An den Bordsteinkanten / Spiegelfechtereien und Begegnungen / 2025 / Eins

…..

Castrop-Rauxel (Gastvertrag) / stillgelegte Zeche / April 2008

…..

Ich kann das Wort Bordsteinschwalbe nicht aus meinem persönlichen Wörterbuch streichen. Es existiert. Ich verbinde damit keinerlei Bedeutung. Keinerlei Scham. Keinerlei Reue. Aber auch kein Bedürfnis damit in irgendeiner senilen und pflegeheimnahen Selbstgerechtigkeit den gichtigen Zeigefinger in die müde Welt hinaus zu strecken. Palim Palim und Depp.

*

Anfang der Neunzehnneunziger war ich ein paar Jahre am Landestheater in Tübingen engagiert. Eine gute Zeit. Naiv und einer damals so nicht erahnten Zukunft zugewandt. Spaziergänge in den Probenpausen führten gerne mal an das Grab von Ernst Bloch. Kaum was von ihm gelesen. Jedoch auf den Grabstein blickend bedeutende Luft einatmend. Schlaumeiernd. Walter Jens sei heute im Publikum. Raunte der Intendant. In der Pizzeria nahe meiner Wohnung verkehrte gerne der erblindete Hans Mayer in seinen letzten Monaten. Weltgeist atmete den Duft von Grappa aus. Oder ein. Der Neckar rauschte. Die Stocherkähne stakten. Und die hiesigen Burschenschaftler tranken Bier. Die besoffene Linke protestierte dagegen. Stocknüchtern?

*

Jene alte Zukunft ist inzwischen vergoren, übelriechend und schon länger noch nicht mal mehr Vergangenheit, sondern lediglich Erinnerung. Beachten Sie bitte das Verfallsdatum. Am Flaschenhals. Am Flaschenboden. Oder an den hängenden Hoden Ihrer Erinnerungen in Sachen Matratzen.

*

Weshalb Tübingen? Bordsteinschwalbe? Was erlaube Gedankenflug?

*

Wir Mimen wohnten damals in von der französischen Armee aufgegebenen Siedlungen. Dünne Wände, große Terrassen, preiswerter als preiswert dank der Landesregierung (CDU), viel Grün drumherum und die rauschende Steinlach rechterhand. Einer meiner Kollegen und Mitbewohner, ein wilder Niederbayer, der kraushaarige Michi, schlug die Faust auf den Tisch, wenn das Bier, welches er uns gerne aus seiner Heimat mitgebracht hatte, in Strömen in uns hineingeflossen war. „Dös woas mir mochen. Dös ist nur ein dreckater Nuttenberuf! Nutten sammer! Mir alle! Nutten!“

*

Wenn ich auf die letzten Bühnenjahre zurückschau, versuche ich gelegentlich in den beschlagenen Spiegel zu sehen. Eine Art der Selbstvergewisserung? Die Bordsteinschwalbe taucht auf. Stets und gerne. Bei mir. Den Anderen. Das Wort Nutte wird aber vermieden. A bisserl Feigheit vor dem Feind namens Einsicht muß schon bleiben. Wie einen friedlichen Abschied finden von seinem alten Gewerbe? Schreiben wir mal!

…..