„Ich bin nur ’n armer Hund, aber bin ich wirklich von der Leine los?“ (‚Gundi‘)

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Irgendwo in Thüringen / Früh los in den Nebel hinein / Später Sonne / 9. Oktober 2021

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Und Lots Weib drückte die Taste FORWARD

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Und da die einen den Hals verdreht

Auf der alten Schaukel schwingen zurück

Höher das geht doch noch höher

Angefeuert und unterlegt mit einem Beat aus dem geplünderten

Plattenschrank älterer Geschwister

Und jetzt spring spring doch du du

Feigling ist mancher vor jeglicher Zuversicht

Das unendbare Kobaltblau jenes einen Sommers

Beschreien wollend

Dem ewigen Pflaumenbaum nachschmecken

Unter dem der eingeschlafene Hund jaulend den Blues

Halte mich noch einmal so

Wie du mich niemals

Aber ich es doch erinnere

Da dann holt Lots Weib

Eine erfahrene Braut etlicher Sehnsüchte

Ihren Kassettenrekorder aus der Umhängetasche

Den sie unablässig besprochen von den Stunden einst

In Sodom und Gomera

Und drückte fast entschlossen

Die Taste VORWÄRTS

Geht ab

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(gießen / heute / es regnet und regnet und regnet / erkältet / nachsinnen / gefährdete tage sind solche tage / in den gassen trifft man auf die klageweiber)

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„Ich darf mich jetzt nicht selber übertreiben.“ (Werner Hansch / Schalke 04 gewinnt den UEFA-Cup im Jahre 1997)

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Kühe über Albertschwende im Vorarlberg ein Selfie nachstellend am 7. Oktober 2022

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Gedenktage streunen durch unsere Lebenskalender. Die einen streichen sie dick an. Die anderen ignorieren sie geflissentlich. Manchen Gedenktagen macht die Geschichte einen dicken Strich durch die Sentimentalitäten. Die Hamas der untergegangenen DDR, die gefeiert hätte hätte hätte ihren 75ten heute. Die Ausrufung der Republik 1918 verbrennt 1939 mit den Synagogen, um den 9. November mit dem verwirrt erlaubten Mauerübertritt 1989 wieder zu heilen. Scheinbar. 1848 waren, dieses Datum zum ewig deutschen zu machen, die letzten Reste einer Märzrevolution erschossen worden. Wovon heute noch die Bürgersöhne singen. Mit Schmiss oder mit Adorno.

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Dialog / erst Sie / dann Er / ein paar Zeilen aus ‚Flugasche‘ von Monika Maron:

„Besteht nicht unser ganzer Sinn darin, daß wir uns gegenseitig raushalten aus unserer Wut, du mich und ich dich? Wenigstens für einen Menschen der sein, der man sein will, wenn man es schon nicht für alle schafft?“

„Das wäre schön! Ich befürchte nur, die Versuchung, gerade den Angreifbarsten und Wehrlosesten zu wählen, ist zu groß. Es verringert den Aufwand, es bereitet sogar Lust, verstehst du, ich finde es so schlimm wie du. Aber es ist so, bei den meisten ist es so.“

„Bei dir auch?“

„Es kommt vor. Mach schnell, sonst kommen wir zu spät!

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Meine Frau hat mir dieses Buch unlängst weitergereicht. Ich lese es mit 40 Jahren Verspätung, aber mit Freude, wissend, daß wir immer zu spät und niemals ankommen werden. Streunende Hunde bleiben, wenn wir wollen.

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Immer wieder und verwirrter Tag für Tag, lausche ich all den Gesängen und Texten, die behaupten der Krieg würde uns, dir, mir, denen, jenen und allen anderen von außen angetragen, aufgedrängt, wo doch ein kurzer Blick hinab in unsere Eingeweide ausreichen kann. Ein ewiges Waffenlager.

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„Das Gesicht eines Menschen lügt nicht; es ist die einzige Landkarte, auf der alle Regionen verzeichnet sind, die wir einmal bewohnt haben.“ (Luis Sepúlveda)

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Konstanz / Im März 2022

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In den letzten Tagen konnte man relativ gehaltvoll in die Glotze gucken. Herrhausen. Kati Witt. Auf Wiedersehen, Genosse Lenin. Und. Und. Und.

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Beeindruckend aber und selten solch eine Qualität gesehen in diesen Tagen: die Verfilmung von Christian Barons Roman „Ein Mann seiner Klasse“.

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Ich durfte Christian Baron vor zwei Jahren kurz kennenlernen. Ich hatte, kurzzeitig Lokalbetrachter, über seine Lesung zu berichten. Danach ein Bier getrunken in geselliger Runde. Später hier im Blog noch was nachbereitet.

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Man versieht Filme heute gerne öfters mit „Triggerwarnungen“. Eine Retraumatisierung scheint ständig ‚ante portas‘ zu lauern. Loriot? ‚Pappa‘?

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Vergleiche sind vermintes Gelände. Dennoch: In diesem Film gab es Momente, die mir, da in meinem Vater ebenso ungezählte Dämonen tobten, zwischen die Rippen fuhren. Messer. Würgen. Schläge. Schreie. Ohnmacht. Wie damit umgehen? Am nächsten Tag spazieren gehen. Drüber reden. Ohne Dramatisierung. Ohne Vergessen. Mit Mitgefühl. Es gab sie eben auch, die guten Tage. Welche Waagschale gewinnt? Es geht nicht um einen Sieg.

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Noch gewichtiger aber die anschließende Doku, welche davon berichtet, wie Baron seine alte Heimat wieder besucht. Heißer Sommer. Kein Fritz-Walter-Wetter. In seinen Händen hält er ein Tablet und sieht sich vor laufender Kamera Szenen aus der Verfilmung seiner Erinnerungen an. Messer. Würgen. Schläge. Schreie. Ohnmacht. Wie damit umgehen? Und sein Gesicht ist nicht nur eine Landkarte, sondern ein Atlas. Danke dafür.

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Man kann von Dingen schreiben. Man kann davon lesen. Wenn man daraus laufende Bilder baut oder bauen lässt, die Geschichten sichtbar werden: einige Erinnerungstonnen mehr. Deshalb – kurze Rückkehr in den eigenen Bauchnabel – ist der Zustand des Regisseurs nach Premieren stets prekär.

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Ich Prolet! Du Prolet! Aus dem Ehrentitel wurde irgendwann eine Beschimpfung. Der überdrehte Stolz von Barons Vater, als er der Familie geschenkte Lebensmittel vom Teller seiner Kinder in die Mülltonne schiebt, das ist die schlimmste Erinnerung. Der schreckliche, der so ohnmächtige Stolz. Da ist mir mein hilflos lauter Vater am lautesten erschienen. Ich wiederhole mich. Vergleiche sind vermintes Gelände. Grab. Kein Grabstein.

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Fremde Ohnmacht. Eigene Ohnmacht. Ohnmacht nicht weiterreichen.

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„The hollow horn plays wasted words, proves to warn, that he not busy being born is busy dying.“ (Bob Dylan)

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Doppelter Bob / „True Dylan“ von Sam Shepard / Inszenierung im Herbst 2013 / TiL Gießen

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Heute Nacht war ich mal bewusst wach. Sonst gerne meistens ungefragt. Das ist anstrengend, aber halt das Alter und seine schmerzlichen Rechnungen. Ich schaute TV. Das Duell der Vizekandidaten überm Teich. Und gleichzeitig war Jimmy Carter 100 Jahre alt geworden. Ein Grund ein bisserl in die Tasten zu seufzen und im eigenen Bauchnabel rumzupuhlen.

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Einen sehr großen Teil des Jahres 1979 verbrachte ich in den Staaten. Zwei Monate Schauspielschule. Woyzeck über dem Teich. Schrieb unlängst davon. Vieles von dem, was seit etlichen Jahren hier auch Alltag wurde, erlebte ich dort, staunend und kopfschüttelnd, ein erstes Mal. Horden von Adipösen. Das Schimpansengrinsen hinter den Bedientresen, welches dir mit einem „Can I help you?“ ins Gesicht springt. Der inflationäre Gebrauch des Wörtchens „Ich“. Das schreckliche „You’re welcome!“ Heute: GÄRNÄ! Das Entschwinden der Fähigkeit zuzuhören. Monologe und gefletschte weißgestrahlte Zahnleisten. TV rund um die Uhr. Dauerbeschallung in gigantischen Einkaufstempeln. Die Malls, das Glück in den Regalen und Bällebad. Die Tanke ist 24/7. Man kann also Zuckersäfte und Sixpacks und dreitausendvierhundert verschiedene Chipssorten neben den Joint legen.

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Präsident war damals Jimmy Carter. Ich trampte nach der Schauspielschule zwei Monate kreuz und quer durchs Land. Unfassbar viele Begegnungen. Viel Verächtliches. „He’s just a peanutfarmer.“ Das hat ihm wohl auch der damals etwas präpotente Helmut Schmidt – „Ain’t your chancellor a communist?“ (irgendwo in den Südstaaten) – vermittelt, der natürlich wusste wie die Welt funktioniert. Und die Wirtschaft. Also die Welt. Einst.

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In den Tagen meines Hitchhikens schlief ich unten Brücken, in Wäldern, auf Baustellen oder einfach gar nicht. Wurde eingeladen in Villen, Hütten, Mobile homes und miese Motels inklusive Belästigung. Der Dollar war innerhalb weniger Jahre vom Wechselkurs rund um die 4 DM auf 1,80 runtergeschlittert. Die Amis nagten ihre Knochen Vietnam und Watergate ab. Alkohol, Gas (Benzin) und Weed kosteten wenig bis nichts. Jahre später, der Nachfolger des unsäglichen Nixon war – der gute alte immer stets hysterische Unruhestifter Iran wollte die Geiseln nicht freigeben – vom noch unsäglicherem Cowboypräsident und Zweittarzan benachfolgt worden – las ich von Carters musikalischen Lieben. Es war eine gute Zeit. Die Krise.

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Bob Dylan war mir damals eher fern. Allman Brothers. Johnny Winter. Ich suchte das Blut der Indianer auf den Highways klebend in memoriam Jim Morrison. Jack Keroucs lange Strassen waren aber lediglich nur noch eine postpubertäre Behauptung. Aber in Ferlinghettis Buchladen im Northend hauchte mich ein paar Stunden eine Ahnung an. Von der Ekstase. Es war vielleicht die beste Zeit. Die sich geflissentlich widersprechende Illusion.

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Die Menschheit schreit dieser Tage immer schneller, lauter auf. Das Vernichten des Gegenüber scheint wieder Spaß zu machen. Carter ließ sich von Andy Warhol porträtieren. Viele Farben in einem Gesicht sind möglich.

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Letzte Nacht? Ein Gescheitle gegen einen Teddybären. Zwei Werbetafeln. Etikettenschwindel. Who cares? Sollte ich demnächst wiedergeboren werden müssen, dann bitte als Erdnussfarmer. Oder blöd ginsender Jack.

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„Alle wissen wo es lang geht. Aber keiner weiß warum. Dumm. Dumm. Dumm.“ (Gerhard Gundermann)

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Aach / Aachquelle / 20. September 2024 / Foto: A. Haas

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„Ambiguität bezieht sich auf eine Situation, in der ein Begriff, eine Aussage, ein Satz oder eine Handlung mehrdeutig oder mehrdeutig interpretiert werden kann. Es handelt sich um eine Unklarheit oder Zweideutigkeit in der Bedeutung von Wörtern oder Ausdrücken, die zu Verwirrung oder Missverständnissen führen kann.“ (Dr. Google)

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„Wir sollten die Grenzen des Sagbaren soweit wie möglich ziehen.“ (Die Autorin Mithu Sanyal in einem Gespräch mit dem SPIEGEL, in dem sie als Schriftstellerin mit ‚Vibrationshintergrund‘ vorgestellt wird. Im Rahmen wohlwollender Ambiguität schlittere ich gerne in die Fettnäpfchen unter den Gürtellinien, die man gelegentlich besucht hatte. Nicht unfreiwillig, sondern bewußt.)

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Auf der Hinreise in alte Heimaten machten wir unlängst kurze Rast an der Aachquelle. Fahr da bitte ab. Was suche ich dort? Behauptete Erinnerungen. Erinnerungsnebel. Schleier. Gewiß: mit den Eltern dort gewesen. Später mit alten Freunden. Eine Freundin auch? Schatten nur. Heute mit der Gemahlin. Ja. Dieses Wort kann man noch tippen. Ambiguität rules ok.

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Immer noch aber lebt diese meine alte Faszination. Da versickert irgendwo oben auf der Alb, der schwäbischen, heimlich Wasser aus der Donau, die kaum ihre Quelle verlassen hat und kommt hier unten hinter Engen wieder raus. Als Nichte der alten Tante Donau. Heißt jetzt aber Aach. Oder Ach? Oder gar: Sieh an, sieh hin? Wo kommt das alles her? Wo will es alles hin? Leider hatte der charmante und sehr alte Biergarten an der Quelle Ruhetag.

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Die Donau ist ein sehr langer Fluß und mündet ins Schwarze Meer. Die Aach hat nur 14 Kilometer vor sich nach ihrem möglicherweise sie selbst überraschenden Auftauchen und ergibt sich dann dem Bodensee und die Nordsee wird ihr Schicksal. Die Donau scheint ein intelligenter Fluß zu sein. Sie kann abgeben. Will sich nicht entscheiden. Für das eine Meer. Ihren Tod.

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Lob der Ambiguität

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Standpunktig und so

Steht der alte weiße Punk

Tag für Tag und pinkelt seine vermeintliche Freiheit

Faschos auf die Fresse

An die Wände

Vor meinen Fenstern

Der ich ihn selber trunken gerne als AfD-Sympathisanten beschimpfe

Da meine Wütungen mäandern

Und ich genug zu tun habe

Auf der Drehscheibe meiner schwindenden Gewissheiten

Mich zu halten halbwegs

Aufgerechtig gegen die Fliehkräfte

Ein unsichtbares Komma hier gesetzt

Die versickernden Traumgebilde

Und meine eigene Dummheit

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(gießen / eben / nach lektüre des SPIEGEL im cafe, wo zwei adipöse kids – zwischen 13 und 15 – am nebentisch glänzend schwitzend gigantische Burger in sich hinein stopfen / mein mitleidiger blick ist eine lüge / morgen wieder anders)

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„Es ist schon komisch, wie sehr die meisten Menschen die Toten lieben. Wenn du erstmal tot bist, hast du dein Lebtag ausgesorgt.“ (Jimi Hendrix)

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Frühe Nacht / Blick über den See / 20. September 2024 / Foto: A. Haas

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Über Überlingen gegenüber / Heimatlied 1

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Als meine Frau aus dem Fenster blickte und drüben

Über dem westwärts zeigenden Finger

Des alten Sees dem gletschergefurchten

Eben noch im letzten Hell hatten wir den Teufelstisch

Nicht gefunden

Über steil verregnete Wege nach unten

Ausschau haltend

Links und rechts

Behauptete ich wie es meine Art

Den roten Mond in unerwarteter Größe

Den sie die

Meine Frau

Erblickt hatte

Nicht als einen roten Mond zu sehen

Es handele sich um das Observatorium das drüben

Über Überlingen gegenüber scheine durch die Nächte

Damals schon und immerdar

Was ich wissend stets von hinten her

Eitle Gewißheiten

Bis die vermeintliche Sternwarte rutschte in die höheren Himmel

Strahlend und schwindend an Größe

Und ich erkannte wie der rote Mond sich wenige Minuten nur

Sekunden wohl gesetzt hatte vor meinem Auge

Auf die Kirchturmspitze am Ufer

Drüben über dem See

Über den wir blickten

Als Ausblick in zukünftige Welten

Aber

Jetzt da die Nacht uns beehrte

Ein Trugbild meines dröhnenden

Wissensgepolter

Ein ewiges Beginnen

Blieb und der unruhige Schlaf

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(Burghof Wallhausen / Ende September 2024)

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„Bio-Lammfleisch von ALDI? Da kannste auch Nawalny einen Fernseher in die Zelle stellen und ihm sagen: Du hast es doch gut!“ (Metzger / Markt / Gießen)

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Inschrift / Altstadt Gernsbach / 26. September 2024

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Wenige Menschen schaffen es im rechten Moment die rechte Antwort zu geben. Der die Titelzeile stiftende Schlachter tat es beindruckend. Die Inschrift darunter auch. Das „Schaffe, schaffe“ der gerne verlachten Schwaben isch gar it so bleed. Ironie und Gelle und weiterschaffe. Hunderte bis tausendunseins Bücher in der Garage ersetzen kein ungelebtes Leben.

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Der Robert säubert derweilen seine Partei nach uralten Ritualen. Josef lässt grüßen. In Thüringen spielen zeitgleich alte eitle weiße Dummsäcke mit nach Türkenbubenart getrimmten Bart und Krawatte „Machtergreiferle“ nach als sei die Geschichte eine Märklin-Eisenbahn. Oder eher doch Minitrix? Die hinteren Bänke kichern pubertär. Weia! Das Lied zur Lage.

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„Ich will alles anschauen, die Augen umherstrielen lassen, Gesichter nehmen, mich sekunden – minutenweise verlieben.“ (Beat Brechbühl)

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Prag / Vyserader Friedhof / 29. Oktober 2012

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Vom Ende des Unbändigen

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Vor der Zeit die Handschellen angelegt

Särge ausgepolstert mit Gewissheiten

Den Boden der Tatsachen frisch gefeudelt

Festgefußt schwankend

Lass mich heute leiser lügen von meiner Freude

An den Geysiren

Wenn sie unerwartet

Wer hat an der Uhr gedreht

Warum meine eigenen Finger mir in den Rachen stecken

Maßlose Träume zu erbrechen

Keine fremden Figuren nachtanzend mehr

Wenn der Ball ins Tor springt

Werde ich unbändig bleiben wollen

Und sei es nur den einen kurzen heißen Winter lang

Schneeschippend

Meine Hemden bügelnd und

Die Zeitungen zurückgefaltet

Als seien sie ungelesen

Hatte ich mit kalten Fingerspitzen

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(es vermischen sich gießen heute und sommer 1990 sowie winter 2021 / der beste aller torbejubler unten, der nur einen sommer lang flog / ab in den süden)

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