Nachricht aus dem Nachlösewagen 16

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Obwohl ich seit Tagen und Nächten wachliege, frage ich mich ernsthaft, ob ich etwas verschlafen habe. Ich habe die Formeln auswendig gelernt. In den Wolfsstunden bete ich diese vor mich her. Wieder und wieder. Der Frost läßt die Scheiben meiner derzeitigen Behausung knacken und klingen. Der Morgen weckt mich, der ich durchwachte die Nächte gelassen, mit freundlichem, optimistischem Licht. Ein eiskalter Himmel wirft verschmitzt eine Vorahnung hinab. Der Lenz. Der Lenz. Hörte ich unlängst gar Kraniche. Frage ich mich. Was habe ich verpasst. Was habe ich verschlafen. Ist der Schienenbus geschützt. Gesichert. Passwörter. Ich repetiere. Karger Text. Auswendig. Inwendig. Geheimnis. Vielleicht.

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Kann man Passwörter trommeln. Wie aber. Oder singen. Oder auf gefrostete Scheiben mit dem warmen Zeigefinger. Schreiben. Was auch immer. Ich bleibe drinnen. Bin aber nicht drinnen. Dort wo ich wäre gerne. Vielleicht.

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Tagsüber nicke ich stets ein. Ich habe mir es angewöhnt die Helligkeit zum Hüter des Schlafes zu machen. Was hab ich verpasst. Was verschlafen. Ein weiteres Passwort. Der Code. Da Vinci. Leonardo. Wer hat’s erfunden. Wer.

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Welcher dem Tag zugewiesen. Welcher der Nacht. Was geschieht. Wo eintippen. Einfach nur aufsagen. Die Erde draußen gefroren. Der Wind beißt ins Gesicht. Ich bleibe drinnen. Müheloses Warten. Auf nichts mehr. Aber ich sollte vielleicht wieder sprechen. Mit wem. Ich vermisse die Schaffnerin der ersten Tage. Der Paketbote hetzte von hinnen. Gejagt. Andre. Da geht was. Es spricht. Hörst Du’s nit? Wenn der Code stimmt. Einer der beiden. Welcher ruft den Lokführer. Da hinten. Da hinten im anderen Wagen. Ein Telefon. Da steht ein Telefon. Stumm. In der Ecke. Es gibt keinen Durchgang mehr. Von dem Einen in den Anderen. Wagen. Ich muß raus. Will ich raus. Das Telefon. Es ruft. Wer schreibt Formeln auf einen alten Triebwagen. Und warum. Was hat dies mit dem Stillstand zu tun. Still. Da geht was. Spricht.

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„Wer spricht?“

„DU! Selbst!“

„Mit wem?“

„Wem wohl!“

„Still! Es geht was!“

„Es geht hinter dir, unter dir, hörst du? Alles hohl da unten.“

„Ich fürcht mich. S’ist so kurios still. Man möcht’ den Athem halten.“

„Was?“

„Red was!“

„Fort. Sieh nicht hinter dich. Wir müssen fort.“

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Sonntags Reime unter Bildern / 01

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Wie sollen Lieder klingen in

Diesen Schweigewüsten

Worte in Stifte fallen

Zwischen brüllenden Wutschafen die

Ihre Wolle nicht

Spenden wollen den

Frierenden

Ihr adrenalingestähltes Fleisch geizig

An die morschen Knochen genagelt

Wie ein Bild weit den

Rahmen sprengend

Zwischen Klagen streng getaktet

Malen

Nach Kontostand FRAGEZEICHEN

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Traurig leer schwingt

Der Klingelbeutel

Zwischen verwaisten Bänken und

Auf den Altaren Wühltische

Sale und Heil von den

Königen der Verächtlichkeit

Gebrüllt in die Herzattrappen derjenigen deren

Sehnsucht ist PUNKT PUNKT PUNKT

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Der Fluß hat keine Zeit zu

Murren darüber

Er zieht weiter

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Nachricht aus dem Nachlösewagen 15

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Ach ja. Das Paket. Letzte Woche. Vielleicht. Letzter Monat. Letztes Jahr. Vor meiner Geburt. Sogar. Mir ist warm. Drinnen. Draußen das Paket. Ich will mich heute nicht bewegen. Ein Paket vor Deinem Fenster ist aber eine Herausforderung. Ein Vorwurf. Eine Möglichkeit. Ein Ruf aus der Wildnis Existenz. Reiß dich zusammen. Reiszwecke. Zum Zwecke sich zusammen. Reißen. Get the parcel, stupid. Also stehe ich auf. Wo ist das Buch, welches mir von den Knien rutschte. Draußen nun. Die Formel am Rande meines Triebwagens. Merk ich mir. Muß. Wieder rein. Mit zugestellter Post.

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Also. Das Paket. Jetzt auf meinen Knien. Ich bin drinnen. Sagt das Paket. Öffne mich. Ich bin kein Messermann. Aber mein Opinel begleitet stets die Gürtelschlaufe. Ritsch. Ratsch. Ich packe. Aus. Aus. Es ist aus. Ich packe aus. Das Paket ist eine Art Matrjoscha. Schicht für Schicht. Zwiebelschale an Zwiebelschale. Papiere. Zeitungen. Hefte. Gedanken. Geschwurbel. Notizen. Toilettenpapier. Gefärbt. Unten. Am Grunde. In einem kühlen Grunde. Sie hat mir Treu versprochen. Ich werd‘ als Spielmann reisen. Ich möcht‘ als Reiter fliegen. Ich weiß nicht was ich will. Eigentlich sollte der Schienenbus endlich. Die kleinste der Babuschkas ist ein Reclamheft. Hatte ich diesen Text mal gelernt. Auswendig. Inwendig. Weiss Du noch. Was weiß ich schon.

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Noch immer das alte Geliebel!
Du bist kein Kaiser; du bist eine Zwiebel.
Jetzt will ich dich einmal schälen, mein Peer!
Es hilft dir nichts, stöhnst du auch noch so sehr.
Da liegt die äußre, zerfetzte Schicht; –
Der Gescheiterte, der um sein Leben ficht.
Die Passagierhaut hier, dünn wie ein Sieb, –
Hat doch im Geschmack von Peer Gynt einen Hieb.
Hier ist das Goldgräber-Ich; – fahr hin!
Der Saft ist weg, – war je einer drin.
Dies Dickfell hier, mit dem Zipfel für zwei, –
Ist der Pelzjäger an der Hudsonsbai.
Dies gleicht einer Krone hier; – hat sich was –!
Dem geben wir ohne weitres den Paß.
Hier der Altertumsforscher, kurz aber kräftig,
Und hier der Prophete, frisch und vollsäftig.
Er stinkt von Lügen, wie’s in der Schrift heißt;
Ein Duft, der ein ehrlich Mannsaug‘ wie Gift beißt.
Dies Blatt hier, das weichlich am Finger klebt,
Ist der Herr, der herrlich und in Freuden gelebt.
Das nächste scheint krank. Es hat schwarze Schwielen; –
Schwarz kann auf Neger wie Pfaffen zielen.
Das hört ja nicht auf! Immer Schicht noch um Schicht!
Kommt denn der Kern nun nicht endlich ans Licht?!
Bis zum innersten Innern, – da schau‘ mir einer! –
Bloß Häute, – nur immer kleiner und kleiner. –
Die Natur ist witzig!

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Nachricht aus dem Nachlösewagen 14

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Ich erhebe mich. Soweit kam ich nicht. Konnte ich nicht. Wollte ich nicht. Durfte ich nicht. Und dann. Als ich erwachte, eben, lag mein Kopf auf meiner Brust. Wie lange schon. Oder fiel er. Wann auch. Dorthin. Dahin. Wohin. Draußen rieselt der Schnee. Wieder. Wenn der Schnee fällt. Schweigt es wohltuend. Draußen. Wenn Schnee fällt. Rieselt. Nieselt. Pieselt auf die Welt. Mein Kopf auf meinen Knien. Der Hieb in den Rücken. Gestern. Oder wann. Wieviele Tage vorüber. Wochen. Seither. Das Buch. Dieses meine. Wo.

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Ich blicke aus dem Fenster. Der verwaiste Bahnhof. Selbst ein verwaister Bahnhof verfügt über eine Uhr. Auch wenn er über die Uhr nicht mehr verfügen kann. Weil sie steht. Und nicht fährt. Wie MEIN Schienenbus. Hatte ich Fieber. Oder noch. Nöcher. Immer Fieber. Bewegen sich die Zeiger. Noch. Haben sich die Zeiger bewegt. Während ich schlief. Habe ich geschlafen. War ich krank. Bin ich es noch. Ist diese Uhr auf die ich blicke ein Gemälde. Ein Abbild. Momentum. Augenblick und von sich selbst gelangweiltes Mahnmal. Ich schlafe ein. Spreche mich an. Und antworte.

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„Ich verstehe nur Bahnhof!“

„Bahnhof ist gar nicht so schlecht, wenn einer türmen muß!“

„Die ganze Welt schwingt doch den Hammer!“

„Und Du meinst Du bist der einzige Nagel!“

„Wie steht es gerade?“

„Denke so Nullen gegen Nullen!“

„Lohnt es sich noch zu kämpfen, frage ich.“

„Die meisten Siege sind Niederlagen.“

„Nicht mehr kämpfen also.“

„Ein aufrechter Kampf um eine aufrechte Niederlage.“

„Ich bin müde.“

„Ich ebenso.“

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Nachricht aus dem Nachlösewagen 13

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Ich denke nach, während ich rumsitze. Habe ich mich damit abgefunden, daß dieser Schienenbus steht. So vor sich? Hin und nicht her. Wie die gute alte Raute. Sich nicht bewegen als eine Art von Lebensvortäuschung. Vielleicht müsste man Angst haben vor dem Leben und nicht vor dem Tod. Der Schienenbus wächst mir ans Herz. Eben. Wünsche ich mir noch Besuch. Oder reicht der warme Mantel und die Aussicht. Können Schienenbusse fliegen. Bereitet sich der Wagen, in dem ich sitzend warte lesend, darauf vor zu FLIEGEN. Etwas Großes ante portas. Die eine endgültige Überraschung. Das Buch vor mir aufgeschlagen auf einem Knie. Ich lese nicht. Blättere lediglich hin oder her und zurück. Fetzen. Wortfetzen. Es dämmert. Taschenmesser. Taschenlampe. Stofftaschentuch. Überlebenshilfen.

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Dort, wo der Schienenbus nicht mehr hinfahren mag: Kriege. Kriege von denen ich sah und hörte, bevor ich den Fernseher aus dem Fenster geworfen hatte. Mit den letzten Zeitungen die verschimmelt stinkenden Gemüsereste umwickelt hatte. Die Küche verlassen. Und in der Flucht mein Heil. Heil. Heil. Wohin. Reime aus einem überfallenen Land. Kriegsreime. Wer entscheidet, ob der Schienenbus stehen und bleiben. Muß! Ein paar Wortfetzen. Trost. Vor mich hinsprechen. Kaum noch zitternd. Trotz der Kälte. Wohlig frierend. Geht das? Wortfetzen. Serhij Zhadan: der Dichter schreibt eine Chronik seines eigenen Atems. Ich beglückt. Frierend wohlig.

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Hier nun macht der Winter dieses Jahr die Bäume fahl.

Was sind das für Menschen, die die Ankunft des Herrn

Feiern?

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Das sind Menschen, die sich Christen nennen.

Gute Menschen eigentlich, solange es nicht um Vergebung

Geht.

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Umblättern

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Der Himmel ist wie ein Schüler, der zum ersten Mal

Die Odyssee lesen muss,

die Fenster sind warm wie Frauen, die in Liebe geboren

haben,

die Sprache ist wie ein Rasierer:

höchst sicher, höchst nah.

*

Nochmal weiterblättern

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Doch an den traurigsten Tagen

Kreis über mir –

Vogel des Vertrauens.

Und in den trübsten Zeiten,

inmitten von Lärm und Erstarrung,

bleib bei mir, Sprache –

Sprache des Zweifels,

Sprache der Freude,

Sprache des Dankes.

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Es klopft an die Scheibe. Aus der Dämmerung heraus winkt mir ein Paketbote zu. Ein Paket. Ein großes Paket. Ein sehr großes Paket. Etwas unförmig. Ich erhebe mich. Ein Hieb in den Rücken. Stechend. Zur Tür.

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Nachricht aus dem Nachlösewagen 12

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Ich muß mich entscheiden. Ich muß mich bald entscheiden. Entscheide Dich. Eins Zwei oder Drei. Du mußt Dich entscheiden. Wer nicht für uns. Gegen uns. Drei Felder sind frei. Finde den Fehler! Entweder oder? Von dem Oder bis zum Wohin? Eins Zwei oder Drei. Letzte Chance. Vorbei. Es ist vorbei, bye bye. Junimond. Auf eine Kreuzung hatte ich mich, auf das Kollar blickend, hinfantasiert. Ich vermisste auf den Wegweisern einen ehemaligen Hinweis. Der eine noch. Eventueller Weg. Der Dritte. Das Kollar grinste ausdauernd. Kniff abwechselnd das eine Auge zu. Dann das andere Auge. And so on. Again and again. Grinste weiter. Und griff sich schließlich an die Nase. Ich war erleichtert. Auch die Nase des Kollars rot. Die Kälteschuld. Heißt Kollar gar Rudolf? Ja iss denn scho wieder Weihnacht?

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Der Himmel draußen hatte sich entschieden wieder tiefer zu hängen. Subjektiv auf Kniehöhe. Himmelhochgrummelnd. Das Töten geübt. Eines meiner Augen juckt. Verengt sich. Rötet sich. Ich kratze reibe jucke. Die Stimme der Mutter. Der Frau. Nicht dies tun. Nicht dies. Was dann? Dulden. Zuschwellen. Lassen. Gelassen. Es seinlassen. Geschehen. Siehst DU? Jetzt hast Du ein schlechtes Gewissen. Nein. Falsch erinnert. Siehst Du jetzt hast Du… Man rüttelt an meinen Schultern. An einer der beiden. Der mittleren.

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„Man muß kein gutes Gewissen haben. Auch wenn es bald zu Ende geht.“

„Habe ich im Schlaf gesprochen?“

„Und wenn?“

„Ist ja manchmal peinlich!“

„Machen Sie sich da keine Sorgen. Die Peinlichkeit ist die conditio sine qua non Deiner Sippe! Verzeihung! Ihrer!“

„So schlimm?“

„Tja! Wer von ganz oben abstammen will, muß dies in Kauf nehmen! Und: besser komplett blind, denn nur auf einem Auge dies und allwissend!“

„Das versuche ich einzusehen!“

„Sie versuchen es mit Humor. Ich schenke Ihnen ein Buch!“

„Die Bibel? Bitte nicht!“

„Entspannen Sie sich. Nehmen Sie dieses. Bis später!“

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