Wo ist die Zeit? / Sehnsucht oder Sarah

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Belgien / Wallonien / Bastogne / Restaurant Wagon Lèo / 11. Oktober 2023

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Da isses: das Bündnis. Die politisch eierlegende Wollmichfrau. Sie sieht gut aus. Hat dies über Jahre vor allen willfährigen Fernsehkameras bewiesen. Schminkt sich mit Worten und Eyeliner ihre wohlwollende Härte ins doch sehr müde Gesicht. Endlich und bald auf den Wahlzetteln dann die Befreiung für all die zwischen Vergangenheitsbesingung und wohlsituierten Revolutionszuckungen hin – und her taumelden Rentner? Und deren ihren Lebensstandard sichernden etwas jüngeren Partnerinnen?  Die erotische Eisvogelin, die wir alle einst auf den Schulhöfen anstarrten, die sich aber letztlich für einen kleinen, dicken, häßlicheren und farbig blassen Nerd entschieden hat? Weil der gut so kochen kann? Oder einfach nur da man sich gerne in masturbativer Spalterei vereinte? Linke Politik seit Lieber’s Luxusburgen und Rosa’s Knechten wahrscheinlich. Die – gab es in der DDR schon Migration? – genetisch Gemischte will eins werden oder die EINE. Ach nee Ausländers im Sozialismus det jab es ja noch nich – det waren ja Freundschaftsarbeiter. Aber die Bedrohung aka Apokalypse menetekelte schon immer in unseren Denkmansarden rum. Drüben und mehr noch im arroganten Hüben hier. Das Leben zu simulieren, wenn man nur Worte in die Welt atmet, statt zu …. Ähem! Da fehlt doch das Fragezeichen. Eben.

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Zum Photo oben. An meinem letzten Ehrentag war ich in Belgien. Bastogne. Aß Muscheln. War nicht so billig. War aber eingeladen. Details? Belgisches Bier ist gefährlich. Treibt einen alten Mann um. Keine Details. Neben dem Eingang zu den Toiletten hing eine wunderbare Collage. Da hatten sie einfach das Küchenbesteck, welches im Laufe der Jahre vom Herd gefallen war, auf eine riesige Leinwand gepappt. Schöne Idee. Interpretiert natürlich mein trunkener Kopp: Muß man halt neue Messer kaufen, um das neue Steak auf dem Teller Wirklichkeit wieder zerlegen zu können. Ein kleiner Waggon alter mentaler Märklin – Eisenbahnen hing auch noch rum im Bild.

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Ich habe unlängst aus purem geschissenem Mitleid in Hessen die Linke gewählt. Mein Briefwahlstift schwebte aber auch wie eine Drohne oder ein halb verhungerter Rotmilan über der unaussprechlichen Partei. Da habe ich begriffen: weder Opas gegen rechts noch blöde Hymnen auf die gute alte BRD zu singen sind Option. Damals als man uns für das Maul aufreißen – selbstredend finanziell in Sicherheit – noch bewunderte: es ist vorbei. Einer schnellen Antwort werde ich mich weiterhin verweigern. Gelle, Madame BSW. Schön war’s. Auch wenn Leber und Bandscheibe anderes vermelden.

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Wo ist die Zeit? / Manchmal liegt sie da

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Liegende Steine / Weris / Wallonien / Belgien / 11. Oktober 2023

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Muß man sich zu Steinen aus dem digitalen Fenster tippend raushängen? Muß man nicht. Kann man aber tun. War natürlich ein Reflex. Der obligatorische Kauf. Doch die Überraschung war, daß sie eine gute Überraschung wurde. Ein mehrmaliges Hören macht aber nicht unsterblich. Was Herr Jagger hier zusammensingt? Und Paule zupft die dicken Saiten? Freude! Den Rest mag ich auch. Meist die Varianten alter Erzählungen. Und? Immer noch erfrischend lebendig. Bis Achtzig sind es noch dreizehn Jahre.

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Oh, it’s a long, long while / From May to December / But the days grow short / When you reach September / 13

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Regal / Keller / Gießen / Heute nachmittag / September 2023

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Aufräumen könnte man. Das Trottoir fegen. Nicht für sich, aber für andere. Also letztlich für sich. Das selige Geben. Remember? Lohnt es sich noch die Fenster zu putzen? Was liegt denn so rum im Gemüsekorb? Bevor es verrottet, noch Einmachgläser kaufen? Wenn der Herbst und der Winter, der diesen schon mal belästigen will, an die Pforte klopfen? Den Bart abnehmen? Oder nun das Gesicht mit Haarbewuchs wärmen vor kaltem Wind? Einmal noch mit der Mistgabel den Kartoffelacker durchwühlen? Und ein gelassener Blick zum Himmel, der dir früher oder später auf den Kopf fallen wird? Die Steine aus deinem Acker heute schon herauslesen oder warten bis zum nächsten Frühjahr? Wird der Winter deine Steine spalten? Alte Träumereien begraben? Mistgabel? Spaten? Man mag sich verzeihen.

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Vanitas! Vanitatum Vanitas!

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Wir rechnen jahr auff jahre/

In dessen wirdt die bahre

Vns für die thüre bracht:

Drauff müssen wir von hinnen/

Vnd ehr wir vns besinnen

Der erden sagen gutte nacht.

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Wie viel sindt schon vergangen/

Wie viell lieb-reicher wangen/

Sindt diesen tag erblast?

Die lange räitung machten/

Vnd nicht einmahl bedachten/

Das ihn ihr recht so kurtz verfast

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Wach‘ auff mein Hertz vndt dencke;

Das dieser zeitt geschencke/

Sey kaum ein augenblick/

Was du zu vor genossen/

Ist als ein strom verschossen

Der keinmahl wider fält zu rück.

(Andreas Gryphius / Exzerpt)

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Vom Schreiben auch dies: Es ist tatsächlich eine Freude in den Keller gehen zu können und dort Eingemachtes zu erblicken. Die Mägen sind voller als die Seelen. Ab morgen grüßt nun der Oktober, der liebe Geburtsmonat. Da übernehmen die Genossen wieder. Nach der Rückkehr aus einem Ausflug in die Ardennen. Mitte Oktober. Vanitas aka Eitelkeit benötigt stete Pausen. Zumal Herr September sich als ein recht kindischer Mai präsentierte. Spiegel der Gesellschaft nun. Pubertät bis in die Kiste. Hier Frankie Boy. Wie am Anfang, so am Ende. Als der September noch ein Erwachsener war.

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Oh, it’s a long, long while / From May to December / But the days grow short / When you reach September / 12

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Russland / Sovetsk / Bank wartet auf die Rückkehr des Sozialismus / September 2017

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Jazz auf der Autobahn

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Jazz summend auf der Autobahn

Zwei Spuren die reichten

Den etwas Eiligeren

Deren mit Altersflecken verschönerten Hände

Umklammern das Lenkrad

Noch immer wie ein Stück Brot in der Wüste

Oh Manna Manna vom Himmel falle

Unter dem faltigen arbeitslosen Arsch aber

Wackelt gewaltig die Bank der Gewißheiten

Immer öfters prügele ich mich in meinen Träumen

Mit älteren Freunden

Wache auf verstört betört

Von der Weisheit des eigenen Gehirns

Und verzweifle an den Spiralen der Synapsen

Ein Lied noch aus den Rippen geschnitten

Das keine Wiederholung

Einen Schorf noch vom Knie gepult

Der nicht antik

Einen Popel noch unter die Parkbank geschmiert

Den der Blinde in mir mag lesen am nächsten Tag

Eingetrocknet

Als ein Versprechen

Herbsterwachen

Der Sheriff ist gestorben

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Mein heutiges Morgenlied in Sache Apokalypsen. Countdown September.

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Oh, it’s a long, long while / From May to December / But the days grow short / When you reach September / 11

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Turm / Alte Fabrik in Heuchelheim / 9. September 2023

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„Aufrecht steh’n, wenn andere sitzen

Wind zu sein, wenn and’re schwitzen

Hoffnung haben beim Ertrinken

Nicht im Wohlstand zu versinken“

(Bettina Wegener / Gebote)

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Saß gestern im Cafe´ und las Zeitungen mit Grauburgunder. Rituale. Eigentlich sollte ich in Wien wohnen. Im SPIEGEL meine Lieblingskolumne des wunderbaren Alexander Osang. Ein Gespräch mit Bettina Wegener, die ich, wie die meisten wohl, auf die „Kleinen Hände“, die ich gräßlich fand, reduziert hatte. Ein Fehler! Der Gesprächsabend stand unter dem Motto: „Missverstehen Sie mich richtig!“ Wie wunderbar. Und davon, daß man sich öfters gestatten sollte, zu vielem einfach keine Meinung zu haben. Notfalls aber handeln muß. Um eigenen Gedankenmüll von dem Anderer zu trennen!

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Und weil immer noch September ist und der September seit 2001 ein anderer September ist und bleibt, auch wenn die Welt gern schneller vergißt als es angemessen wäre, nochmal Alexander Osang. Der lebte am 11.9. in New York und hat über diesen Tag ein Buch geschrieben. Zusammen mit seiner Frau Anja Reich. „Wo warst Du?“ Mal wieder lesen. Oder halt hören.

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Oh, it’s a long, long while / From May to December / But the days grow short / When you reach September / 10

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Gießen / Vitos – Kapelle / 22. September 2023 / (v.l.n.r.) Fischer Lugerth Manz Bonica

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Das war ein guter Abend letzten Freitag in der Gießener Vitos – Kapelle. Ein richtiges Septemberprogramm. Lieder des alten Meisters. Vom Kommen und Gehen. Vom Aufbrechen und Stillstehen. Über Traurigkeiten und die wilde Freude. Gestern statt heute. Heute statt gestern. Der letzte Frühling im nächsten Herbst. Ein Herbst im gegenwärtigen Frühling. Oder doch noch Sommer? Man steht wieder mal vor einem rotierenden Kinderkarussell. Sinnierend. Ein schönes Wort. Es verzichtet auf Thesen und Gewißheiten.

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Was macht Herr Dylan eigentlich dieser Tage? Er feiert mit den alten Herzbrechern eine Art Erntedankfest und spielt wieder mal Gitarre.

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The September of my years (Frank Sinatra)

One day you turn around, and it’s summer

Next day you turn around, and it’s fall

And the springs and the winters of a life time

Whatever happened to them all

As a man who has always had the wandering ways

Now I’m reaching back for yesterdays

‚Til a long forgotten love appears

And I find that I’m sighing softly as I near September

The warm September of my years

As a man who has never paused at wishing wells

Now I’m watching children’s carousels

And their laughter’s music to my ears

And I find that I’m smiling gently as I near September

The warm September of my years

The golden, warm September of my years

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Ja ja ja, der September dieser Tage wärmt in vielerlei Hinsicht. Überraschend. Aber auch seltsam. Und recht aggressiv. Ich mag mich der Kinderfreude über immer noch mögliche Badetage nicht anschließen. Die nach uns kommen, werden dafür bezahlen müssen. Das ganzjährige „Draußensitzen“ ist mir suspekt. Eine dieser neugermanischen Marotten. Der Schädel eines Menschen ist kein Cabrio. Sagt der Hutträger in mir.

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Oh, it’s a long, long while / From May to December / But the days grow short / When you reach September / 09

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Strand / Matala / Kreta / Hellas / 11. September 2009

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Beitrag eines alten weißen Mannes zum heutigen Klimastreik. Hugh! Da war diese Brücke über ein Flussbett auf dem Weg zum Strand in Matala. „War da früher mal ein Fluß?“, fragte die Liebste. „Morgen kann da schon wieder einer sein!“, war die Antwort. „Kann man sich gar nicht vorstellen!“ Tja, so simmer halt wir Aufrechtgeher. Zwei Tage später – siehe oben – es war ein 11. September, schwamm ein großer Teil des Strandes im Meer rum. Im Swimmingpool unseres kleinen Hotels oberhalb der Bucht trieben tote Ratten, die die Flut da reingespült hatte. Das war 2009. Normalerweise käme der heftige Regen erst im November. Normalerweise. Ein Wort, welches aus dem Duden gestrichen werden kann. Eigentlich eigentlich auch.

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Das erste Mal auf Kreta war ich im Oktober 1997. Auch Südküste. Bei Lendas. Hat ein alter Freund ein Häuschen dort. Immer wieder hingen dicke graue Wolken an den Bergen im Hinterland fest. Aber es waren nur Andeutungen. Auch der Euro war noch fern. Drachmen. Ein weiteres der verendeten Worte. Man erwartete, freute sich sogar auf den dringend benötigten Regen. Ein paar vereinzelte Tropfen aber lediglich. Mehr gab die Prostata des guten, alten Zeus, nebenberuflich auch für das Wetter verantwortlich, nicht frei. Oft oder gar normalerweise käme der große Regen im Frühjahr, gewaltig und dann müssten auch die Straßen unterhalb der Berge wieder neu von Bulldozern geschoben werden. Eigentlich normalerweise.

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Sanfte Übergänge, Rhythmen, Mondkalender, Erntedankfeste on time, vermeintliche Verlässlichkeiten schwinden. Jahreszeiten? Wo sind die eigentlich hin? Werden bestenfalls noch in den Medien hysterisch, fast schon verzweifelt beschworen. Mit verklärten Bildern, die die Kinder und Enkelkinder nie mehr in natura sehen werden. Schnee. Buntes Laub. Unlängst sagte mein Nachbar zu mir, wir saßen in der Dämmerung im Hof und wurden nicht von Schnaken gestochen – viele werden jetzt sagen, seid doch froh – also sagte mein Nachbar zu mir: „Mein Sohn wird, wenn er groß ist, nie mehr von Vogelstimmen geweckt werden! Die haben einfach nix mehr zu fressen!“ Ein Grund mehr ins Auto zu steigen, in die Stadt zu fahren und dort diese kleinen digital singenden Vogelhäuschen zu kaufen, die man ins Klo hängt und wenn du dann dort eintrittst, piept dir eine Nachtigall den Ballast aus dem vollgefressenen Körper. Normalerweise. Außer die Strassen sind so verstopft wie das Hirn. Was normalerweise eigentlich denken sollte. Normalerweise ist das eigentlich so. Schallt es dieser Tage aus den Bierzelten der Republik. Wir müssen weiter leben normalerweise und eigentlich. Jedoch ohne Denken? Kann Nachdenken Spaß machen? Normalerweise. Eigentlich. Gelegentlich wär schön. Think!

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Wahrscheinlich ist dieser September, den ich ganz am Anfang leicht schwärmerisch besang, bald auch nur noch eine Fußnote als ein September im September der mal einer gewesen. Unberechenbar statt normalerweise? Die Lieder bleiben. Kindisch zwar, aber ich habe mir wieder einen billigen, hübsch rauschenden Plattenspieler gekauft. Der Vergangenheit ist das egal.

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Oh, it’s a long, long while / From May to December / But the days grow short / When you reach September / 08

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Gießen / An der Lahn / September 2023

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Manchmal setzen dich die Kreisel, welche ein fremdes Leben vollführt, zurück auf’s eigene Lebenskarussell. Was für eine seltsame Zeitreise gestern Abend vor der Glotze ich mit Rudi Völler erleben durfte.

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Sommer 2000. Wiesbaden. Meine damalige Gefährtin, Schauspielerin mit allen Fasern ihres Leibs und Herzens, arbeitete sich den Arsch ab am Staatstheater Wiesbaden. „Me too“ war noch nicht erfunden. Ich hatte gerade in Leipzig ein wildes Projekt absolviert und nach drei turbulenten, auch oft unlustigen Jahren einer Fernbeziehung Köln – Hessen, war der Entschluss gefallen zusammen zu ziehen. Nach Mainz also. Kloppo kickte dort noch. Ich saß nun oft, der Dinge harrend, in Hessens Hauptstadt meist in einem der innerstädtischen Biergärten und guckte EM. Auf kleinen Bildschirmen noch. Größer war aber auch der Fußball nicht, den das damalige Team unter Ribbeck, den Erich, vor sich hinrumpelte. Das Jahr in dem ein deutsches Vorrundenaus erfunden wurde. Ich ahnte noch nicht, daß auch mir ein solches bevorstand. Baldigst. Und ohne Abfindung.

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Dann ein sehr heißes Sommerende in Mainz. Ich renovierte, fast schon tobsüchtig, eine riesige Wohnung über zwei Stockwerke. Mit Sauna, Balkon, Dachterrasse, Jacuzzi und und. Die geliebte Schauspielerin probte an neuer Wirkungsstätte. Junger Regisseur. Wieder lebte ich in einer Fernbeziehung, diesmal in geographischer Nähe. Rudi hatte die Elf übernommen und ich saß, farbverschmiert, schwitzend, erschöpft vor der Glotze und die eben noch Lahmen waren aufgestanden wie einst Lazarus und fiedelten Spanien ab. Jetzt wird alles gut, dachte der ewige Bub in mir, der gerne den Ausgang einer Kickerei zu einer Art Zukunftsprognose „hochsterilisierte“. Ihre Probe dauerte zu lange und meine Euphorie war in einen traurig aggressiven Suff gekippt, als sie nach Hause kam, anderweitig euphorisiert. Es ist kein glücklicher Stern aufgegangen in der Nacht. Wenn, dann war es der Kampfstern Galaktica. So landete ich nach heftigen Gefechten in Gießen.

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Und gestern, die Frau die mir seit etlichen Jahren auch mal die Flügel stutzt, damit ich weiterfliegen kann, lag schon im Bett, staunte ich, vom Deja vu geplättet, wie schon wieder die Lahmen und Blinden des letzten Samstags sich über das Dortmunder Grün arbeiteten. Können die jetzt fliegen? Zumindest in Ansätzen? Fast meinte man Freude in ihren Augen zu erkennen. Und nun? Wenn Tante Käthe nicht weitermachen will: ich wäre für den General aus den Niederlanden. Was iss mit Loddar? Die Jugend benötigt wohl gerne klarere Ansagen. (Triggerwarnung: Ironie!)

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Wir werden alt und sind’s doch schon und sehnen uns zurück nach Zeiten, in denen wir meinten die Veränderung noch in eigener Hand zu halten wie das schwächelnde Glied. Pustetorte. Wir werden verändert. Wie Lou Reed zum September Song präludiert: Als es Zeit wurde, kreuzte sie meine Pfade.

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