Melankomie, Morälchen, Ritterregeln 2

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Kürzlich zu Konstanz an einer nächtlichen Bushaltestelle nach den Feiern 50 Jahre Abitur

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Heimatkunde ist halt stets auch Heimatwunde. Oder eher andersrum? Aus der Heimatwunde erwächst selten eine Heimatkunde, sondern etwa so etwas wie Heimatmief? Oder doch nicht. Fragen wir den Arzt, den alten Deutschlehrer oder, falls es ihn noch gibt oder je gab, den Pfarrer, der Dich konfirmiert hat.

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Gestern fuhr ich, das Seniorenticket sei gepriesen, vor die Tore Gießens um bei den Schwiegereltern eine Gemüsetüte abzuliefern. Seit zwei, drei Wochen ist unsere Parzelle der Oberbefehlshaber meines Alltags. Pflegen, gießen, ernten, einlagern, Speisepläne erstellen. Dieses Jahr wächst und gedeiht viel. Da oben. Eine Art beruhigender Gegenentwurf zu den üblichen Hysterien überall. Da muß man teilen. Als der Bus das Ortsschild meines Zieles passiert hatte las ich auf einem Schild rechter Hand: „Kirmes vor Ort. 18. bis 21. Juli.“ Ich erinnerte mich. Man hatte mir davon erzählt. Heute also Montag, also der Frühschoppen und eigentliche Höhepunkt der Kirmes und das Restetrinken. Da will ich hin.

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Blasmusik war mir nie ein ideologisches No-Go. Ganz im Gegenteil. Ebenso wie Schrammelmusik oder bayrische Hackbretter. Ein alter Freund von mir studierte eine Zeitlang in München und auf den nächtlichen Fahrten dorthin hörten wir begeistert stoned, was wir damals den „Alpenblues“ nannten. Wahrscheinlich schaue ich deshalb morgens vor dem Frühstück so gerne Panoramabilder auf Bayern 3. Als ich einst in Tübingen engagiert war, bereisten wir Mimen im Herbst die schwäbischen Dörfer mit all ihren Feschtle und grölten zu Sierra Madre im Zelt von manchen Bieren wunderbar geborgen. (Verzeihung, Herr Bonhoeffer!) Ein Kollege aus Unterfranken, ehemals Soldat und sehr guter Schütze, schoß den Damen des Ensembles eine Plastikrose nach der anderen bis uns die Dorfjugend vom Acker jagte. Am Montag standen wir wieder auf der Probebühne als linke Weltenretter. Frühkindliche Prägungen halt. Mein Vater hatte etliche dieser damals allgegenwärtigen Fontana-Platten. Eine davon: „Deutsche und internationale Märsche“. Ich erinnere mich noch, wie ich als Bub auf dem Teppich vor der Musiktruhe (was ein wunderbares Wort!) lag und unbelastet zum Badenweiler-Marsch mitwippte. Oder gar dirigierte? Die Gnade der späten Geburt? Und trotzdem nicht im Herzen verdorben ward.

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Also betrat ich das Bierzelt. 11Uhr30. Am Tresen bestellte ich bei einer komplett tätowierten, gepiercten und gut gelaunten Punkfrau gleich zwei Bier. Zu meiner Entschuldigung dies: für einen in Süddeutschland aufgewachsenen sind Biere in Nullzwei Größe und das auch noch in einem Bierzelt ein Sakrileg. Dat darf man nur in Kölle. Ich setze mich also beidhändig bestückt an eine der Bierbänke, die Blasmusik spielte einen Marsch und die junge Frau hinter dem Tresen tanzte dazu vor sich hin. Wenn dies Heimatmief ist, so roch er nach Ambrosia. An der einen Nebenbierbank saßen die Altburschen „Frohsinn“ und stachen ihr zweites 10 Literfass an. Eine Bierbankreihe weiter erklärte ein Jungspund, vielleicht 16 oder ähnlich, seinen Kumpels wie man Appelwoi exxen kann. Zäpfchen nach hinten und nicht atmen. Sogar die Mädels machten mit. Denn so buchstabiert sich Fortschritt: da saß eine Burschen- und Mädchenschaft. Das Zelt füllte sich, die Blasmusik rockte und ich fühlte mich einfach nur wohl. Unter Menschen statt Labertassen. Betrachten statt altvorderer Analyse. Doch dann brach die Hölle los. Ein brachiales Gewitter donnerte auf das Zelt nieder, man verstand sein eigenes Wort nicht mehr, die Band mußte die Stecker ziehen und da das Bierzelt auf leicht abfälligem Terrain stand rauschte eine kleine Flutwelle unter den Bierbänken hindurch. Die kräftigsten Jungburschen, ich glaube sie hießen „Immergrün“, versuchten, man kennt das vom Camping, mit Besenstielen, Bierbänken und Leitern die bedrohlichen Wasserdellen von Zeltdach zu entfernen. Das Publikum blieb gelassen, schaute sich das Spektakel an, die Bedienungen trugen ihre Zehnerträger nassen Fußes an die Tische und draußen drehte sich das leere Kinderkarussel gelassen durch den Sturm. Die Losverkäuferin betrachtete die finsteren Wolken und die Pommes wurden kalt und lapprig. Ich holte mir noch einen Zweierset Bier und als der Regen nachließ, brach ich auf um nachzuschauen ob unsere kleinen roten Freunde aka die Tomaten auf dem Feld das Unwetter überlebt haben. Sie hatten. Jippie!

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Conclusio? Keine. Jedoch tut es gut gelegentlich den Menschen zu begegnen, die einfach mehr sind als wir Klugscheißer. Zuhause dann fand ich Post, die mir mitteilte, daß meine Rente ab sofort um 20 Euro im Monat ansteigt, quasi explodiert. Da hätte ich mir auf der Kirmes doch noch ein nonveganes Steakbrötchen leisten können. Menno! Aber besser so! Nächste Woche muß ich die Steuer machen. Man weiß ja nie. Und Sascha Bendiks – siehe Heimatmief – spielte letzten Samstag in Lollar auf. Groß.

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Ritter Runkel von Rübenstein einst erlaubte sich diese Bemerkung mal: „Ein Ritter kämpfe nur mit Drachen, das Schreiben sollen andre machen!“

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