Wo ist die Zeit? / Leere Räume sollten leere Räume sein / Peter Brook ist tot

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Gotha / Ekhof – Theater / 7. Oktober 2021

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Zwei Meister waren mir Vorbild als Theaterschaffender. Der große Grummler George Tabori: „Und wenn Du mit Deiner Aufführung nur eine Seele im Publikum berühren konntest, hat sich Deine Arbeit gelohnt.“ Und der nun verstorbene Peter Brook: „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.“

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Eines meiner beeindruckendsten Theatererlebnisse: 1983 Staatstheater Stuttgart. Gastspiel von Brooks Inszenierung. „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte.“ Vier unfaßbar gute, weil auf das Wesentliche reduziert inszenierte Schauspieler. Ein Musiker. Der Raum: ein Teppich. Zwei Stühle. Zwei Lampen. Ein Kleiderständer. Gehirne, denen man beim Denken zusehen durfte. Körper, die Erkenntnisse abbildeten. Im leeren Raum. Es zumindest versuchten. Er ließ sie machen. Ein großer Meister.

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Sein Hauptwerk „Der leere Raum“ habe ich bestimmt dreimal gekauft und noch öfters verliehen. Nie zurückbekommen. Muß wohl ein gutes Buch sein. Heute sind leere Räume selten. Hektische Projektionen überfluten sie. Setzen das Denken unter Wasser. Scheinemotionale Videos erzeugen Nähe aka Enge und kleistern die Türen der Erkenntnis zu. Es quillt so manches über. Die Flüße trocknen derweilen aus. Zurück zur Windmaschine!

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Will ich herausfinden, ob zum Beispiel ein Italiener einen mehrmaligen Besuch wert ist, bestelle ich beim ersten Mal eine Pizza Margherita. Oder Spaghetti Bolognese. Der Rest erledigt sich von selbst. Legt aber eine Grieche eine Orangenscheibe neben die gebratene Leber, muß ich leider aufstehen. Große Lieder auf kleinen Tellern servieren ist Blödsinn.

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Wo ist die Zeit? / 1. FC Delius / März ’88

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Friedrich Christian Delius / In den späten Sechzigern / geklautes Photo

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Münster im Jahre 1988. Wir wussten alle nicht, daß die BRD bald Geschichte sein würde. Es war ein sehr warmer März. So eine Art Vormärz des Wandels. Wir probten ein Vier – Männerstück. Waschtag. Ich gab (was für ein bescheuerter Theaterausdruck!) die oberste Nazi – Jugend – Tucke Baldur von Schirach. Der Autor und sein Freund / Lektor / Verleger – ich erinnere es nicht mehr präzise – waren in den letzten zwei Wochen vor der Premiere vor Ort. Der kürzlich verstorbene Friedrich Christian Delius. Ein ruhiger, freundlicher, nie laut auftrumpfender Mann, der uns den ein oder anderen Fingerzeig gab, aber vor allem mit Freude und respektvoller Distanz zusah, wie wir mit großem Spaß, Hingabe, gelegentlichem Streit (und das mit … ähem … darf man das heute noch sagen ohne einen Haschischtag oder wie das heißt an den Hals gemailt zu bekommen … sogar durch den Probenraum fliegenden Stühlen) versuchten sein Stück auf die Bühne zu setzen. Wir wuschen Bettlaken, wrangen sie aus, mangelten sie, bügelten sie, falteten sie. Von Mann zu Mann. Alles live und in Farbe und mit echtem Wasser und Waschpulver. Und eine Miele spielte auch mit. Inklusive Schleudergang.

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Wo sich viele Herren treffen ist das Ritual nicht fern. Also wechselten wir zwischen den Proben stets die Straßenseite und aßen vis a vis vom HBF Münster, wo sich damals das Wolfgang Borchert Theater befand, bei einem Stehitaliener unsere Pizza und einen kleinen Vino Rosso gab es auch dazu. Den beglich gerne der Autor. Über das Theaterstück oder die Weltlage sprachen wir dabei selten. Wie schon das Namenskürzel F.C. Delius vermuten lässt: genau, stundenlang über den Fußball. Ich war damals noch, in Köln wohnend regelmäßig zu Gast im Müngersdorferstadion. Der große Toni Schumacher war zwar eben – ne, wat wor et lächerlich – wegen seiner literarischen Ersterscheinung rausgeworfen worden – aber der Kader war durchaus noch illuster. Fanden wir alle. Und nach Gründen zu suchen, warum dat unter Daum mit der Meisterschaft nie klappen würde: das füllte der Herren Mittagspause in Gänze.

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„Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“ Der Gedenkstein des Erinnerns schlechthin für unsere inzwischen verstorbene Republik, die sich damals aus dem Hintergrund zurück in die freie Welt schoß. Jahre nach unserem Zusammentreffen beschenkte F. C. Delius sich und uns mit dem schönsten Fußballbuch aller Zeiten. Ich habe es, glaube ich, mindestens fünfmal gekauft und besitze es nicht mehr, weil ich es stets weiterverschenkte. Ich war 1954 minus 2 Jahre alt. Oder plus 2 Jahre jung?

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Man zählte und zählt in den obligatorischen Rückblicken Delius zu den 68ern (Gab es die überhaupt?), aber attestiert ihm immer diese distanzierte Draufsicht. Das ist wohl die Aufgabe der Chronisten, hinschauen und nicht, was man so sieht, wenn man schaut, mehr oder weniger gewalttätig in sein eigenes, mühsam erworbenes Weltbild reinzuschustern. Fällt mir noch ein: Schuster, einer der besten und verrücktesten Kicker überhaupt! Aber das führt jetzt zu weit, war aber oft Thema bei der Mittagspizza! Eigentlich waren wir aber alle Anhänger der unglaublichen Eleganz des Klaus Allofs.

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Und einen Skandal hätte ich auch noch zu vermelden. Unser Bühnenbildner Bob (Nachname ist mir verdementet) schuf ein wunderbares Plakat. Das Logo der Nazis an einer Litfaßsäule, halb heruntergerissen – waren es wild gewordene Jugendliche oder nur der Regen? – und dort wo das Hakenkreuz schlapp in der Luft hing, erschien drunter das Logo von Coca – Cola, den Rettern der Demokratie und den Erfindern des Weihnachtsmannes. Wer glaubt, wird beschenkt. Das war die böse Idee. Und die Farben? Tja. Rot Weiß Schwarz. Eine emotionale Kombination. Dummerweise war die damalige (vielleicht noch heute) Gefährtin unseres Regisseurs und Intendanten die Tochter des Chefs von Coca – Cola NRW. Aber lesen Sie selbst.

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Ich denke gern an die Jahre in Münster zurück. Letztes Jahr war ich kurz mal wieder dort. Und nach dem Baldur von Schirach spielte ich … quatsch … gab ich den BAAL. Der nächste Aufruhr zu Münster. Davon demnächst.

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Antiquariat Michael Solder / Münster (Westfalen) / Mein rechter Daumen / 17. Juni 2021

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Wo ist die Zeit? / Damals in den letzten Tagen des Monats Mai 1983 zu Padova

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Platini (natürlich nicht, sondern Aleksandar Ristić, siehe unten) / Magath / Happel / Netzer in den letzten Tages des Mais 1983 bei einer Weinprobe

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Es war einmal ein Pizzabäcker. Er hatte drei Töchter. Eine schöner als die andere. Zwischen 16 und 22 wallten lange schwarze Haare, blitzten verwegene Augen und lachten Zähne, perlweiß und trugen geschickte Hände mondgroße Pizzen an die Tische. Wobei, so viele Gäste waren gar nicht vorhanden in dieser kleinen Pizzeria in Padova. Nur sei tedesci. Und ein paar Verwandte und Nachbarn des Pizzabäckers. Eben hatte, unter verhaltenem Jubel der Tedesci, die eben erst Platz genommen hatten als Gäste, ein Glücklicher aus dem Norden aus etwa zwanzig Metern Entfernung einen Medizinball ins Gehäuse der Alten Tante gewuchtet. Im fernen Athen. Daraufhin wurden sie wütend, die Balltreter aus der italienischen Autostadt und berannten das Gehäuse der Anderen. Vergeblich. Der Pizzabäcker trat an den Tisch der Tedesci. „Ragazzi? Come il Numero Uno?“ „Stein!“ Das war die Antwort! „Ä? Come il Numero Uno di Hamburgo!“ „Stein! Uli Stein!“ „Rispetto! Fantastico!“ Eine der drei Schönheiten trat an den Tisch der Gäste, man hatte die ganze Zeit wild hin und her geblinzelt, und sprach die Pizzen servierend: „Aspeta Papa. Paolo Rossi.“ Einer der Pizzaesser am deutschen Tisch, meine ich mich zu erinnern, warf ein zaghaftes „Aspeta, Bella. Horst Hrubesch!“ Gleich darauf spürte er die Faust seiner Freundin in den Rippen.

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Früh um fünf waren wir losgefahren in Köln. Der romantisch klapprige Ford Transit war vollgeladen. Drei Schauspieler, eine Schauspielerin, die Regisseurin und meine damalige Liebste, mit mir in derselben Klasse der Schauspielschule, aber diesmal gebucht als „Junge Frau für ALLES“. Licht. Ton. Soufflage. Inspizienz. Gute Laune. Kartenlesen. Im Fond ein paar zusammenklappbare Bühnenelemente. Holz. Ein paar Kostüme. Eher Lumpen. Requisitenschwerter. Eine alte Gitarre. Mehr braucht Theater ja auch nicht. Und das Wollen halt.

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Was wir spielen sollten? Wollten? Ein Stück von „Ruzante“. Ich habe den Titel vergessen. Es ging um Liebe, Krieg und alles andere. Rüpeltheater. Bauerntheater. Ich spielte den Rüpel mit dem großem Maul, der aber ständig auf selbiges kriegte. Ich glaube, weiß es aber nicht mehr, wir reisten im Auftrag des italienischen Generalkonsulats zu Kölle. Der Katholik an sich hält ja zusammen. So von schwatt zu nero.

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Gegen frühen Nachmittag erreichten wir Padua. Parkten auf dem Hof des altehrwürdigen Theaterbaus. Niemand war da, außer einem einsamen, rauchenden und Kreuzworträtsel lösenden Pförtner. Warum sind die Türen alle chiuso? Scusi. Grande Problema. Generalstreik. Wo sind die Techniker? In der Bar vis a vis vom Musentempel. Ich wurde losgeschickt, da ich bei der Vorbereitung damit angegeben hatte, ich könne … ähem … italienisch. Bin ja auch an der Grenze zur Schweiz aufgewachsen. Siehe oben. Chiaccherione.

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Da saßen sie. Die zwei Technici. Espressi. Vino rosso. Fumare. Bella figura. Trotz Hausmeisterkittel. Geht so nur in Italia. Buon giorno und so. Ich, also wir, das teatro tedesco, dings, ausladen, aber teatro chiuso, grande problema. Oggi una prova necessario. Domani … show. Antwort: Non ce niente che possiamo fare. Oggi scipero generale. Hä? Nix dürfen mache! Ah! Super. Generalstreik auf italienisch. Zweiter Versuch: Scusi, carissimi signori. Scipero generale finito? Quando? Antwort: In serata. Pause. Ob ich auch einen Rotwein wolle. Naturalmente. Geistesblitz. Sono compagno. Genosse. Communista. Teatro politico. Ruzante. E in serata: calcio! Hamburgo. Torino. Da lächeln sie, die zwei Bühnentechniker. Stolz überquerte ich – zu dritt – die strada. Die Türen wurden uns geöffnet. Ausladen und Bühne einrichten mußten wir selber. Und ein hastiger Durchlauf wurde auch noch gestemmt. Licht machen wir halt morgen. Kurz vor Anpfiff checkten wir ein in unsere Pensione. Den Göttern Dank: direkt gegenüber eine kleine Pizzeria mit Televisione. Siehe oben.

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Warum das alles? Heute abend Magath und der HSV. Man trifft sich immer zweimal im Leben und so. Gefällt mir. Bin aber für den HSV. Mein liebes St Pauli war ja letztes Jahr schwer auf Kurs. Dieses Jahr halt nur ein Tja. Schrieb ich doch – als Prophet – unlängst in anderem Zusammenhang:

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„Ich muß aufräumen. Du kannst sitzen bleiben. Da draußen vor der Tür!“

Einige Pauli – Fans torkelten vorbei. Der Aufstieg in die erste Liga mußte gefeiert werden. Auch wenn er gar nicht stattgefunden hatte.

„Noch einen Grappa? Dann trinke ich einen mit!“

(Hamburg / Januar 2022)

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Ein Lied noch zu den letzten Tagen des Mais. Die Pizzen einst in Padua waren unfaßbar. Wir Jungs waren am Ende recht trunken. Die Grappe auf Felix. Ein bisserl peinlich waren wir auch. Der Stielaugenblues. Aber unsere Frauen haben uns sicher ins Bett geleitet. Wie et halt so iss im Leeve. Und gestern? Glückwunsch Attila. Hoffe der Streich hätt‘ au zug’schaut.

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PS: Habe eben eine Mail erhalten. Ein aufmerksamer Leser, früher selber in der Presse tätig, machte mich darauf aufmerksam, daß da nicht Platini mit dem Henkelpott steht, sondern eben der Ristic. Eigentlich logisch. Danke nach Krofdorf, lieber Norbert.

Anna Blume, Du heraus bitte zum ersten Mai im roten Gewand, da wir die Revolution noch liebten ohne die große Angst, sei mein Gedicht Du heute

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Kiel / Förde / Fundstück / September 2021

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An Anna Blume

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O du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich liebe
dir! – Du deiner dich dir, ich dir, du mir. – Wir?
Das gehört (beiläufig) nicht hierher.
Wer bist du, ungezähltes Frauenzimmer? Du bist – – bist
du? – Die Leute sagen, du wärest, – laß sie sagen, sie wissen
nicht, wie der Kirchturm steht.
Du trägst den Hut auf deinen Füßen und wanderst auf die
Hände, auf den Händen wanderst du.
Hallo, deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt. Rot
liebe ich Anna Blume, rot liebe ich dir! – Du deiner dich dir,
ich dir, du mir. – Wir?
Das gehört [beiläufig] in die kalte Glut.
Rote Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?
Preisfrage:  1. Anna Blume hat ein Vogel.
                     2. Anna Blume ist rot.
                     3. Welche Farbe hat der Vogel
Blau ist die Farbe deines gelben Haares.
Rot ist das Girren deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du liebes grünes
Tier, ich liebe dir! – Du deiner dich dir, ich dir, du mir, –
Wir?
Das gehört [beiläufig] in die Glutenkiste.
Anna Blume! Anna, a-n-n-a, ich träufle deinen Namen. 
Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.
Weißt du es Anna, weißt du es schon?
Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du 
Herrlichste von allen, du bist von hinten wie von vorne:
“a – n – n – a”.
Rindertalg träufelt streicheln über meinen Rücken.
Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir!

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(Kurt Schwitters)

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Fiel mir dieser Tage wieder in die Hände. Schwitters. 1974. Erinnerungen. Als angehender Abiturient nahm ich teil an einer „FLUXUS – GALAXIS“ unter Leitung des damals in Konstanz, später der Hauptstadt, legendären „Alleskünstlers“ Frieder Butzmann. Die Ursonate rezitierten wir auch. Und lasen aus dem Konstanzer Telefonbuch. Parallel dazu spielten zwei Bands und ein Kammermusik – Quartett inklusive Ballett – Tänzerin. Und eine Republik wurde auch noch ausgerufen. Das alles im Foyer der damals noch recht neuen Uni der Stadt. Die paar Steckdosen, die uns der Hausmeister zur Verfügung gestellt hatte, waren hoffnungslos überfordert und nach kurzer Zeit lag der gesamte Eingangsbereich der Lehranstalt im Dunklen. Herrlich. Ich glaube, das war mein erster Auftritt in Sachen Künste.

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Die, die wir immer schon wußten Bescheid, werden auch nicht mehr jünger 

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Aus der FAZ vom 28. April 2022 / Titelseite / Unser alter Genosse Schröder gießt / 1993

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Also saßen wir heute in der Kneipe.

„Und den habe ich damals gewählt!“

„Ich auch!“

„Wenn ich das gewußt hätte!“

„1998?“

„Der hat während seines Interviews mit der NY – Times 3 Flaschen Wein gesoffen!“

„Wer sagt das?“

„Stand in der Zeitung!“

„Warst Du nüchtern damals, als Du den gewählt hast?“

„Sonst wäre der Kohl doch heute noch Kanzler!“

„Oder trotzdem tot!“

„Aber, was der jetzt so treibt!“

„Lebst Du Dein Leben noch nach vorne oder auch schon seit Jahren als Rückwärtsschwimmer?“

„Was ist denn noch morgen?“

„Heraus zum ersten Mai!“

„Soll regnen. Bei etwa 12 Grad!“

„Mist. Gehen wir halt einen trinken. Kommt der Gerd auch?“

„Vielleicht. Boris ist verhindert.“

„Weiß ich. Aber war schon cool damals.

„Boah. Und den hab ich gewählt!“

„Jeder Mensch ist mal alleine!“

„In der Wahlkabine?“

„Nicht nur. Sondern auch!“

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Tja, die Zeit! It was 50 years ago today!

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Breitner sehr hübsch. Breitner sehr einsatzfreudig in den ersten Minuten. Und Gordan Banks. Colin Bell. Passt zu Moore. Beckenbauer. Und Einwurf. Für die britische Mannschaft. Die Engländer. Shivers gegen Schwarzenbeck. Maier. Aber dazwischen war Höttges. Einwurf für die Engländer. Und Sepp Maier. Gut daß der Münchner gleich am Anfang stark ist. Schwarzenbeck. Hoeneß. Beckenbauer. Die stören sich gegenseitig. Schwarzenbeck. Colin Bell gegen Wimmer. Sieger bleibt Wimmer. Peters zum ersten Mal am Ball. Maier. Sicher. Er sagte gestern, als wir bei ihm waren: Haltet uns die Daumen, ich hab’s nötig. Doppelpassversuch nicht ganz geglückt. Alan Ball. Aber Wimmer bleibt bei ihm. Bobby Moore, der Captain. Und wieder Sepp Maier. Hoeneß. Sehr schön gemacht. Und von Norman Hunter abgewehrt. Grabowski. Müller. Netzer. Weit zurückhängend. Müller. Zu kurz? Aber nein. Einwurf für die deutsche Elf. Shivers. Ein Meter zweiundneunzig. Und Beckenbauer. Und Foul. Und so weiter.

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Konkrete Poesie. Karg. Dienend dem Geschehen. Wir waren die Grünen. Damals schon. Als es noch tiefe Räume gab. Sind die heutigen Zeiten flacher? Geworden? Mein Idol war Held.

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Breitner mit seinen 23 Jahren braucht solche Szenen. Sie geben ihm Selbstvertrauen. Maier. Grabowski. Leider niemand da. Die Verletzten Vogts, Overath, Schnellinger. Sie sind aber alle gut behandelt worden. Netzer jetzt mit mächtigem Schritt. Und da hat Gordon Banks Glück gehabt. Hier die Wiederholung. Netzer gegen Moore. Wimmer. Hoeneß. Und Tor. Eins zu null für die deutsche Mannschaft. Nach fünfundzwanzig Minuten Spielzeit. Genauer gesagt in der sechsundzwanzigsten Minute. Hier die Wiederholung. Keine gute Leistung von Banks. Und das lässt die Gedanken zurückgehen an das Finale in Wembley 1966.

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Ein ruhiger Fluß des Erzählens. Dem körpereigenen, pubertären (und auch erwachsenen) Adrenalin freundlich entgegensteuernd. Damals. Die Grünen haben dann gewonnen. WIR! Das erste Mal im Tempel Wembley. Und mein Vater mußte seine Hausschlappen nicht in Richtung Fernsehappparat schleudern. Ich war noch nicht ganz sechszehn. Ich erinnere mich gut.

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Gestern war die Eintracht aus Frankfurt zu Besuch in London. Auch nicht schlecht. Aber wer knebelt den Moderator? Ich schaue lieber ohne Ton. Muß ich eh. Weil meine Frau früh aufstehen muß und unsere kleine Wohnung dünne Wände hat. Gut so.

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Nachklapp vom 1. Mai 2022: Erhielt eine lobende Mail zu diesem Beitrag. Absender ein einst in Gießen und bis an den Main weltbekannter Kolumnist in Sachen Sport, Gott und Welt. Oder andersrum mal auch. Schrieb ihm eben, das wichtigste und herrlichste Wort aus obiger Übertragung habe ich vergessen zu erwähnen. VORSCHLUSSRUNDE! Deutschland hat die Vorschlußrunde erreicht. Vorschlußrunde! Wie schön! Ein letztes Mal: Vorschlußrunde! Zeit sich wieder mal mit zum Beispiel Novalis zu befassen und unserer Sprache die Ehre zu erweisen. Wie auch immer.

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„Niemand glaubt mir, nicht mal ich!“ (Rammstein)

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Die nahende Rente. Die Untätigkeit. Die Nachwirkungen der weiter umherschleichenden Pandemie. Diverse unangenehme Mondknoten. Die grauenvollen Zeitläufte. Da hadert man gerne. Mit sich. Den Anderen. Kurz: der ganzen Welt. Oder kramt in der Hoffnung auf gelegentliche Milderung in alten Pappkartons. Meist findet man das immer gleiche. Das Leben ist ein Karussell. Manchmal sogar eine Falle, die man sich selber stellte.

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Dies denkend, höre ich im Radio – Rockantenne aka die alten Pappkartons und der immer gleiche Inhalt – das NEUE Album von Rammstein. Zeit. Wo ist sie hin, wie ich vor zwei Tagen hier schrieb. Ich mag das Pathos der Herren. Die Selbstironie. Und die versteckten Anspielungen. Und die Visualisierung in banaler Härte dieses ewigen Bubenwunsches: zurück in den Mutterleib. In jenen Momenten der Tiefe und Größe.

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Gestern landete ein bestelltes Buch bei mir. Ich nahm es in die Hand und inhaliere es seitdem. Bernd Wagner: Verlassene Werke. Vor einiger Zeit (sic!), aber nicht sooo lange her, schenkten mir die Veranstalter einer Lesung im Gießener Büchnerclub, ich sang und rezitierte Gerhard „Gundi“ Gundermann, ein Buch von Bernd Wagner. Ich glaube: Die Wut im Koffer. Reichte ich dann an meinem alten Freund Thomas weiter und er fand mehr und mehr von Wagner. Noch begeisterter als ich. Wir kannten ihn beide nicht. Eine Entdeckung. Nun dieser NEUE 600 Seiten – Wälzer. Verlassene Werke. Aufzeichnungen aus den Jahren 1976 bis 1989.  Erstes Zitat: „Die DDR hat den totalen Sport erklärt! Schweigen ist Silber, Reden ist Gold. Die heiligen Kühe sind die zähesten.“

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Zweites Zitat: „Verlassene Werke sind wie gewisse Steine an den Meeresküsten. Man kam von weit her, hob sie auf, schleppte sie ein Stück mit, man warf sie zurück in die See. Denn unter ihnen war nicht der richtige, der Urstein. Doch einmal lagen sie in der Hand, einmal wurden sie betrachtet. Ihre Unschuld ist dahin, sie können nicht zurück in die Anonymität. Sie gehen umher wie Geister und leben hinter geschlossenen Augen, unerlöst.“ (Bernd Wagner)

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Nein. Erlösung wird man nicht finden. Wir sind keine Eidechsen, denen die abgefallenen Schwänze nachwachsen. Auch die dümmsten Gedanken müssen gedacht werden. Man kann sie zurück in die See werfen. Oder lässt sie am Strand rumliegen. Die meisten gehen vorbei. Vielleicht bückt sich einer. Gar eine. Was dann geschieht, lag mal in eigener Hand.

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Drittes und vorläufig letztes Zitat: „Was mich zum Schreiben zwing, weiß ich: Ehrgeiz, die blödsinnige und durchschnittliche Sucht mich zu zeigen. Was aber rechtfertigt es? Nichts. Weder bin ich über alle Maßen phantasievoll noch intelligent. Ich kann nur nicht anders!“ Nun denn, sprach ich und bückte mich. Ein stechender Schmerz. Auf meiner Mailbox der Rücken. Zurück zum Radio und dem näherrückenden Krieg.

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Wo ist die Zeit die Zeit die Zeit wohin

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Konstanz / Nikolai – Torkel / Linkes Fenster: Miete einen Tennisplatz / März 2022

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Wo ist die Zeit, die Zeit, die Zeit

Wo ist die Zeit, die Zeit, die Zeit

Wo ist die Zeit, die Zeit, die Zeit nur wohin

Wo ist die Zeit, die Zeit, die Zeit

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Und die Fenster muß man putzen und Amerika ist weit

Und Han Solo macht Besuch im Krankenhaus

Und wir kommen und wir gehen und bleiben immer da

Und das Leben spielt mal wieder Nikolaus

Und der Kranich sitzt auf seinem Pfahl, der Säntis winkt und schweigt

Auf den Brettern wird ein neues Stück erzählt

Auch wenn der Eine zetert, ein Andrer leis rumort

Ich hätte mir kein anderes erwählt

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Wo ist die Zeit, die Zeit, die Zeit

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(gießen / juni 2005 / zu singen auf diese melodie)

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