Nachricht aus dem Nachlösewagen 04

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Und dann saß ich. Wieder. Ich fror nicht mehr. Die Restwärme der Nacht unter meinen Achseln. Die Decke auf meinem Schoß. Roch nun nach mir. In kleinen Dosen. Zumindest. Mir gegenüber sitzt etwas. Ja was? Wesen. Dings. Es. Breitbeinig. Mundwinkel nach unten gezogen. Ein blaugrünviolet quergestreifte bauchig sich wölbende Kunstlederjacke übergeworfen. Das eine Auge scheint blind. Das andere starrt unverholen. Die Arme vor der Brust verschränkt. Den Kopf geneigt. Mal rechts. Mal links. Ich senke meinen Blick. Ich beobachte meine Füße. Sie täuschen Souveränität vor. Trippeln auf der Stelle.

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Mein Gegenüber steckt sich unentwegt etwas in den Mund. Kekse. Pralinen. Jabba the Hut? Starrt. Nun auf meine Füße. Ich starre zurück. Die Stirn visavis. Die grelle Jacke. Es gibt Häßlichkeit, die faszinieren kann. Draußen ist es inzwischen heller geworden. Ein helleres Grau. Das Es starrt nun an mir vorbei. Aus dem Fenster. Ich nutze die Gelegenheit. Wo ist das Telegramm? Ich durchsuche meine Manteltaschen. Wo? Verdammt. Ah. Da. Es knistert. Dann trifft mich der Blick. Starr. Herablassend. Müde. Müder Atem bläst mir in die Nase. Was soll ich sagen. Soll ich. Was?

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„Verzeihung?“

„Wofür?“

„Die Frage!“

„Welche?“

„Sie sind aber nicht der die das von heute Nacht?“

„Wer oder was?“

„Na ja! Der Lokführer. Ehemalig. Der HC Dingenskirchen!“

„Woher soll ich das wissen? Sie fragen mich doch!“

„Ich wollte eigentlich nur irgendwo hinfahren!“

„Na dann kümmern Sie sich!“

„Wie?“

„Draußen auf dem Bahnsteig steht Putzzeug. Eimer. Schwamm. Etcetera! Fragen Sie nicht, was der Schienenbus für sie tun kann. Den Rest kennen Sie!“

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Nachricht aus dem Nachlösewagen 03

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Ich schlief. Ich erwachte. Schlief weiter. Wieder ein und aus. Wachte auf. Erneut. Schlaf in Scheiben. Durch die Nacht bröseln wie trockene Scheiben Toastbrot. Eine der Wolldecken, auf die mich der Telegrammbote hingewiesen hatte, umwickelte mich. Rauh, kratzig. Jahrzehntelang eingesogener Schweiß. Pferde. Wahnideen. Schweine. Pubertät. Wut. Männer, weiß und anders in der Wolle gefärbt. Manche Duftnote nicht erratbar. GROßBUCHSTABEN, schwarz auf brauner Decke: Bundeswehr. Eigentum. Aber mir ging es nicht schlecht. In jener Nacht. Draußen, über dem Schienenbus, kein Vollmond, auch wenn mir ein Dramaturg dazu geraten hätte.

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Ich weiß gar nicht, ob ich besagtes Telegramm gelesen. Oder nur davon träumte. Ich fuhr vor Tagen mit der Rentnerkarte an einen ewig lang gestauten See. Dort fahren sie hin, viele Rentner. Hat man mir erzählt. Eine der Haltepunkte auf dem Weg dorthin: Ernsthausen. Es lag grauer, tauender Matschschnee auf den Wiesen. Keine Raben. Keine Krähen. Leblos, die Felder. Grautonvariationen. Die folgende Bahnstation nannte sich Münchhausen. Ich polierte meine Kanonenkugel und zog mich am Schopf meiner Träume in die nächste Schlafscheibe. Unter mir das Tack-Tack-Tack alter vernieteter Schienen.

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„Hallo! Hallo! Aufwachen! Das hier ist ein Zug, keine Notunterkunft!“

„Entschuldigung! Ja! Gleich! Gleich!“

„Nicht gleich! Sofort! Hopp! Hopp! Hallo?“

„Ja. Ich tue ja, was ich kann!“

„Verzeihung! Ich lache!“

„Iss ja gut! Ich richte mich auf und frage: Wer sind Sie?“

„Sie hatten unlängst ein Peh unterschlagen! Ich schenke Ihnen dafür ein zusätzliches Te!“

„Gut! Ja! Wie?“

„Sie befinden sich in einem Dienst-Traum!“

„Wenn Sie sich bitte vorstellen könnten?“

„HC Träumerle. Ich war mal Lokführer.“

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Nachricht aus dem Nachlösewagen 02

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Ich sitze. Ich sitze im Schienenbus. Ich sitze in einer Kälte, die sich in meinen Rücken frisst. Es gibt im Schienenbus alle paar Reihen Bänke mit umklappbarer Rückenlehne. In Fahrtrichtung. Gegen Fahrtrichtung. In Fahrtrichtung zurück. Gegen die Fahrtrichtung nach vorne. Denke an, während es draußen düsterer wird und Schneegriesel gegen die beschlagenden Scheiben des Triebwagens leise anklopfen, Stillstand und Angebot. Klappe die Lehne von vorne, von links nach rechts, nach hinten. Stehenbleiben in der Mitte kann sie nicht. Kippunkte. Ich unterschlage das dritte kleine Peh. Krähen hoppeln über ein Feld in der Nähe. Suchen zwischen kümmerlichen Schneeflecken und angefrosteten Pfützen nach dem Rest der Ernten der letzten Jahre. Wäre mir wärmer, wenn ich mir auf dem Bahnsteig die Füße vertrete? Sollte ich in Zukunft meine kleinen Reisen, Verreisungen besser mit einem Flachmann in der Tasche antreten? Und wo ist die Schaffnerin?

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Von draußen her vermeine ich das Geräder eines Rollkoffers zu vernehmen. Mitreisende? Es klopft laut und vernehmlich an eine Scheibe im vorderen Teil des Zuges. Kann Schneegriesel dermaßen aggressiv sein? Ich muß also entgegen des Rats meiner eingefrosteten Oberschenkel aufstehen. Gehe durch die Triebwägen nach vorne. Alte Kiesel, von ehemaligen Reisenden auf dem Boden hinterlassen, knirschen unter meinen Sohlen. Wo aber ist bei einem Schienenbus hinten? Wo vorne? Ich komme an. Vorne oder hinten. Da isser. Der Fensterklopfer. Ein Postbote steht auf dem Bahnsteig. Mit seinem gelben Dienstrollkofferwagen. Grauhaarig. Hager gebeugt. Augenberingt fröstelnd unter seiner beschlagenen Brille. Wahrscheinlich hat er das Pensionsalter schon lange erreicht. Er wohnt gewiß noch bei seiner Mutter. Auch wenn sie schon lange verstorben. Ist froh, wenn er draußen sein darf und seine Kundschaft redet ab und zu mit ihm. Noch. Er spricht mich mit meinem Namen an. Er wedelt mit einem vergilbten Papier durch die feuchtkalte Luft.

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„Hallo Herr Holz! Ich habe hier ein Telegramm für Sie!“

„Woher kennen Sie mich?“

„Wir kennen unsere Pappenheimer!“

„Ich dachte das Telegramm hätte ihre Zustellungsorganisation schon vor Ewigkeiten abgeschafft?“

„Denken ist nicht Wissen, sehr geehrter Herr Holz. Herr Johann Heinrich Holz? Oder doch nicht?“

„Nein, nein! Ich bin es. Geben Sie mir das Schriftstück!“

„Können Sie sich ausweisen?“

„Aber Sie sagten doch, Sie kennten mich, Herr …?“

„Namen sind Schall und Rauch! Schönen Abend noch!“

„Sie können doch jetzt nicht einfach gehen!“

„Wir müssen! Wir sind immer im Dienst! Immer und überall! Unser Lebensraum ist der Dienst! Und: in der Blechkiste neben der Nachlösetheke befinden sich alte Wolldecken. Schlafen Sie gut! Bis morgen!“

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Nachricht aus dem Nachlösewagen 01

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Ich renne. Es ist glatt. Gestern hatte es noch geregnet. Warmer Südwestwind zerrte an meinem Schal. Über Nacht drehte der Wind auf Nordost. Andeutungen eines Sturmes und die Bürgersteige wurden glatt. Über Nacht. Ich hatte mir zum Jahresbeginn eine Rentnerkarte gekauft. Im Abo. Etwas über € 30.- werden mir nun monatlich abgebucht. Dafür kann ich jeden Tag ab 9h Busse in Stadt und über Land, Züge, solange sie nicht zu schnell sind, in dem Bundesland, in dem ich wohne, benutzen. Fahren. Fahren. Wohin aber? Ich habe mir eine Landkarte gekauft und mit spitzem Finger auf zukünftige Ziele gezeigt. Als Bube hatte ich den Diercke-Weltatlas so gut wie auswendig gelernt. Im Fingerreisen war ich damals schon ein Marco Polo unter meinen Freunden. Heute will ich los. Es ist glatt. Ich renne, aber sehr vorsichtig. Eigentlich setzte ich nur einen Tippelschritt vor den anderen. Zu mehr reicht die Kraft nicht. Der Alkohol der letzten Tage lässt die Oberschenkelmuskulatur sich zusammenziehen. Unter meinem linken Arm eingeklemmt die Mutter aller Porzellankisten. Ich bin ein geborener Deutscher. Nun ja.

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Der Zug steht regungslos am Bahnsteig. Niemand da. Vor dem Zug. Auf dem Bahnsteig. In den Triebwägen. Die Motoren aber laufen, tuckern, es riecht nach verbranntem Diesel. Auch wenn ich mir das lediglich einbilde. Da, am Ende des Schienenbusses ist er, der Nachlösewagen. Kurz freue ich mich wie ein Kind über die Worte „Schienenbus“ und „Nachlösewagen“. Dann steige ich ein. Zwei, drei steile, rutschige Stufen, eisenbegittert, nach oben. Meine Oberschenkel brüllen mich an. Ich bin drinnen. Ist es im Waggon sogar etwas kälter als draußen? Ich ziehe meinen Schal enger um den Hals. Es windet wenigstens nicht hier im Inneren des Zuges. Ich denke an Jonas, den Wal. Ich schaue mich um.

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„Hallo? Ist da jemand? Ich würde gerne eine Fahrkarte nachlösen. Hallo?“

Die Maschine wird lauter. Es klingt, als gäbe der Lokführer fest entschlossen Gas. Ich friere. Ich friere auch nach einer halben Stunde noch. Nichts ist geschehen, aber laufende Motoren unter meinen frostigen Füßen.

„Guten Tag? Wo wollen Sie denn hin?“

Ich drehe mich um. Eine sehr kräftige Schaffnerin, Damenbart, grüne Strähnen im Haar, die unter der Dienstmütze hervorlugen, steht hinter mir. Sie raucht einen Zigarillo.

„Ich weiß noch nicht so recht. Wo fahren Sie denn hin?“

„Tja. Wenn ich das wüßte. Der Lokführer hat sich noch nicht entschieden.“

„Warum?“

„Weil er noch gar nicht da ist!“

„Aber entscheiden nicht die Schienen über das Ziel, welches wir ansteuern werden?“

„Glauben Sie auch noch an das Christkind?“

„Aber Sie verkaufen doch Fahrkarten? Prinzipiell? Hier im Nachlösewagen?“

„Gewiß. Wenn wir denn fahren werden.“

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