„Man sähe manches nicht mehr, sagte Hodriwitzka, wenn man jeden Tag den gleichen Weg ginge.“ (Monika Maron)

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Schloss Friedenstein / Gotha / Thüringen / Deutschland / Anfang Oktober 2021

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Anfang 1992 war ich das erste Mal in Magdeburg. Ich war Ensemblemitglied des LTT Tübingen. Die Magdeburger Kammerspiele waren das damalige ‚Freundschaftstheater‘. Falls man es so nennen darf. Unterwegs mit dem Intendanten, der öfters in der DDR gearbeitet hatte, und mit einem Fühmann-Text. Ein Solo. Ich weiß gar nicht mehr, ob wir eine Vorstellung hingekriegt haben. Es waren jene Tage, da die anfängliche Euphorie des Zusammenwachsens schon in sich zusammengebrochen war und die Hoffnung auf die blühenden Landschaften im Wesentlichen sich auf Marlboroschirme vor gut frequentierten Trinkhallen reduziert hatte. Nicht auf Theaterbesuche. Jedoch: Lübzer Pils war stets erhältlich. Die Zigaretten hatten zollfreie polnische Banderolen. Billigware. Was tun? Ich wollte mir den hiesigen Dom anschauen. Ging runter an die Elbe. Es roch schweflig. Gelbliche Schaumteppiche trieben vorbei. Die Chemie am Oberlauf war noch nicht stillgelegt. Tschechien schickte seine giftigen Grüße. Alte Genossen.

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Ein paar Monate später waren wir wieder vor Ort. Mit Ensemble. Ich spielte den eingebildet‘ Kranken. Moliere. Noch keine rechten Hotels. Umgebaute Parteischulen. Jugendheime. Recht frugale Unterbringung. Meine murrenden Kollegen. Lübzer war immer noch billig und tröstete sie über die fehlenden Komfortzonen hinweg. Ich floh an die Elbe. Konzentrieren. Den Jammerwessis entkommen. Kein Schaum. Das Flusswasser roch fast nach Wasser. Neben mir am Geländer ein Bürger der Stadt. Die Elbe da unten. Ich teile ihm meine Beobachtung mit. „Nu! Dafür bin ich ohne Arbeit!“ Sagte er.

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Habe das in den letzten Tagen hier oft erwähnte Buch von Ines Geipel zu Ende gelesen. Anstrengend, anregend, überraschend, irritierend teils. Ich weiß es nicht. So ist auch der Text montiert. Die Verzweiflung erinnert sich an alten Jubel und mag das Hoffen nicht aufgeben, welches dem kurzen Glück innewohnte. Sucht also, muss suchen, fast baggert schon, in Tiefen, Untiefen, trägt Halden ab, die sich im nächsten Moment wieder auftürmen, wissende Ratlosigkeit, händeringend. Wortberge. Wortschöpfungen. Ines Geipel ist an der „Busch“ seit langem auch als Professorin für Verskunst tätig. Verskunst! Man müsste dieses Wort noch zwanzigmal in steter Wiederholung hier hin tippen. Ein Verskunstbuch? Das liest man nicht so einfach weg. Neige selber gerne dazu Sprachlosigkeit mit den spekulativen Wortverkleisterungen für mich bisserl greifbar zu machen. Was gelernt.

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Geipels Hoffnung auf den letzten Seiten der Erzählung? Ihre neueste Schauspielschulklasse. Die Mischungen. Querverbindungen. Alles wissen zu wollen und dann wie der Ochs vor’m Berg stehen bleiben. Zusammen? Zusammen! Danach hilft nur die Fleißarbeit. Getriebene Gelassenheit.

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Was mich berührt. Die Mutter. Der Vater. Dresden. Meine Mutter. Dresden. Thüringen. Ihr Vater. IM. Mein Großvater. SS. Die Kriegskinder. Jahrgang 1935. All die Spielarten trüber Erinnerungssuppen. Lose Enden, die keine Schnürsenkel sind. Die nie werden können zur Verschlusssache. Kind! Sieh! So bindet man eine Schleife! Wer zuerst die Schleife gebunden, ist der Erste auf dem Schulhof. Die Geschichte fliegt rückwärts, wenn sie sich nach vorne bewegen will. Was tun? Es lohnt sich stets die Suche, ohne ein altes Ziel seiner Suche vorzeitig mit Ergebnissen beeindrucken zu wollen.

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Welches Lied heute hier? Einfach mal Mainstream. Zwei Brüder brauchen neues Geld und machen einen auf Wiedervereinigung. War einst der Soundtrack zu meiner ersten Ehe. Folgte eine flotte Scheidung. Brauchte lediglich 18 Monate von der intensiv fotografierten Euphorie der ersten Tage bis zur Erzählung ewiger Zerknirschung. Wann war das? Damals.

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Ein Brüderchen sagte dann über das andere Bruderlein: „Er ist ein Mann mit einer Gabel in einer Welt voller Suppe!“ Kann man machen. Oder?

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„Aber wer will dem Menschen sagen, was nach ihm kommen wird unter der Sonne?“ (Heilige Schrift / Prediger 6, 12)

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Vorgipfel / bei Pfronten im Allgäu / 14. Juni 2022

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Hoffe der Sommer endet in Bälde. 30 Grad im September machen mich traurig und mürbe. Warum nicht nur noch Milde, ein blasseres, müderes Licht? Die Kühle? Ein Frösteln? Das Abschiedswinken eines Septembers, der seine Vorgänger nicht übertreffen muss und eigene Geschichten erzählt?

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Heute von leichter Hoffnung. Es gab (und gibt sie hoffentlich noch) milde, sich der Lautsprecherei enthaltende Politiker. Eigentlich erst als Dichter entdeckt, diesen polnischen Sachsen, der in Thüringen studierte. Ilmenau.

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Gipfel 2

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Das ist dein Gipfel, höher gelangst du nicht mehr. Die Sonne, die den Zenit erreicht hat, wandert nur langsam. Unmerklich schwinden die Tage.

Du möchtest ausruhn, möchtest von deinen enttäuschten Hoffnungen abstehn, die du dennoch nicht aufgeben kannst, von all den Erfüllungen, die schal werden, wenn sie vorbeigehen. Du möchtest hier warten: Monate, Jahre, bis der Abstieg beginnt.

Aber du täuschst dich: Es ist nur ein Vorgipfel. Ein Kind kommt, und du musst aufstehn. Eine neue Pflicht fällt dir zu, und du entziehst dich nicht.

Keine Symmetrie kennt dein Leben. Und du siehst es den Wegen nicht einmal am Abendlicht an, daß es Heimwege sind.

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(aus: Uwe Grüning / Laubgehölz im November)

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Vielleicht mal so? Mehr Dichtende in die Parlamente, denen ihre Sterblichkeit bewusst und sie so den Wählern nicht ewiges Leben und Reichtum versprechen müssen. Menschen, die bereit, wenn nötig, zu gehen, Platzhalter für die, die ihnen folgen werden, wenn die wollen. Diener. Politik und Leben können nicht sein, werden und bleiben ein ewiger Rachefeldzug der vermeintlich Zukurzgekommenen. Da fröstelt es mir. Höret den Rio. Das ist ein Trostlied. Träume ich? Träume wütig als weider.

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„Das sogenannte Romantische einer Gegend ist ein stilles Gefühl des Erhabenen unter der Form der Vergangenheit.“ (Johann Wolfgang von Goethe)

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Auf Rügen / Nach einem Unwetter / Juli 2011

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Schwermut statt Depression. Als bekennender Romantiker Lebenslust und Verzweiflung in den morgendlichen Kaffee rühren. Jeden Tag aufs Neue. Den Humor auch den vermeintlichen Gegnern gestatten. Möglicherweise.

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Las eben, dass Caspar David Friedrich lange Zeit etliche seiner Bilder nach Weimar senden ließ. Der ewige Geheimrat hat sie aber noch nicht mal ausgepackt und unbesehen zurückgesandt. Da er angeblich wusste, dass das Romantische die Welt nicht fassen kann. Welche Welt? Wessen Welt ist die Welt? Derweilen stand er – sein Rücken am Arsch, dauerblau – an seinem Stehpult und schrieb sich getrieben und sehr laut in die Almanache aller ihm nachfolgenden Deutschländer.  Sehr schönes Interview.

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Die Schwermut

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Gewaltig bist du dunkler Mund

Im Innern, aus Herbstgewölk

Geformte Gestalt,

Goldner Abendstille;

Ein grünlich dämmernder Bergstrom

In zerbrochner Föhren

Schattenbezirk;

Ein Dorf,

Das fromm in braunen Bildern abstirbt.

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Da springen die schwarzen Pferde

Auf nebliger Weide.

Ihr Soldaten!

Vom Hügel, wo sterbend die Sonne rollt

Stürzt das lachende Blut —

Unter Eichen

Sprachlos! O grollende Schwermut

Des Heers; ein strahlender Helm

Sank klirrend von purpurner Stirne.

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Herbstesnacht so kühle kommt,

Erglänzt mit Sternen

Über zerbrochenem Männergebein

Die stille Mönchin.

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(Georg Trakl)

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Der Krieg kann einem das Schweigen beibringen. Oder die Geschwätzigkeit. Der Schwarze Hund ist nur eine der vielen Varianten des Kriegs. Und gerne Auslöser der letzten Gefechte. Und der sie auch über das Verfallsdatum hinaus am Leben erhält. Die Schwarzen Hunde des Gegenübers füttern den eigenen Schwarzen Hund. Macht Angst. Oder blau. Nur ein Bild. Singend.

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Caspar David Friedrich / Mönch am Meer

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Halt Dich an Deiner Liebe fest! Oder besser doch nicht? Was sagt Rio dazu?

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Anfang September 2017 / Teatral’naya Ulitsa, 5, Sovetsk, Kaliningrad Oblast, Russland, 238750

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Anfang September 2017 stand ich im Grenzland-Theater in Sovetsk auf der Bühne und sang u.a. „Halt Dich an Deiner Liebe fest!“ und ein paar Songs von Elvis. Was genau, habe ich vergessen. Nicht vergessen aber ist das begeisterte Publikum, welches – es lebe das Klischee – schön sentimental nah an russischen Wässerchen gebaut war und schunkelte und jubilierte. Die gab es danach in rauhen Mengen, die Wässerchen, wobei unsere Übersetzerin uns schon beim Empfangswässerschen am Vorabend gesagt hatte: „Verglichen mit sowjetischen Zeiten wird kaum noch getrunken hier!“ Na dann, nastrowje. Jetzt, wo ich es hinschreibe, vermute ich, dass ich mich wiederhole. Nicht zu vermeiden. Kurz vor 68. Mein nächster Geburtstag.

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Auch wenn ich mich wiederhole, es war eine seltsame Reise. Ich hatte mich gefreut wie Bolle, befeuert auch von alten Klischees. Deutsch-Russische Freundschaft. Seele. Literatur. Wässerchen. Der Große Vaterländische Krieg, der unseren heutigen Wohlstand erst ermöglichte. Rosa- bis knallrot gefärbte Erzählungen meiner Verwandten oder später dann Kollegen in der DDR oder ihren Resten nach 1989. Inklusive der Wut. Subkutan. Das Morbide, das mich als Schwarzen Hund schon immer anzog. Utopie. Träumerei. Die Erinnerung an die jugendliche Verteidigung roter Kugeln.

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Das Mulmige? Das, was ich sah, war nicht morbid mit Charme, sondern einfach kaputt und großräumig verschimmelt. Auf der Fahrt zum Theater wurde uns eingeschärft – Wässerchen hin oder her – auf jeden Fall auf politische Einlassungen aller Art zu verzichten. Den damals noch engen Freund und Erwärmer unserer Ärsche in den deutschen Wintern Putin am besten überhaupt nicht zu erwähnen. Nach dem Auftritt trafen sich die zwei Ensembles sehr intensiv, ich sang dann noch mit dem schwäbischen Theaterdirektor, gut bewässert, „Auf dr schwäbsche Eisebahne“ und als ich trunken ins Hotel fliehen wollte, lief plötzlich jemand neben mir her und lieferte mich ab. Im Hotel. Gerne hätte ich noch ein wenig auf die Memel geblickt und nachgedacht. Oder wäre reingefallen.

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Natürlich habe ich nach Rückkehr stolz von dem Aufenthalt überall herumerzählt. Bisserl geschönt. Man muss ja nicht alles verraten, was einem quer im Halse hängt. Und im Rückblick ist man eh schlau wie der Fuchs, der rote Gefährte. Auch wenn er die Gans nicht gestohlen hat.

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Was war das noch mit den roten Kugeln? Nur noch diese roten Kugeln? Nun gut. Wenn man sich einmal verstrickt hat, hilft es nicht mal rechts, mal links eine neue Masche fallen zu lassen. Fast jeder erlebt über kurz oder lang eh sein blaues Wunder. Was nicht weiter verwunderlich ist.

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Den unten nannte man den russischen Bob Dylan. Hinweis von Maxim Biller. Danke dafür.

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„A horse! A horse! My kingdom for a horse!“ (Richard III / Shakespeare)

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Januar 2021 / Über Königsberg / War schön kalt

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Lasst sie doch hängen. Ohne irgendwelche eurer scheinheiligen Koalitionsangebote. Sollen die doch regieren. Pelzmantel-Sahra. Mofa-Björnie. Einfach niemanden einladen zu ihrer Deutung der angeblichen maroden Party Scheindemokratie und das empörte Geschrei gelassen aushalten. Warten. Mit bösem Grinsen im Gesicht. Macht doch, ihr Schwätzer. Und die eigenen aufgeplusterten Ängste einfach ignorieren. Selbst Trump und seine assoziierten Golfbrüder wissen nicht, wie man den vermeintlichen Gegner, der man selber ist, wirklich ausradiert. Letztlich aufgeblasene Feiglinge. Wie wir. In Thüringen werden sie Buchenwald nicht wieder aufmachen, diese Theoretiker der Verantwortung. Treten wir zur Seite. Bitte schön. Da wäre der Sitzungssaal. Sie werden unsere von Selbstermächtigung und Arroganz vollgesogenen Altbauwohnungen nicht stürmen lassen. Sie wohnen selber dort. Weniger Angstreflexe vielleicht?

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Wenn einer der letzte Fachmann in der Angelegenheit FRÜHER ist dann Putin. Selensky bewirbt sich leider auch bei dieser Dauerschleife. Ach hätten wir doch eine letzte rote Kugel im Koffer. Auf ihr wurde eingraviert Gerechtigkeit. Oder die gute Sache. Da war doch mal was. Ein Buch darüber hätte ich auch noch im Schrank. Oder lieber nicht? Es gibt sie aber nicht mehr diese Farben. Rot. Schwarz. Grün. Gelb. Der ausgestreckte Finger der Enkel ist blau geworden von unser aller täglichem Drücken auf die Tasten.

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Morgen mehr von den wahren roten Kugeln. Das verlorene Königreich inklusive Pferd solange in den Stall führen. Füttern. Abreiben. Gut zureden.

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„Don’t dwell on what has passed away / Or what is yet to be!“ (Leonard Cohen)

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Hoyerswerda / In Gundermanns Schaltzentrale in der Kulturfabrik / 9. Juli 2019

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Es treibt mich um. Das letzte Wochenende. Es wird mich noch länger umtreiben und hat mich schon davor rumgetrieben. Vor sich her. Wie lange wohl schon?

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2022 war ich dabei etliche Koordinaten, die mich halbwegs sicher durch mein bisheriges Leben geführt hatten, zu verlieren. Um ehrlich zu sein, hatte ich Ende 2021 meine seelische Roadmap vollkommen sinnentleert selbst in die Luft gejagt. Ich war von der Richtigkeit meines emotionalen Handelns voll und ganz überzeugt. Hand in Hand mit Genosse Grauburgunder. An meiner Seite war man glücklicherweise – nach meiner reumütigen Heimreise – sehr stark. Jedoch benötigte ich Hilfe. Hilfe in der Not. Der Riss, durch den kein Licht eindrang, sondern nur schwarze Suppe und mich zu spalten drohte, nahm mir gelegentlich den Atem.

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Also saß ich unterm Dach des Instituts in Gießen – Jahre davor hatte ich ein Theaterstück über den Namensgeber zusammengestückelt – nun auf der anderen Seite. Nicht wissend, eher irrend. In einem Nebensatz in einer der knapp zehn Sitzungen sagte die Frau, die mich „betreute“ – sie kam aus der Ukraine – „Wissen Sie, die allererste Heimat, die Heimat der Eltern, Großeltern, selbst wenn man dort nicht mehr aufgewachsen ist, hat viel Kraft in einem!“

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Las ich heute im gestern erwähnten Buch von Ines Geipel, die den Exil-Philosophen und Prager Juden zitiert: „Das geheimnisvolle Heimatgefühl fesselt an Menschen und Dinge. Beide sind in dieses Geheimnis gebadet. Geheimnisvolle Codes, in denen man lebt wie in ausgelatschten Schuhen. Die aber, die gehen, können qua Status nicht anders als den Finger in die Heimatwunde zu legen. Ihr Weggehen sagt: Nichts ist einfach so!“

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Natürlich rührt mich der Blick auf den Bodensee an. Natürlich gibt es dort Menschen, wichtige Menschen. Meine Familie wohnt dort. Aber, schon öfters schrieb ich hier darüber, stehe ich zum Beispiel in Hoyerswerda und fühle ich mehr Heimat als in Dingelsdorf mit Blick auf Überlingen. Das macht die Beheimateten natürlich wütend. Auf mich. Nicht auf ihr Bleiben.

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Wahlen in Baden-Württemberg nehme ich nur peripher wahr. Kretschmanns Wahl ist für mich kein Brustlöser. Da wo die dicke Kohle tanzt, auch wenn sie grün, fluche in gerne in der Sprache der Eingeborenen. Dies wiederum erbost meine liebste Frau, die den See vorbehaltlos lieben kann. Als Hessin.

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Die letzten Wochen ließen mich also nach- und vordenken und zweifeln und verzweifeln und trotzdem hegte ich eine seltsame, schwer zu begründende Nachsicht ob der schmerzlichen Entscheidungen der Menschen dort. Und ihren mehr verzweifelt als peinlichen Liedern. Bescheuert natürlich. Am Bodensee wußte man stets besser Bescheid.

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Halt! Auf Zynismen fortan verzichten.

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Meine Mutter, aufgewachsen und ausgebildet in der DDR, mit mir im Bauch und meinem schon lange toten Vater damals an den See gezogen, hatte sich im Laufe ihres Lebens, gut verankert in der sogenannten Konzilstadt, versucht den dortigen Dialekt zuzulegen. Zumindest Bruchstücke. Es klang in meinen Ohren fürchterlich und peinsam. Ich hatte wenigstens die Chance in der Schule hörend zu lernen, wie mr halt als e Konschtanzer Frichtle schwätze tut. Ich war nie ein solches Tierchen. Habe mich gut angepasst. So wird man aber schneller zum Verräter, als man einen eigenen Dialekt erlernen kann, wenn man später auf dem Bahnsteig steht.

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Bevor ich jetzt aber auch noch anfange über meinen Wohnort Gießen nachzusinnen, gehe ich besser mal in die Küche, spüle, kaufe dann ein und haue ein fettes Fleischstück in die Pfanne. Dazu Mais und Kartoffeln aus Eigenanbau. Eben noch die öffentlich- selbstgerechtliche Kurve gekriegt.

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Es wird nicht so einfach bleiben, wie es eh nie war. Außer man stellt das Nachdenken ein. Ruft’s Großmaul in mir. Master Cohen! Bitte übernehmen!

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„Niemand hat ein Monopol auf Auschwitz!“ (Carl Laszlo / KZ – Überlebender)

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Gewitter / In Tilsit oder in Sowetsk? / Lenin fällt vor dem Hotel Russland um / 1. September 2017

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Geschichte findet nie ihr Ende. Obwohl eine diffuse Sehnsucht danach weit verbreitet ist. Gerade unter Brüdern und Schwestern. Eheleuten. Und anderen Familien. Je weiter der Ausgangspunkt einer solchen Sehnsucht zurückliegt, um so schrecklicher oder grandioser wird er in der Erinnerung.

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Ich gestehe, obwohl ahnend, dass die Wahlen keine grosse Überraschungen bereithalten werden, sondern die Auguren ausnahmsweise Recht behalten würden, war ich den ganzen gestrigen Tag seltsam aufgeregt. Schon nachmittags saß ich im Hinterhof, die Flasche Wein und wartete auf’s Christkind aka erste Prognose. Und las. Das neueste Buch von Ines Geipel, die sich seit Jahrzehnten an ihrer Ost-West-Geschichte abarbeitet. Das Buch erzählt nichts wirklich Neues, fasst aber überraschend zusammen und leuchtet in etliche Ecken, die so nicht wahrgenommen von mir. Sprachlich ist es mir etwas seltsam überladen. Hochgestochen in überheiztem Ton und händeringend ihre alte Heimat beschwörend, bittet Ines Geipel darum das Glück der vom Osten damals aktiv eingeleiteten Wiederverheiratung nicht zu verdrängen. Weiterlesen! Später mehr davon. Aus dem Buch geklaut die heutige Überschrift und so auf einen faszinierenden, mir bis dato unbekannten Überlebenswütigen getroffen, Carl Laszlo. Meine geliebten Querverbindungen. Da sitzt er mit William S. Burroughs an einem Tisch.

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Ich habe selten einen Menschen so in die Kamera glänzen und strahlen gesehen wie gestern Abend „MADAME von und zu Bündnis mit mir“. Wenn dieses monströse Ego noch weiter aufgepumpt wird und dann platzt, werden die politischen Putztruppen etwas länger brauchen, den Sitzungssaal wieder auf Vordermann zu bringen. Und Simsonpilot Björnie H. erklärte derweil den Mikrophonhaltern, wie Demokratie funktioniert.

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Die Moderatoren und Kommentatoren gaben sich ungewohnt beherrscht, aber keiner war dann doch in der Lage auf die Hülsen „gesichert rechtsextrem“ und „darf Faschist genannt werden“ zu verzichten. Die Ampelmännchen schickten danach ihre zerknirschten Vasallen an die Front. Lindner blieb auf Sylt. Sind wir eigentlich noch zu reich? Und wer ist wir?

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Deutschland ist dem großen Bruder jenseits des Atlantiks stets was hinterher. Mit 10 bis 15 Jahren Verspätung. Jetzt wählen hier viele der von was auch immer Enttäuschten / Desillusionierten / Romantiker / Träumer / Anhänger von Traditionsvereinen / You name it: eben auch Alte und Kranke und Lebensmüde keine Programme, sondern das Glitzern oder Glänzen oder Wüten oder ein ominöses FRÜHER. Manchmal verstehe ich das. Kann es jedoch schwer nachvollziehen. Hypermoral ist nicht die Antwort, sondern nur eine Version der Sehnsucht nach dem Ende der Geschichte.

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Das war ja keine Liebesheirat im November 1989. Sprich ein Jahr später. Es war ein heftiger Flirt anfangs. Die Braut OST war am Ende, aber träumte tatkräftig. Dann lag der Freier WEST im Lotterbett und bestand auf sofortige Heirat. Ohne Ehevertrag. Die Braut ein paarmal schick zum Essen ausgeführt, (zwangs)geheiratet, es wächst zusammen und so, Tränen, Krokodile, Helmut Kohl singt schief und kratzt sich kurz darauf zerborstene Eier vom Jackett. Bus verpasst. Und dann wächst über Jahre, Jahrzehnte eine seltsame Erzählung, neudeutsch Narrentief, heran, in der die zwei in einem Eigenheim eingesperrten Ehepartner – die Kinder und Enkel wechselten derweil beflissen die Himmelsrichtungen – nur noch mit dem ausgestreckten Finger aufeinander zeigen und aus der Vergangenheit eine zementierte Wahrheit basteln. Obwohl jedes Einzelschicksal zwischen Ost und West meist filigraner, brüchiger, ambivalenter, müder geschehen war. Loose Ends eben. Kein Ende irgendeiner Geschichte. „Du weisst gar nicht, was ich mit der / dem täglich aushalten muss.“ Das bleibt oft über. Tja.

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Ich kenne etliche solcher verbitterter, griesgrämiger und von der Langeweile des Alltags gehetzter Eheerzählungen in meiner näheren oder ferneren sozialen Umgebung. So sind wir halt. Hoffe ich kann’s vermeiden.

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Gestern war ein 1. September. Am 1.September 1939 überfiel Deutschland. Ja Deutschland überfiel Polen und eben nicht Nazi-Deutschland überfiel Polen. Deutschland überfiel Polen. Später dann aufgeteilt in einen Westteil, der meinte sich via der 68er Aufarbeitung aka Reinwaschung davon frei gemacht zu haben und einen Ostteil, der via eines staatlich verordnetem Antifaschismus seine Teilhabe am Menschheitsverbrechen Number One einfach leugnete. Diese unbeglichenen Rechnungen lagen schon 1990 rum im deutsch-deutschen Lotterbett. Man schob die geflissentlich unter die euphorisch quietschende Matratze. Deshalb die Überschrift und jetzt lese ich mal weiter bei Frau Geipel. Auch wenn ich mich weiterhin ärgern sollte.

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Der Verzicht auf einen G‘TT kann sich auf Dauer als Fehler erweisen. Sonst wird der wild und schickt uns Menschlein, die wir uns gescheit wähnen, die Selbstermächtiger auf die Erde und lässt wählen zwischen sich und denen.

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