„Gott wird das ein Plansch geben!“ (Jura Soyfer / Weltuntergang oder »Die Welt steht auf kein‘ Fall mehr lang« )

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Peratata / Kastro / Festung Agios Georgios / Kardamilli / 30. Juni 2023

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Versuch angesichts vergangener Weltuntergänge lose Enden miteinander zu verknüpfen

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„Als Dylan die Bühne betrat, streckte Hilbig seinen Arm mit der zur Faust geballten Hand wie ein Boxer nach vorn. Es sah aus, als würde er bereit sein für die letzte Runde.“ (Michael Opitz / Wolfgang Hilbig – eine Biographie)

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Gelegentlich, in letzter Zeit häufiger, stoße ich beim ziellosen Herumlesen auf mannigfaltig herumbaumelnde lose Enden. Eben jetzt bei und über Wolfgang Hilbig, der gefördert wurde, Heizer noch, schreibendes Prekariat, von Franz Fühmann, jenem Großmeister der Mythenerzählung, da beide verband die Liebe zur Romantik, Counterpart zu jenen scheinbar weltwissenden Aufklärern, ETA Hofmann und vor allem der nun von mir zu entdeckende noch, Novalis, eigentlich Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, tätig im Bergbau, der erschloss die Braunkohlelagerstätten in der Gegend um den heutigen Tagebau Profen, unweit Hilbigs Geburtsort Meuselwitz, der heiratete und wirkte auch in Freiberg, wohin ich mit der Gattin die erste Reise nach dem ersten Lockdown und dem Verlust aller Tätigkeit antrat, ins Erzgebirge, welches durchlöchert, durchgegraben, ausgehöhlt, entleert, befreit vom Silber, den Erzen und ließ hunderte, tausende Männer zurück in den Stollen, Wiedergänger, Gespenster, unterirdisch rumorende Geschichten.

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Wolfgang Hilbig, der aufwuchs, malochte, boxte, zu schreiben begann in jenen Meuselwitz, halb Sachsen, eigentlich aber Thüringen, mitten in den Abbaugebieten, Profen in der Nähe, wo ich im Sommer 2000 spazieren ging mit einer Liebe, in Leipzig probte ich den Teufel in einen Faust-Projekt, und wir in die gigantischen ausgebaggerten Abgründe blickten, nicht ahnend, zumindest ich, dass dies nur der Beginn war eines unendlich tiefen Falls in schwarze Gruben, ein Einbrechen, was mich 5 lange Jahre begleiten sollte und führte in diese gesichtslose Stadt, in der ich lebe immer noch.

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Jener Franz Fühmann, einer der vielseitigsten Schriftsteller und Kinderbuchautoren der DDR, der beschloss 1974 im Mansfelder Land über Bergbau zu recherchieren, er selbst unter Tage fuhr, arbeitete wie jeder andere Bergmann, für ihn der Schacht war ein Ort der Wahrheit, ein Urerlebnis, ein Tummelplatz von Geistern, die etwas zu erzählen hatten, der dann starb, gebeugt in einer kargen Schreibgarage in Märkisch-Buchholz, wohin ich radelte in brütender Hitze 2014 durch den schlingernden märkischen Sand, über sein Spätwerk „Im Berg“, Fragment, unvollendet, der Bericht eines Scheiterns und dessen Traktat über Georg Trakl, der „Sturz des Engels“, oder wie es ursprünglich betitelt war „Vor den Feuerschlünden“, ich 1991 erst in Tübingen, dann in Thüringen las und spielte als ein schwergewichtiges Solo, den Engel ich dann vergaß, bis ich ihm 2019 wiederbegegnete in Hoyerswerda, im Tagebau Welzow, da ich Texte und Bilder sammelte für meine Arbeit „Die Tankstelle der Verdammten“ über den Sänger, Baggerfahrer und Poet Gerhard Gundermann, meine letzte Inszenierung hier vor Ort unter der Fuchtel der gerne kunstfrei Machtbesessenen.

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Und immer wieder singen in all den Jahren von den Weltuntergängen, wie auch Hilbig oft umkreiste das Ende aller Enden, als stünden die endgültig letzten Erschütterungen nicht vor der Türe, sondern haben lange schon lange stattgefunden oder ereignen sich tagtäglich, unbemerkt oder Trommelfelle platzen lassend und ein Finger weist hinüber zu Jura Soyfer der, Jude, hundert Jahre ist es her und war schon damals keine Neuheit, aus Charkiw fliehen musste mit den Eltern nach Wien, landete in dieser Stadt des fröhlichen Sterbens, den Heldenplatz vor Augen und schrieb ein monströs komisches Theaterstück: Weltuntergang oder »Die Welt steht auf kein‘ Fall mehr lang«

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Und wie sie weiter eiert durch das Universum, die Welt, welche lediglich der Planet Erde ist, krumm, schief, hechelnd, grausam, ignorant, besetzt und gefoltert von einer Spezies, die versucht ihre eigenen Geister, Gespenster, Götter, Ahnen und Erfahrungen zu ignorieren, totzuschweigen, zu übertünchen und ordinär zu schminken, aber dort wo Mondkrater aus der Landschaft gebaggert werden, wurden, atmet es weiter und die Wiedergängerin Brigitte Reimann ruft in die Nacht des Jahres 1957: „Hoyerswerda ist überwältigend, das Kombinat von einer Großartigkeit, daß ich den ganzen Tag besoffen herumlief.“, so hoffnungsbesoffen, wie ein jeder einmal sein sollte.

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Wolfgang Hilbig, vom nahenden Tode markiert, war überglücklich, als er am 3. Mai 2007 von Freunden im Rollstuhl in die Max-Schmeling-Halle geschoben wurde, der alte Boxer, den eine gute Freundin und Begleiterin seiner letzten Tage, Christiane Rusch, als wandelndes Bob-Dylan-Lexikon bezeichnete und mit ihm zusammen ein allerletztes Gedicht verfasste:

als sie noch jung waren die winde

war ich verworren

und blind und taub

für ihren gesang

jetzt wenn ich das land durchstreife

und nicht mehr weiß

wo ich bin

und nichts mehr wissen will

in meinem herzen

denk ich an die winde

die alt geworden sind

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PS: Eines nur bemängelte der begeisterte Dichter, dass Dylan nicht sein Lieblingslied auf die Setlist geschrieben hatte, welches ich nachreiche den Gespenstern zu Ehren.

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„Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.“ (TonSteineScherben)

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Gießen / Theater / Das Team nach der letzten Vorstellung von“Rio Reiser“ / Mai ’19

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Teile heute einen Text aus dem Newsletter des Buschfunk -Verlags:

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Liebe Scherben-Kundige und Vertraute 

Auch unseren letzten Newsletter vom 30.Mai 2024 hat er zur Kenntnis genommen. Seine Frau Anne rief an und verriet, Lanrue würde sich sehr über den Banksy-Kalender 2025 (!) und den Kalender mit den ungewöhnlichsten Fußballplätzen auf unserer Welt freuen. Er hat in beiden noch geblättert und sich auf seine, für ihn typische Art darüber gefreut, so einen gewissen Schalk in den Augen.

Lanrue und Rio – zweimal Ralph. Rio war fünf Tage älter. Sie lernten sich als Jugendliche irgendwo zwischen Darmstadt und Aschaffenburg kennen. Der Ort hieß  Nieder-Roden. Der eine lernte Fotograf, der andere Dekorateur und hatte zugleich erhebliche fußballerische Ambitionen. Zeitversetzt gingen sie nach Westberlin und gründeten Ton Steine Scherben, später nach Fresenhagen (zwischen Niebühl und Flensburg).

Einmal dachte Lanrue, er müsse sterben. Der Gitarrist und Komponist der Scherben wurde wie die gesamte Mannschaft durch einen Polizeieinsatz in Berlin-Kreuzberg, am legendären Tempelhofer Ufer 32, aus dem Bett geholt. Mitten in der Nacht drang die Staatsgewalt mit gezogener Maschinenpistole in die WG ein. Das ist lange her, aber irgendwie noch präsent. 

Sehr lange hat Lanrue gegen eine schwere Krebserkrankung angekämpft. Er wollte nicht sterben. In der Nacht zum 14. Juli 2024, als würde ihn sein Geburtsland Frankreich am Nationalfeiertag zurückholen, wurde er letztlich von dieser unaufhaltsamen Krankheit befreit.

Wir sind unendlich traurig.
Wir kondolieren seinen Nächsten.
Die BuschFunker

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Schließe mich an. War eine klasse Zeit einstens, als ich mich berufsbedingt durch den Fundus der Scherben graben durfte. Hier ein schöner Nachruf.

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„There is nothing either good or bad, but thinking makes it so.“ (William Shakespeare / Hamlet / act 2 / scene 2)

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Hellas / Epiros / Anilio / 14. August 2013

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Überquellender schein, überlaufende hirne, qualen

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Auf der leeren bühne einst ein gestopfter

Socken shakespeares das lied des narren

Der regen der da regnete einen jeglichen

Tag und wäscht den staub erinnerung

Von den lustvoll knarzenden brettern nun

Aber stille gehämmert von überlautem wissen

Befreit von schwankenden geschichten über-

Tüncht von zeigefingerigen diskursen und hinweg

Gewischt was mal eine welt bedeutete den brettern

Nun vollgenagelt mit thesenpapieren hochmütig

Überrascheln penetrant wie bonbonpapiere

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Das menschenferne spiel

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Das vor leeren rängen nun und halbierten

Stuhlreihen am herzen vorbeitrudelt und beleidigt

Die hirne des auditoriums das nicht dümmer geworden

Nicht vergaß shakespeares diktum dass ein mensch

Ein guter nicht kann sein in selbstgerechtigkeit und

Herzensagonie und in den garderoben keine bierpfützen

Mehr und überquellende aschenbecher in die erschöpfte

Herzen skizzieren konnten einen ungewissen traum

Von fehlerhaftigem und hoffnung statt traktate zu versenden

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(gießen / juli 2024 / warum ich kaum noch ins theater gehe)

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Die Jacketkrone oder: „Ich bin kein direkter Rüpel, aber die Brennnessel unter den Liebesblumen.“ (Karl Valentin)

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Die Nacht von Recklinghausen / Tragikomödie des Erinnerns in 5 Akten

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Prolog:

Letzte Woche fuhr ich nach Recklinghausen. Ruhrfestspiele. Hatte mich sehr gefreut. Reise in die Erinnerungen . Die Schattenspiele. Ein auch für mich persönlich besonderes und aufreibendes Jahr betrachten. 1982. Hadere seit einer Woche damit was und wie ich schreibe davon und dann darüber. Die grundsätzliche Frage: Ist Erinnerung nicht stets ein tragikomischer Ringelpiez? Mit oder ohne Anfassen?

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Erster Akt:

Ich hatte besagtes Spiel alleine gesehen. In meiner damaligen WG am Martin-Luther-Platz. Köln. Südstadt. Schauspielschüler. Warum alleine kann ich nur noch vermuten. Vermutlich stand unsere Premiere bevor. Und unser Regisseur hatte uns Dezenz verordnet. Die meisten Spiele dieser unsere wilden Proben begleitenden WM hatten wir davor gemeinsam angeschaut. Berauscht. Oder ernüchtert. Das Unentschieden gegen Österreich etwa. Algerische Geldscheine fliegen von den Rängen. Deutschland erfindet mal wieder einen Nichtangriffspakt. Man weiß ja wo das endet. Fragt Dschughaschwili. Wenn ich das trügerische Portfolio meiner Erinnerung durchforste, ist natürlich die legendäre 57. Minute noch vorhanden, aber vor allem uns aller Lieblings-Litti, der Fallrückzieher von Klaus Fischer und der heulende Stielike. Dass da ein Breitner mitgespielt hat, habe ich erst wieder letzte Woche erfahren. Und der Schlucksee in der Vorbereitung war natürlich Thema. Wir stießen darauf an. Nachts in den Kneipen, nachdem der Express-Verkäufer uns mit den neuesten Meldungen versorgt hatte.

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Zweiter Akt:

Ich habe mich nie am deutschen Volkssport namens Bahn-Bashing beteiligt. Die Eisenbahn hat mich stets von der Vorstellung zu den Proben, dann nach Hause und wieder zu neuen Ideen und Bühnen gefahren. Gelegentlich musste ich improvisieren, aber auf der Autobahn kommt man eher selten mit Mitreisenden ins Gespräch. Es lebe der Speisewagen! Jedoch letzte Woche! Gewiss, alte, weiße Nerven liegen blanker inzwischen. Aber, nachdem der Zug ein drittes Mal auf offener Strecke stand, der Bordlautsprecher beharrlich schwieg, kein Getränkeverkauf die Synapsen entspannte, da sieht man nicht mehr rot, sondern? Nein! Nein! Nun gut, ich war früher oft im Pott unterwegs, dachte nimm dann halt die S-Bahn. Dortmund statt Essen. Oder gleich über Wanne-Eickel. Leider da eine Streckensperrung. Dann sprach man wieder mit den Fahrgästen. In Dauerschleife. Technische Störung. Technische Störung. Technische Störung. Ich dachte: reden die jetzt vom Mittelfeld der deutschen Nationalmannschaft der letzten Jahre?

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Dritter Akt:

Diese Freundlichkeit. Kaum den Fängen der Beförderung entkommen – ist dies die Entschädigung? – offene Menschen. Ein Blumenhändler, der gerade seinen Stand abbaute und mich auf Nachfrage bis zu meinem Hotel geleitete, der Hotelbetreiber, er tut dies nun in siebter Generation, erklärt mir die Stadt und wie und wo ich laufen solle, der Busfahrer Richtung Festspielhaus unterhält, da sein Gefährt noch Behandlung braucht, die Fahrgäste mit Anekdötchen und da ich im Park vor dem Musentempel sitze, auf Einlass wartend, grüßt mich jeder Passierende. Und dann die Dämlichkeit. Die übliche wahrscheinlich. Festspielhäuser stehen wohl auf Hügeln. Nicht nur in Bayreuth. Ich war früh da gewesen. Vor dem Gebäude Buden und Sitzbänke und viel Platz. Ich drehte noch eine kleine Runde im Park. Zurück. Der gesamte Vorplatz nun zugeparkt mit Dickeiermobilen. Die Politik war angekommen. Iss ja eine Premiere. Der offizielle Parkplatz zwar keine Laufminute entfernt. Leibwächter sind wahrscheinlich zu teuer. Inmitten der alten, weißen Schlipsträger – Darf man mit über fünfzig sich eigentlich noch mit Undercut in der Öffentlichkeit zeigen? –   tanzte eine ältere Dame im unvorteilhaften, groß geblümtem (Rosen!) Konfirmantenkleidchen durch die Herren. Die Stimme schrill. Deren Präsenz den Vorplatz dominierend. Kameras: Klick. Klick. Klick. Es war Claudia Roth. Den größten Lacher in meinem Rio-Reiser-Abend kassierte das Ensemble, wenn Rio der damaligen Managerin der Scherben riet, den Rock’n’Roll sein zu lassen und zu den Grünen zu wechseln. Da meine Blase voll war oder ich dies zumindest vermutete, konnte ich mich nicht mehr fremdschämen. Wir nähern uns also ungeduldig dem Einlaß und der Kunst. Habe noch nie einen „Theaterabend“ erlebt bei dem die Schlange vor den Herrentoiletten länger war als bei den Ander*innen. Es ist die Prostataangst, die uns auffrisst. Wahrscheinlich hat auch dies zu tun mit: Erinnerung.

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Vierter Akt:

Es lässt sich nicht vermeiden. Habe mich bis hier erfolglos um den Kern der Nacht in Recklinghausen herumgetippt. Feigling! Also auf zur Kunscht! Peter Lohmeyer, nicht nur damals nacherzählendes Wunder von Bern, sondern auch ein guter Mime, betritt die Bühne. Raunend. Die Bühne: ein gewollt bescheidener Tisch mit knapp zehn Mikros bestückt. Old School. Keine Werbetafeln. Im Hintergrund zwei Flutmasten. LED bestückt. Da kann man dann die Spielstände einspeisen. Und die Atmo halt. Bisserl Hazer. Für Laien: Nebelmaschine. Der Ton spielt ständig Stadiongeraune ein. Vorspiel halt. Im Hintergrund hängt eine Art von Meisterradkappe. Projektionen braucht es, wo die die Erinnerung schwächelt. Die Bilder zum Text. Die Erklärungen. Lohmeyer fängt an und liest. Der Schwabe Förster schwäbelt. Der Kölsche Schumacher rheinisch oder so. Bayrisch kann er nicht der Peter. Also ist Breitner nicht zu identifizieren. Neben mir sitzt ein Mann. T-Shirt mit Aufdruck: Müngersdorf. Mit über den Waden abgesägten Hosen. Elf Freunde? Man ist schnell im Gespräch. Man kichert rum. Do simmer mr dabei! Die Klimaanlage pustet etwas zu kühl. Dann der Versuch Lohmeyers Litti als Berliner zu gestalten. Weia again! Den damaligen Kommentator  der Fernsehübertragung näselt er indem, wenn der seinen Auftritt hat im Text, seine Hand vor seine Nase hält. Um was geht es? Der Chef des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund hat Zitate von damals Beteiligten zu einer Textcollage zusammen gefriemelt und nennt es Theaterstück. Chuzpe. Lohmeyer jagt durch den Text. Und – weit über 70 % Textanteil – der Einlassungen der Elf der Les Bleus gestaltet er im etwas einfach gestrickten Sound der Achtziger. Entnehmen Sie diesen Züngenschlag dem unten angefügten Leedche. Alle französischen Spieler so leider nivelliert auf eine Witzichkeit. Aber ‚allo! Es ist – für mich – inzwischen unsäglich ermüdend und dennoch ist die Erzählung ergreifend und die Textzusammenstellung liebevoll. Wo war der Regisseur? Gab es überhaupt einen? Die Geschichte ist doch wichtiger als eine vermeintlich unterhaltsame Verpackung. Oder? Was hetzt den gut bezahlten Leser derart durch die Geschichte? Warum sind die ersten drei Reihen von Politiknasen okkupiert? Warum quietscht Frau Roth ständig aus der ersten Reihe rum? Hat sie damals in Fresenhagen mit Rio und Lanrue dieses Spiel gesehen? Darf man Erinnerungen dermaßen billig vergesellschaften? Wo ist eigentlich der Tünn?

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Fünfter Akt:

Alles hat – dem Schiedsrichter sei Dank – mal ein Ende. Selbst ein Scheißspiel. (Gestern Leverkusen war echt bitter!) Und dann kütt er. Aus dem Hintergrund. Aber nicht so wie einst Netzer. Ein alter Mann isser getz. Wo kommt der jetzt her? Seine Klamotten sehen so aus, als hätte er bis vor Kurzem noch in seinem Kleingarten den Schuppen aufgeräumt. Er braucht seine Zeit bis zum Tisch mit den Mikros. Setzt sich. Lohmeyer rückt zur Seite. Ehrfurcht. Die Ränge jubeln. Frau Roth steht auf. Klick. Klick. Klick. Schuhmacher schlägt einen Collegeblock auf und liest vor. Er liest vor. Ich habe mir im Vorfeld etliche Videos vom Tünn angeschaut. Stets war ich begeistert, wie locker und freudig er in alle Mikrophone dieser Welt gesprochen hat. Und nun sitzt er da, alt an Leib und Seele und seine notierten Erinnerungen wie ein unsicherer Schulbub vorlesend. Es war kein Foul. Hat der Schiri gesagt. Ich war so unsicher. Ich habe Fehler gemacht. Ich hatte einfach nur Angst. Ich hätte wenigstens zu Patrick hin gehen müssen. Aber wenn dann die Gegner durchdrehen. Wahrscheinlich war es das. Hinter mir eine ganze Alterskohorte mit den Trikots der Nationalmannschaft aus dem Jahre 1982 auf dem vorgewölbten Ranzen. Als Schumacher seine sehr bewegenden (natürlich ambivalenten) Worte verlesen hatte, springen die auf. Genauso! Bravo! Als wolle man den Krieg zwischen Deutschland und den Franzosen, der 1982 nochmal aufkochte, endlich zum letzten Sieg umdeuten. Auch Claudia Roth stand. Und neben ihr eine mir unbekannte Kultusministerin aus NRW.  Und dann verbeugte sich Harald Schumacher. Wie oft habe ich als naiver Schauspielschüler die Direktheit des Tünn bewundert, wenn der vor dem Spiel ganz Müngersdorf für sich einnahm, während ich zitternden Knies auf der Probebühne verzweifelte. Und jetzt steht der vorne an der Rampe wie ein Anfänger vor knapp tausend Minsche. Und weiß gar nicht wie man sich so verbeugen tut. Und der Lohmeyer – Schauspieler – tut so, als sei das Festspielhaus Recklinghausen sein Bernabeu. Dann wurde zur Publikumsdiskussion geladen. Die Damen aus der ersten Reihe diskutieren mit dem Intendanten über ihre Fußballerfahrungen. Die Politiker reisen ab. Ich fand eine nette Kneipe in Recklinghausen, des Pottes guter Stube. Beseelt vom Pathos des Verlierers Platini.

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Epilog:

Am nächsten Morgen fuhr ich wieder nach Hause. Von den erneuten Verspätungen gilt es zu schweigen. Nachhirnen und Bierbüchsen. Ich wusste nicht so recht, ob es sich lohnt wütend zu bleiben. Jeder Text ist ein Kompromiss. Und Erinnerungen bleiben vielleicht lieber privater Natur. Witzbold! Und weshalb wird hier rumgetippt. Gestern las ich, dass die zwei Erinnerer die Veranstaltung auch noch in Gelsenkirchen vorgelesen haben. Zwei Tage später. Hatte ich übersehen. Fehler meinerseits. Meide man besser die Premiere. Eigentlich die letzte Erkenntnis meines Berufslebens. Und jetzt sinn die och noch im Jürzenisch. Ich hann över fünfzich Üros bezahlt. Der Preis sinkt. In Kölle nur noch die Hälfte. Do simmer nit dabei. Verpasst. So ist das mit den Erinnerungen.

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„Freiheit bedeutet sich für alles verantwortlich zu fühlen, aber auch sich in alles einzumischen, was einen eigentlich nichts angeht!“ (Peter Sodann)

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Schmalkalden / Thüringen / Buchladen in memoriam Peter Sodann / Oktober 2021

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HOYWOY II (Gerhard Gundermann)

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Man konnte hier Klaus oder Janek heißen

Das war egal

Warn alle nur Teig fürs Waffeleisen

Das war egal

Dick oder doof schnell oder arm

Das war egal

Hier war ja nur ne Maschinistenfarm

Das war egal hier in Hoywoy

Hier in Hoywoy

Hier in Hoywoy

War das egal

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Die Wecker klingeln hier früh um vier

Alle zugleich

Am Zahltag gabs immer Radeberger Bier

Für alle gleich

Und schlief der Janek mit der Frau vom Klaus

Ach, alles gleich

Das fiel nicht weiter auf

Hier sehn ja alle aus wie Klaus

Alle gleich hier in Hoywoy

Hier in Hoywoy

Hier in Hoywoy

War alles gleich

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Nur eins war seltsam hier

Gleich hinter dem Ortseingangschild

War es plötzlich ganze vier Grad wärmer

Und der Wind so mild

Ich riß mein Helmvisier

Hier immer weit auf, weil ich nicht mehr so fror

Du lachtest hinter mir

Und die Kinder krochen kichernd

Unter der Seitenwagenplane vor

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Und Feuersteins Musikpalast

Das war egal

Lieben, streiten, denken, Haß

Das war egal

Wir brachen auf, und wir brachen ein

Das war egal

Warn alle nur Tropfen aufn heißen Stein

Das war egal hier in Hoywoy

Hier in Hoywoy

Hier in Hoywoy

War das egal

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Nur eins war seltsam hier…

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Das war Hoywoy

Das ist Hoywoy

Aber nur für uns

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(sein letzter auftritt in gundermann / der alte verknöcherte genosse, der gundi aus der partei werfen werde, wenn der nicht zu kreuze kröche / peter sodann nach dem tod der ddr als trotziger verteidiger von resten / würdevoll wütig / tatortkommissar / theaterleiter / kandidat in sachen bundespräsidentschaft / und vor allem gnadenloser sammler der bücher des untergegangenen landes / er war sohn eines stanzers und einer landarbeiterin / ich vermisse gelegentlich solche biographien in meinem umfeld / in meiner generation (west) verkleideten sich die bürgersöhnchen als proleten oder indianer / mississippi statt saale / behauptete heimat)

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„Das gehört dann wohl zum Leben dazu!“ (Sagte Wolfgang Schäuble zu seinem Verleger 2 Tage vor seinem Tod)

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„Altes Haus“ / Sami / Kefalonia / Juni 2023

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Du bist es (Rio Reiser)

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Du bist der Sturm, der Drang, die Enge

Der Donner und die letzte Flut

Du bist der Neid, der Suff, die Menge

Das Wunder und das ruhige Blut

Du bist das Meer, der Wind, die Stille

Die Trauer und mein Untergang

Du bist der Schmerz, das Herz, der Wille

Das Ende und sein Neuanfang

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Und du rollst mit der Sonne

Dem Mond und den Sternen

Weiter durch das All

Und du rollst mit der Sonne

Dem Mond und den Sternen

Weiter durch das All

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Du bist die Angst, die Scham, die Reue

Der Jammer und die nackte Not

Du bist der Hass, die Wut, die Treue

Die Sterne und das Morgenrot

Du bist der Zorn, der Stolz, das Ende

Der Hammer und der Schlag ans Kinn

Du bist der Tritt, der Spaß, die Hände

Das Reden und sein Widersinn

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Und du rollst mit der Sonne

Dem Mond und den Sternen

Weiter durch das All

Und du rollst mit der Sonne

Dem Mond und den Sternen

Weiter durch das All

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Du bist die Sucht, der Müll, die Tonne

Die Hölle und der Pferdefuß

Du bist die Nacht, das Eis, die Sonne

Die Rose und der Abschiedskuss

Du bist der Geist, das Fleisch, das Schlaue

Der Teufel und das ewige Licht

Du bist das Nichts, die Schrift, das Blaue

Der Engel und das As, das sticht

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Und du rollst mit der Sonne

Dem Mond und den Sternen

Weiter durch das All

Und du rollst mit der Sonne

Dem Mond und den Sternen

Weiter durch das All

Und du rollst mit der Sonne

Dem Mond und den Sternen

Weiter

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(vor kurzem wegen zweier sehr schöner radioreportagen wieder an meister rio erinnert worden / mit und ohne scherben / mein alter genosse der gesinnung und mancher selbstverbrennung / war meine erfüllendste arbeit / maßlose dezenz / dezente maßlosigkeit / gerne mal durch die wand)

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„Auch ich habe in den Kneipen gesessen und mir das Maul zerrissen, ungezogen und überheblich!“ (J. Flimm)

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Auf einer der Bühnen dieses Landes nachdenkend beziehungsweise so tun als ob Kopf noch auf

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Es war schon längst vorbei als es begann

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Als hochroten Kopfes der Theaterleiter die Klause

Wie man manchen Theaterabsturzkeller einst nannte

Stürmte und stürzte an den feuchten und lauten Tisch

Des aufstrebenden gutaussehenden Jungdarstellers

Der seinen Hintern den Fernsehsendern zugewandt

Wo er Jahrzehnte später nur noch rumpilchern sollte

Und der Theaterleiter Schabau und Kölsch im wuchernden Bart

Schrie den Finger streckend nach unserem Tisch

Wo wir billig eingekauften Theaterlehrlinge mit Stolz gefüllt mittranken

Da wir eben am Rande der kleinen Großstadtrampe Texte sprechen durften

Schrie er: Leev Jong mit jedem dieser Buben kann ich dich ersetzen jederzeit

Und da unsere wackeligen Wirbelsäulen sich reckten gen große Rampe

Ein Kranz Kölsch an unserem Tische unser peinliches Schweigen begoss

Den der Theaterleiter mit lässiger Geste geordert und Yamas

So verkroch sich in den noch funktionierenden Furchen meines Hirns

Ein Gedanke der diesen Verlust schon vor der Zeit besingen hätte können

Und es nicht tat

Nach über vierzig Jahren jedoch neben dem Herzen tickert

Prostituierter ohne Reue der ich einer war

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(gießen döst vor sich hin und die bewohner dösen mit / so do i / vielleicht kauf ich mir dat buch / morgen mehr / es triggert eben so vor sich hin)

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„Su hann ich geliert im Jegner den Minsch zu sinn!“ (Toni Schumacher)

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Kölner Südstadt. Alleine vor dem Schwarz – Weiß – Fernseher im „legendären Sommer von 1982“. In der Nacht von Sevilla kütt der Tünn anjeflogen. Davon berichtet er fünf Jahre später aka lässt berichten in seinem „Anpfiff“. Mehr im Anschluss. Viele Menschen, gerne Männer, laden sich im Laufe ihres Lebens ein Paket auf den Buckel, welches sie kaum mehr runterkriegen. Toni Schumacher hatte gleich zwei bis mehrere solcher Kisten hochgehievt.

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In den 80er Jahren war ich regelmäßig im Müngersdorferstadion. Nicht im Freibad nebenan. Aber der Sound von nebenan lag stets in der Luft. Festes Ritual: der Einmarsch des Tünn. Als Erster oder Letzter des EffZeh. Kulturbeutel unterm Arm. Vom Nordtor einmal längs und quer über den Platz – Huldigungen benötigen ihre Zeit – rüber in die Südkurve. Man feierte den King vom Rhing. Dieser Tünn isset und nit der Dummse Tünn, obwohl dieser möglicherweise der einzige Lude auf Wikipedia. Meister Schumacher fing meist alles, was zu fangen war, auch mit gebrochenen Fingern. Siehe ganz unten. Sogar den BIG MÄC. Außer 1986, wieder ein Sommer in der Südstadt. Die WM der Hand Gottes und Toni griff im Endspiel daneben wie man nur daneben greifen kann. Noch ’ne Paket am Hals? Letztlich drissejal.

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Im Jahr drauf diktierte er den besagten Anpfiff. Was stand drin? Kicker dopen. Etliche Kicker sind schwul. Kicker saufen und zocken. Und Loddar ist nicht die hellste Kerze auf der Torte DFB. Sowie Rumminiga ein Schleimer und Karrierist. Remenber the Schlucksee! Was ist daran falsch? Und – etwas ungelenk, siehe Überschrift – schrieb er sich die Causa Battiston von der gekränkten Seele. Die Nationalmannschaft entledigte sich des kickenden Autors und so dann auch – wahrscheinlich tausendmal verletzender – der EffZeh. Feige wie sie halt sind, die Taktiker und Bettvorleger. Also ein erzwungener Wechsel gen Schalke. Höchststrafe?

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Wieder ein Jahr später im Mai. Schalke zu Gast in Kölle. Das letzte offizielle Bundesligaspiel – ok, später durfte er als Dortmunds Torhütertrainer ein paar Minuten Meister sein – des Schumacher. Eine verpflichtende Pilgerreise für uns Jünger. Die alten Gefährten Icke und Litti netzen gegen ihn ein. Das ganze Stadion entschuldigt sich dafür. Eines meiner emotionalsten Fußballspiele. Ich mochte diesen freundlichen Verrückten sehr. Nur die wirklich Coolen werden von Andy Warhol porträtiert. Und reden im Theater über ihre alten Pakete. Später mal.

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