gewiß.

*

„Ok. Darf ich was fragen?“

„Wen?“

„Wir kennen uns doch!“

„Die Einen sagen so und die Anderen sagen auch was!“

„Nun denn! Stellen Sie sich vor ich wäre ein Sportberichterstatter!“

„Also eine Dame. Etwas zu schrill gekleidet!“

„Nun denn. Die Frage wäre, ob Sie Ihre momentanen, also eben vorherrschenden Emotionen in Worte …“

„Ich fass‘ es nicht!“

„Aber ich habe doch etwas gefragt!“

„Das Leben ist kein Wintersportwochenende!“

„Bitte! Ich kann auch mit den Wimpern klimpern!“

„Kurz und knapp: Frei aber einsam!“

„Was fehlt Ihnen also? Ein Lokführer!“

„Das auf keinen Fall!“

„Was denn?“

„Ich kann meine Fahrkarte nicht mehr finden!“

*

Soweit der Traum. Tag. Oder. Nacht. Ich stehe doch vor der verschlossenen Türe. Sagte ich das nicht. Unlängst.

…..