Des Schwarzen Hundes Mühe: Liebe 17

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Grünberg / Gerichtstrasse (sic!) / 10. September 2022

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„Größe hat etwas mit der Fähigkeit zu tun, Leid auf sich zu nehmen. Ob mit Lachen oder ohne, das weiß ich nicht.“, schreibt mein momentaner Lieblingsautor Bernd Wagner. (Verlassene Werke!) „Ich wünsch‘ Dir Liebe ohne Leiden.“, sang der ewige Udo Jürgens für seine Tochter.

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Das mit der Größe und dem Hohelied auf das Leid ist so eine Sache. Je heißer das ungebremste Feuer ist, mit dem du dich auf ein begehrtes Objekt zubewegst, umso weniger bleibt – dies ist die Gefahr der Höchsten Minne – von deinen Liebeskarren über am Ende der Strasse. Bevor du vollends auseinanderfällst, bist du nur noch Chassis. Haut und Knochen. Die Wiedereinrichtung des Gefährts ist teuer und kostet nicht nur einiges an Geld, sondern auch Zeit. Und viele Runden mit dem Schwarzen Hund um den Teich im Stadtpark, den Blick auf die eigenen Schuhspitzen gerichtet. Bleibt zu hoffen, dass der wieder instandgesetzte Motor noch ins alte Chassis passt und dieses sich in der Hitze des verlorenen Gefechts nicht allzu sehr verzogen hat. Da hatte ich viel Glück gehabt.

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Was war zuerst da? Die ewige Flucht? Oder der Schwarze Hund? Es ist Huhn wie Ei und vollkommen wurscht. Wenn ich nicht in der Lage bin, von dem zu leben, was ich naiv erträume, ernähre ich mich von dem, was ich kann. Besser wohl! Auch wenn – nochmal Wagner – behauptet werden kann, komme das Herz zur Ruhe, bedeute dies auch Stillstand des Hirns. Wie oft wünsche ich, mein Hirn würde endlich mal die Schnauze halten. Vor allem in der Nacht. Grübeln ist kein Denken.

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Manchmal kommt man mit dem Schrecken davon. Also mit dem Schrecken. Der Schrecken verharrt nicht am Ort des unglücklichen Geschehens. Er springt in deine Manteltaschen – Es war Winter! – und tritt dir gelegentlich gegen die Hüfte. Jetzt hängt der Mantel im Schrank. Bald muss ich in wieder rausholen. Gelegentlich rappelt es im Schrank. Manchmal erschrecke ich dann. Meist wenn ich mir sicher war, vergessen zu haben. Das kannst du vergessen.

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Das Schlimmste war und ist immer wieder die manchmal tagelange Abwesenheit des Lachens. Dann versuche ich wenigstens zu schmunzeln über das Leid, das eigene. Und versuche, die die liebt, nicht mit ins „valley below“ zu ziehen. Denn der Schwarze Hund mag eigentlich kein Selbstmitleid. Seltsamerweise fordert er Klarheit ein!

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Raus jetzt! Um den Teich. Indianersommer. Mit oder ohne Schmerz. Hough!

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(Gießen, 21. September 2022 / Mittags / Von der Depression / Eine Art Tagebuch)

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Ruhe des Herzens bedeutet in der Regel nichts anderes als Stillstand des Hirns (Bernd Wagner)

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Konstanz / hinter der Hinteren Sonne / 11. März 2022

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Noch mehr schwere Waffen genehmigt. Eben im Radio. Gestern Abend ukrainischer Kinderchor auf dem Kirchenplatz. Allenthalben die neuen T – Shirts. FCK PTN. Eben vor dem etwas schweren Aufstehen las ich:

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„Da waren auch die Überreste der Residenz und seiner Getreuen unweit der Grenzbarriere von Koromogaseki, die den Zugang zum Nambu – Gebiet sicherte: keineswegs eine unpassende Stelle, um die Nordbarbaren abzuwehren. Die treuen Vasallen (des Helden Yoshitsune) hatten sich dort verschanzt – ach, der Ruf ihrer Ruhmestaten war von kurzer Dauer. Von dichtem Gestrüpp sind alle Spuren überwuchert.

Das Land ist verwüstet – Berge und Flüsse aber blieben unversehrt – über Burgruinen grünt, wenn der Lenz kommt, nur noch Gras!

Diese Gedichtworte gingen mir durch den Kopf. Mit meinem Bambushut unter mir ausgebreitet, saß ich da, vergoß Tränen und vergaß die Zeit.

Sommergras …!

Von all den Ruhmesträumen

die letzte Spur“

(Basho / Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland)

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„Die Frage nach der Verhinderung des Krieges muß anders formuliert werden: Wie kann der Mensch ohne Krieg auskommen?“

(Bernd Wagner / Verlassene Werke)

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bagatelle zweiundzwanzig / aug. `99 / tangled up in slubice

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Auf dem Bahnsteig der Grenzstadt

in der ich den Maschinist mimte in Schopenhauers Salon

Setz Dich zu ihm er ist nett er ist klug er zeigt Dir die Hauptstadt

Sagte ich zu ihr und ging dann über die Brücke

Billige Zigaretten und Fusel zu kaufen der Grashalm verleihe mir die Kraft des Büffels

Man hatte mir erzählt in Slubice auf dem Markt bekomme man alles

Schnaps Frauen Waffen Drogen einen Killer nur nicht das Glück

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Abends saß ich an der Bar des Hotels draußen unwirtliches Industriegebiet

Dzevad der Schriftsteller der in Schopenhauers Salon das Gespenst von Kleist auf den treulosen Goethe hetzte

Erzählte mir von der Belagerung Sarajevos und wie sie schoßen die Nationalbibliothek in Brand

Drei Millionen Bücher starben seinen Studenten rezitierte er fortan den Faust aus dem Gedächtnis

Auf dem Hotelzimmer tranken wir die Flasche aus Slubice leer dann stand er auf und ging hinaus

Jede Nacht flog er mit den Schwarzen Vögeln über Sarajevo ohne Schlaf

Zum Frühstück sahen wir uns nochmal er müsse nun nach Hause ich möge meine Frau grüßen

Sie ist es nicht sagte ich noch

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In einer Probenpause rief ich ihren Anrufbeantworter an ob es nett war wollte ich wissen

Der kluge Dramaturg an dessen Tür ich klopfte hatte keine Zeit

Jetzt nicht wie es gestern war jetzt nicht später nein der Text müsse neu ob es nötig sei war meine Frage

Ein paar Stellen eigentlich nur Bagatellen wichtig nein aber na ja nötig gewiß die Türe schlug zu

Nachmittags standen alle mit gerußten Scheiben vor dem Theater und betrachteten die Sonnenfinsternis

Es sei die letzte totale Finsternis des zwanzigsten Jahrhunderts hieß es

Die Vögel schwiegen der Anrufbeantworter fiepte mich an

Sie las einen Brief er hatte ihr geschrieben vor halbvollen Gläsern wartend

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Vor dem Haus in dem Kleist ein Junge gewesen

auf der Treppe des Museums saß ich im Schatten blickte über den Fluß

fröstelnd am gegenüberliegenden Ufer glitzerte Slubice im Abendschein der zurückgekehrten Sonne

Ich ruderte hinaus auf die Oder mit Kleistens Kahn

Allein Henriette stand am Ufer und winkte fröhlich

Keine Lust auf Untergang rief sie ein knappes Jahr schritten wir

wohin denn noch und stießen an mit halbleeren Gläsern

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Diese Nacht halte ich ein Buch des Schriftstellers in der Hand ich hatte es nie zu Ende gelesen

Der nächtliche Rat die schwarzen Vögel machten sich bereit davon erzählt es das Lesezeichen an alter Stelle

„Die Vergangenheit ist immer da, unvermeidlich und unerbittlich, wie eine Falle, der wir sowenig entgehen können wie den Himmelsrichtungen.“

Kalter Regen trommelt Ich blicke in Dunkelheit gen Osten hoffnungsfroh

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Gehen müssen. Gehen wollen. Gehen.

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„Der Vater war 44, als er sich aufhängte. Als ich endlich 45 war, war ich froh. Ich hatte ihn nicht umgebracht, doch ich war älter geworden als er, immerhin. Etappenziel erreicht.“ (Bov Bjerg / Serpentinen)

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So empfand ich am 11. Mai 2004. Nun war ich also älter geworden als der, der mein Vater war. Heute ist es 48 Jahre her, daß er gehen musste, gehen wollte, einfach ging, grußlos. Mit 48 Jahren.

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Bücher wählt man nicht aus, sie suchen Dich. Davon bin ich überzeugt. In meinem privaten, aber auch dienstlichen Leben (ist eh ein und dasselbe!) liefen mir ziemlich gehäuft Bücher über den Weg, die zum Thema hatten Tod, Schmerz, Trauer, die Unfähigkeit dazu, Erinnerungsversuche der Hinterbliebenen, Verarbeitungsversuche der schmerzlich Alleingelassenen. Es brauchte eine Zeit, bis mir die Gedanken aus fremder Feder zu einer Hilfe werden konnten. Fremder Schmerz kann manchmal als aufdringlich empfunden werden, relativiert er doch das eigene, als einzigartig definierte Leiden. Schnell weist man eine aus tiefem Herzen gut gemeinte Empfehlung – „Das mußt Du lesen!“ – als unangemessen zurück. Igelt sich ein. Das ist nicht nötig. Viele meiner Bücher sind Geschenke guter Freunde. Die meisten Bücher aber erwarb ich auf Grund der Lektüre von Querverweisen. Jedes Buch weist auf ein nächstes hin.

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„Der Vater ging voraus, und ich ging hinterher. Im Esszimmer stand ein Kofferradio. Es spielte ein einziges Lied: „Ja Grüezi wohl Frau Stirnimaa, säged Si wie läbed Si, wie Si Si au so draa? Grüezi wohl Frau Stirnimaa, säged Si wie läbed Si, wie gaht’s dänn Ihrem Maa?“

Das Radio spielte ein einziges Lied, die ganze Zeit, und der Vater ging die ganze Zeit um den Tisch herum, und ich ging die ganze Zeit hinterher.“ (Bov Bjerg / Serpentinen)

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Ich liebe die Koinzidenz. Kurz vor Weihnachten stieß auf Bov Bjergs `Serpentinen`. War mir bis jetzt komplett unbekannt. Zu Weihnachten schenkte mir die Schwester Bjergs `Auerhaus`. Ich las die Bücher mit großer Freude, bewegt und aber auch mit Vergnügen. Eine karge, klare Sprache. Humor. Wut auch. Keine Larmoyanz. Kein Blabla.

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Wie soll man es benennen? Selbstmord? Klingt immer noch die Straftat nach, katholisch verboten. Begrabt den Täter vor den Mauern des Gottesackers. Suizid? Eine technokratisch klingendes Fluchtwort. Man vermeidet den Schmerz. Etwas, was das eigene Leben bedrohen könnte. Kein Ausdruck für Betroffene. Selbsttötung? In meinen Ohren ungelenk. Als sei es ein Unfall, ein Zufall gar gewesen. Hand an sich legen? Wie bitte? Der letzte große Abgang, die ultimative Masturbation? Nee. Vielleicht einfach sagen, wie es geschah. Er warf sich vor den Zug. Sie nahm Tabletten. Er erschoß sich. Sie schlitzte sich die Pulsadern auf. Er erhängte sich. Wahrscheinlich das Beste. Oft sehr oft, wurde ich gefragt, sagte ich, mein Vater starb sehr jung. Oder: er ging mit 48. Je nach Gegenüber. Heute meist: Er hat sich aufgehängt.

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„Frieder dachte den ganzen Tag nach. Wenn er was rausgefunden hatte, sah er mich kurz an, als ob er auf eine Einladung wartete. Dann sagte ich „Und?“, und Frieder sagte, was er rausgefunden hatte.

Ich sagte:“Und?“

Frieder sagte: „Ich wollte mich nicht umbringen. Ich wollte bloß nicht mehr leben. Ich glaube, das ist ein Unterschied.““ (Bov Bjerg / Auerhaus)

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Was bleibt? Ein Arschloch wie 1 m Feldweg (aus Auerhaus) oder Du fehlst? Es ist gut, wenn man beides aushalten kann.

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„Frieder sagte: „Das Saufen schiebt den Suizid raus. Manchmal so weit, daß man am Saufen stirbt.“

„Ich sagte: „Der Imiglykos.“

„Frieder sagte: „Kann sein.“ (Bov Bjerg / Auerhaus)

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Wenn der Anu Branco wüßte …

… wie teuer die Liebe sein mag

Ich wette nie würde er singen

Nie wieder wecken den Tag

(Teil 2)

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„Sonne und Regen … Die Füchsin verheiratet ihre Tochter. Noch ist September. Was sollen wir tun? Warten. Auf den Regen harren, auf den ersten Donner … Warten. (Pause)“

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Die Pause war lang. Das war damals so eine Art künstlerische Mutprobe. Wie lange halte ich auf einer Bühne eine Pause aus. Und verliere nicht die Konzentration. Ungeschlagener Weltmeister in dieser Disziplin war mein guter Freund T., damals noch K. genannt. „Heinrich! Die Pause ist zu lang!“ Andere Geschichte. Ich stand also zu Beginn des „Speckhuts“ als Erzähler auf einem Erdhaufen, regungslos, barfuß in Unterhose, einen roten Lackledermantel übergeworfen, in der Hand einen Plastikbeutel. Darin ein blutendes Schweineherz. Ein echtes!

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„Ich habe kein Herz mehr. Als ich noch lebte, sagten die Leute, ich hätte kein Herz, aber das stimmt nicht. (Er lacht, schwenkt den Beutel mit dem blutenden Herz) Heute ist mein Herz Erde und Wind … Mira hab ich verziehen.“

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O. schrieb uns zur Premiere ins Programmheft: „An meine Schauspieler: Sie verwechseln das Theater mit dem Leben und das Leben mit dem Theater.“  Meine Axt war scharf, wir schmissen Flaschen – kein Zuckerglas – krachend gegen ein altes Eisentor, trugen bei kleinen Verletzungen stolz unsere Pflaster und K. mußte vor jeder Vorstellung zwei große Cola trinken, um dann erfolgreich in einen Blecheimer hinten in der Ecke zu schiffen. Ein herrlich wahrhaftiges Geräusch. Wir betrieben ein bisserl Hardcore Method Acting. Echte Tränen waren die Meßlatte. O. wollte das so und wir machten gerne mit. Grenzwertig? Haben wir nie drüber nachgedacht. Warum auch.

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„Ich erinnere mich, erinnere mich deutlich der Nacht, in der ich Mira mit der Axt den Kopf spaltete. Mitten ins Hirn der schlafenden Mira schlug das Beil. Die alte Vettel Jorobabel lief herbei und sammelte die weißen Gehirnfetzen auf, als wollte sie den Kopf ihrer Freundin zusammenflicken. Ich bereue nichts. Heute ist es mir gleich. Und sie sagen ich hätte kein Herz, das ist nicht wahr. Aber im Mai wurde Hochzeit gemacht.“

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Das war die Geschichte des Speckhut: Ein armer Vaquero, eine Art brasilianischer Woyzeck, hatte im Eifersuchtswahn seine junge Frau erschlagen, weil sie es, arm wie sie waren, für dringend nötiges Geld mit dem Großgrundbesitzer trieb. Der Erzähler, ein Art Reinkarnation des Mörders, verdiente sein Geld als Zuhälter und damit, als eine Art theatrale Buße, mit seiner Truppe von Wanderschauspielern die Geschichte der Tat immer und immer wieder zu erzählen. Ike, wie wir sie alle nannten, war bei dieser Produktion Dramaturgin und Protokollantin und schrieb auf die Geschichte unseres Versuches die Geschichte zu erzählen in diesem heißen, verwirrenden und verwirrten, euphorisch schmerzlichen Sommer 1982, ich dem ich einiges gewann und viel verlor. Noch eine Geschichte. Hier im Rahmen der Eitelkeitsgymnastik noch ein Ausschnitt aus Ike’s Bericht.

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„Christian, der Erzähler. Ein langer, dünner Kerl mit tief in den Höhlen liegenden Augen und einer weit vorstehenden, zweimal gehökerten Nase. Wie ein Geier. Er hielt sich, weil er so lang und dünn war, nach vorne gebeugt. Als wollte er uns in seiner Kleinheit entgegenkommen und sie uns nicht spüren lassen. Ihn anzuschauen stimmte uns alle gleich weicher. Sein Körper beschrieb eine Kurve der Anteilnahme. Er war die Seele der Gruppe. Alle wollten mit ihm befreundet sein. Sein schulterlanges Haar hing ihm wie einem nassen Reiher vom Kopf. Als Erzähler war er der Einzige im Stück, der eine durchgehende Rolle hatte. Und er konnte, wie ein Reiher, einfach stillstehen und dabei immer durchsichtiger werden, als wäre er ein Teil der Umgebung. Lemmy hatte ihm aus irgendeinem Grund einen langen, schwarzen Ledermantel mitgebracht, in dem er wohl selbst rumgelaufen war. Christian sollte ihn als Kostüm tragen, zumindest für die Proben, aber er zog ihn nicht mehr aus.“

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PS: Ike schrieb dann unter vielen anderen auch ein Buch über die Erinnerung an ihre Studienjahre in einer kleinen häßlichen Stadt in Mittelhessen. Hätte mir damals jemand prophezeit, daß ich dort mal landen würde, vielleicht hätte ich die scharfe Axt geworfen. Damals.

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(wird fortgeschrieben)

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bagatelle siebzehn oder Vom selbstkritischen Wochenbeginn im Februar ’21

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Früher früher früher ja

War’s immer besser dadada

So braucht man nicht vom Früher weder

Sprechen auch nicht richten

Über die Momente

Diesen jeden Augenblick

Hals gedreht nicht auf zurück

Die durchlebte man mitnichten

in Gedichten

Nur in selbiger Sekund‘

Die vor ei’m stund

Der Zeitstrahl noch gericht‘

Nach vorn

Den Reim

Der Esel im Galopp verlor’n

Hat statt

Bagatellen und dem steten

Früher früher dadada

War’s immer besser jajaja

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PS: Danke Peter Handke für den Gedanken und Wolfgang „Kein Schlaf bis Hammersmith“ Welt für die Verwurstung

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Wenn der Anu Branco wüßte …

… wie teuer die Liebe sein mag

Ich wette nie würde er singen

Nie wieder wecken den Tag

(Teil 1)

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Der Sommer des Jahres 1982 war, wie man in den wesentlichen Almanachen nachlesen kann, ein warmer und sehr sonnenreicher. Und einer der früh begann und spät endete. Als hätte er geahnt, was auf ihn folgen sollte, streckte er die Dauer seines freundlichen Regiments so gut es ging bis in den Oktober hinein. Schon Mitte März stand ich mit bloßem Oberkörper auf dem Flachdach einer stillgelegten Druckerei in einem Hinterhof der Kölner Luxemburgerstraße. Als vollwertiges Mitglied der „Brigade Dach und Boden“ – ja, liebe Kinder, so etwas gab es damals auch im Westen der BeErDe – versuchte ich unter der Anleitung eines richtigen Handwerkers – der konnte alles, sein einziges Manko war, er kam von der Schääl Sick, schlimmer noch: aus Leverkusen – zusammen mit 3 oder 4 anderen Kollegen besagtes Flachdach mit Teerpappe und röchelnden Flammenwerfern halbwegs dicht zu kriegen. Wir, das waren Schauspielschüler der damals kölnweit legendären Schauspiel – Lehrwerkstatt e.V. – kurz und knapp und ab hier: der SLW. Unsere Bemühungen sollten nicht von Dauerhaftigkeit gesegnet, denn kaum trat der lange Sommer 82 ab und machte kräftiges Tiefausläufern und der sogenannten geistig moralischen Wende Platz, regnete es rein in unsere selbst ausgebaute Theaterfabrik und bald darauf mußten wir weiterziehen, in das damals kölnweit nicht weniger legendäre Stollwerck.

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Wie kommt nun ein Schauspielschüler aufs Dach und versucht es zu decken? Ich hatte im September 1980 meine Ausbildung zum Schauspieler an der dem Theater Der Keller angegliederten Schule begonnen. Nach wenigen Wochen dort erkrankte die Theater – und Schulchefin – eine durchaus machtverliebte Dame, welche das Institut etwas altbacken führte, ziemlich schwer. Da abzusehen war, dass ihre Abwesenheit länger dauern würde, übernahmen unsere Lehrer die Verantwortung in einer Art Kollektiv und haben den Laden so nebenbei innert kürzester Zeit in Sachen Kommunikation und Führungskultur kräftig durchgepustet. Uns Schülern gefiel das, waren wir doch in wesentliche Entscheidungen miteingebunden. Zu Beginn des nächsten Jahres kehrte die Chefin zurück, schaute sich um, war entsetzt und wollte sogleich die Uhr zurückdrehen und zudem den einen oder anderen der aufsässigen Lehrkräfte zum Teufel jagen. Das gefiel uns allen nicht. Eine Vollversammlung jagte die andere. Ergebnis: praktisch alle Lehrer und alle Schüler standen auf, verließen die Schule und gründeten eine neue, eben die SLW. Unterschlupf fanden wir – die damaligen Chefs des Schauspiel Köln J. Flimm und V. Canaris unterstützen uns gerne – zuerst auf nicht genutzten Probebühnen der Bühnen der Stadt Köln, in der Roßstraße und am Ubierring. Dies nur für die Eingeweihten. Gelegentlich, wenn das Wetter es zuließ, hielten wir den Unterricht schön öffentlich auch im Volksgarten in der Kölner Südstadt ab. KStA und EXPRESS schaden ja nicht, wenn die vorbeikommen und berichten. Dann fanden wir für ein knappes Jahr eine Heimstatt im Druckhaus Deutz, gründeten dort das Theater Deutzer Freiheit, brauchten wir, da wesentlicher Bestandteil der Ausbildung Projektunterricht war und unsere Ausbilder meinten, man könne gar früh genug dem Löwe Publikum ins geöffnete Maul schauen. Als Anfänger durfte ich den älteren Kollegen bei den ersten Projekten die Requisiten bringen und das Bühnenbild abräumen. Ehrenvolle Aufgaben. Dann mußten wir Anfang 1982 raus aus dem Druckhaus. Große Bauvorhaben der Stadt ante portas. Heute steht da die Köln Arena. Und wir zogen um, ein drittes Mal, ließen Ausbildung Ausbildung sein für zwei oder drei Wochen, teilten uns auf in Brigaden und schufen ein Theater, Probenräume und auch das ein oder andere Verwaltungszimmer.  Um die Ecke, im Luxemburger Wall wohnte einer unserer Lehrer. Dessen Küche wurde Kantine. Und es ward Sommer, wir feierten ein großes Einweihungsfest und – unsere Klasse, die E – war nun dran mit einem Theaterprojekt. Die Proben begannen.

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„Speckhut“ hieß das Stück. (PS: Unbedingt die Leseprobe anklicken!) Regisseur war O., so ein bisserl der Guru unter den Lehrkräften, im Übrigen alles Regisseure und / oder Regisseurinnen, die nicht nur an der SLW arbeiteten, sondern regelmäßig am Theater Regie führten. Deshalb „Werkstatt“: die Praxisnähe. Those were the Zeiten. O. also, dessen Gunst zu genießen vielen, vor allen den weiblichen Mitgliedern der E durchaus wichtig war, gut, auch ich war nicht gefeit davor zu buhlen, hatte dieses nur einmal in der DDR aufgeführte Stück ausgegraben und bearbeitet. Armes Theater aus Brasilien. Armes Theater über arme Leute. Für arme Leute. Ich sollte spielen den Erzähler.

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„Nein, wir machen weiter! Was wir hier und heute spielen, ist etwas, was wir noch nicht wissen können, was noch geschehen wird, etwas aus der Vergangenheit, was nicht vergangen ist, was nicht vergangen sein kann, das spüren wir genau. Was, so vergangen es sein mag, noch nicht, noch immer nicht angekommen ist. Wir sind in unserem Hochland so etwas wie Gespenster, die kommen auch nur einmal, und dabei kommen sie zurück.“ Das hätte ein Christian 1982 auf einer Probe gesagt, auf einer Durchlaufprobe von „Speckhut“, in einem Hinterhof an der Luxemburgerstrasse im Köln des Sommers 1982, als der Regisseur den Durchlauf unterbrach und das Ganze von vorne beginnen wollte. Woher ich das weiß? Es gibt ein Buch über diesen ganz besonderen Sommer.

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(wird fortgeschrieben)

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Die Zivilisation ist ein dünner Firnis, darunter brodelt die Barbarei (27.1.1945)

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Verfall

Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,

Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,

Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,

Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten

Träum ich nach ihren helleren Geschicken

Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.

So folg ich über Wolken ihren Fahrten.

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.

Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.

Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,

Indes wie blasser Kinder Todesreigen

Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,

Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.

(Georg Trakl)

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Der Firnis namens Zivilisation ist doch recht dünn und rissig. Auch 76 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee der damaligen Sowjetunion schadet gelegentliche Erinnerung nicht. Ach, nötiger denn je ist sie. Genau so wenig schadet uns die Selbstbefragung. Es ist nie zu früh in den Spiegel zu blicken.

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„Du kannst tun, was du willst, du kommst von Auschwitz nicht mehr los

Gesetzt, du wärst nach Auschwitz kommandiert worden, was hättest du dort getan? Nein, sage nicht, die Frage sei unsinnig, da du ja eben nicht dort gewesen bist …

Und es brauchte ja nicht Auschwitz zu sein, nur eine Handvoll Morde, und auch gar nicht im Krieg, nur in der Kristallnacht, und auch nicht eine Handvoll – ein einziger

„Aber ein Kind hätte ich nie getötet …“ Du siehst dich mit einer großen Gebärde vorm Ofen stehen und einen Befehl verweigern und dich in die Flammen stürzen … So träumen Zwölfjährige von Heldentaten …

In diesem „Ich nicht! – Ich nie!“ schaudert die Menschheit in dir, und ihr Schaudern ist auch dein bestes Teil. Doch mit ihm allein kommst du nicht weiter, denn dieses Schaudern schließt dich nicht ein

In diesem „Ich nicht! – Ich nie!“ brüllt der Andere auf, daß er nie dieser Eine gewesen sei, und in dieser Form ist er dieser Eine ja auch nicht gewesen. Ohne dieses „Ich nicht!“ könnte der Andere nicht leben; aber mit diesem „Ich nicht!“ kann er den Einen nicht erkennen und also auch nicht überwinden

Dieses „Ich nicht! – Ich nie!“ ist ein menschliches Grundrecht, und wer es nie gestammelt, wäre ein Stein. Aber in diesem „Ich nicht! – Ich nie!“ lebt auch die romantische Auffassung vom geistig – moralisch souveränen Individuum fort, und damit sind die Bewegungen dieses Jahrhunderts nicht erfaßbar … Nicht das ist der Faschismus: daß irgendwo ein Rauch nach Menschenfleisch riecht, sondern daß die Vergaser auswechselbar sind“

(aus Franz Fühmann Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens)

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Untergang

Ueber den weißen Weiher

Sind die wilden Vögel fortgezogen

Am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind

Ueber unsere Gräber

Beugt sich die zerbrochene Stirne der Nacht,

Unter Palmen schaukeln wir auf einem silbernen Kahn.

Immer klingen die weißen Mauern der Stadt.

Unter Dornenbogen

O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht

(Georg Trakl)

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