Das ist ein Nachruf. Sentimental. Früher und von dem noch früherem Früher schreibend. Voller nebliger – oder sagt man nebulöser ? – Erinnerungen. Inklusive noch heute spürbar entspannter Kopfschmerzen.
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Las gestern die Todesanzeige von Carmelo Parise, dem unvergessenen Padrone des Burghof zu Gießen. Auf dem Weg ins Trübe fallen links und rechts tagtäglich die alten Haltepunkte, Anker und Kurzzeitheimaten in den Orkus. Unvermeidlich. Nicht darüber jammern. Davon erzählen.
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2001 kam ich nach Gießen. Eine fürchterlich zermürbende Trennung zwischen Köln, Mainz und Wiesbaden war der Anlaß. Ich saß in Mainz in einem Nachtlokal mit dem designierten Schauspielchef des hiesigen Stadttheaters. Getränke. Viele. Willst Du mit nach Gießen? Kann ich mit nach Gießen? Weiß nicht mehr. Was tun? Ich stieg kurz darauf hier aus dem Zug, gespaltenes Herzelein, sprach noch was vor, pro forma und ging dann in den Wienerwald ein paar Häuser weiter! Verträge wurden gemacht. Wochen später saß ich Rotz und Wasser heulend im Botanischen Garten. Pures Entsetzen in solch einem auf mehreren Ebenen wüst verwüsteten Ort landen zu müssen. Ich rief die Gegangene an und brüllte entgrenzt ins besoffene Telefon: „Du bist schuld, daß ich jetzt ein Hesse bin!“ Dann machte ich über Jahre hinweg meinen Frieden. Gelang mir gar. Gelegentlich.
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Der Friedensstifter der ersten Stunden und Monate war der Burghof. Endlich Probenende. Nur die Schulstrasse, in der ich eben auch eine Wohnung bezogen hatte, überqueren. Buena sera. Und dann bis drei Uhr morgens gerne. Auch wenn um 10 Uhr am nächsten Morgen die Probebühne rief. War nicht weiter schlimm, da meist das halbe bis vollständige Ensemble plus Regie, Chef und anderen Abteilungen zugegen war. Hart im Nehmen gegen sich selbst. Wüste Diskussionen. Herrlich sinnfreie Dispute. Beleidigte Bühnenwürste. Pathos. Tränen. Ich reise ab. Ganz schlechte Witze. Die letzte Schnapsrunde des ältesten Kollegen. Pflichtprogramm. Padrone Parise aus den Rippen geleiert. Donna Filomena senkte dann den Daumen. Ich weiß, sentimentaler Scheiß, war aber ab und an so. Genauso.
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Eines der ersten Erlebnisse. Jener 11. September. Eine Abendprobe ist komplett unmöglich. Geschlossen in den Burghof. Unter Schock. Wir arbeiteten an einer Komödie. Der Regisseur, von dem ich einiges für meine späteren Arbeiten übernommen hatte, sagte unvergessen: „Wie kann man in solchen Zeiten Komödien inszenieren?“ Oder ein anderer Lehrmeister und Regisseur der ersten Tage unterbrach – starker Raucher – die Probe. „Ach! Wir hauen uns doch nur Binsen um die Ohren! Wechseln wir die Straßenseite!“ Das konnte dann schon auch mal 12 Uhr mittags gewesen sein. Manchmal gelang es dann sogar gar im sanften Tagesdrümmeln einen Ausweg aus einer festgefahrenen Probensituation zu finden. Das alte (weiße?) Erinnerungsrauschen. Ich weiß. Aber frei von den unnötigen Seminaren.
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Es gab damals die sogenannte Feierpolizei. Ein, zwei Kollegen an vorderster Front waren meist dabei und der damalige Schauspielchef. Gelegentlich griff mich doch die Verantwortung oder die Textmenge des nächsten Tages am Schlafittchen und man stand früher auf vom Tisch oder mied gar die Überquerung der Straße. Heute nur mal! Prompt darauf: „Aha! Man schwächelt!“ Ab und an standen nach Toresschluss ein paar Hartgesottene unter meinem Balkon in der Schulstrasse. „Lugi? Ab ins Domizil!“
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Epilog. Ich mochte das Gießen von vor 23 Jahren, obwohl anfangs recht verzweifelt, lieber. Viel lieber. Weniger Schminke. Weniger Großmann- und Großfrausucht. Leerer. Einsamer. Mehr eigenen Charakter besitzend. Keine Events. Dafür Begegnungen. Und am Sonntag die leeren Strassen. Dann blätterte ich die Seiten vor der Todesanzeige um. Lese Zeitungen gerne von hinten her. Aha? Ein Professor der THM – eine Zeitlang mein Nachbar – will Gießen beleben. Da gehe doch noch was. Ja wo laufen sie denn? Weia!
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Mille Grazie Carmelo Parise! Sincere condoglianze, cara Donna Filomena!
Am 3. November 2001, vor 23 durch die Zeitachse davon gejagten Jahren, starb Thomas Brasch. Auf vielfältige Art und in vielen Zusammenhängen mir eine aufploppende Projektionsfläche und Identifikationsfigur.
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„Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“
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(Thomas Brasch / Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu entkommen)
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Im Sommer 1980 hat mir meine damalige Geliebte dieses Buch geschenkt. Mit gereimter Widmung. Wo ist das Buch? Ich habe es – glaube ich – im Rahmen meiner Arbeit an der „Tankstelle für Verlierer“ – irgendwohin verliehen. Manches kehrt nie mehr zurück. Ich erinnere mich, wie ich mich durch diesen wilden Wust versuchte durchzulesen. Viel begriff ich nicht. Was ich aber begriff: wie wuchtig die Heimatlosigkeit, das Atmen ohne Wurzeln, die verlassen, das blinde Tasten namens Wut in diesen Texten. Damals befremdete mich das. Inzwischen ist es Bestandteil meiner Sicht auf das Außen. Obiges Gedicht war Motto meiner Gundermann–Arbeit.
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„Wieviele sind wir eigentlich noch.
Der dort an der Kreuzung stand,
war das nicht von uns einer.
Jetzt trägt er eine Brille ohne Rand.
Wir hätten ihn fast nicht erkannt.
Wieviele sind wir eigentlich noch
War das nicht der mit der Jimi-Hendrix-Schallplatte.
Jetzt soll er Ingenieur sein.
Jetzt trägt er einen Anzug und Krawatte.
Wir sind die Aufgeregten. Er ist der Satte.
Wer sind wir eigentlich noch.
Wollen wir gehen. Was wollen wir finden.
Welchen Namen hat dieses Loch,
in dem wir, einer nach dem andern, verschwinden.“
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(Brasch / DDR-Lyrikreihe Poesiealbum)
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Kurz nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 verschob sich auch Brasch mit seiner Geliebten Katharina Thalbach in den Westen. Ließ sich auf eigenen Antrag hin verschieben. Wer bereut was und wann? Das Wortungetüm namens Ausreiseantrag. 1980, eben in Köln auf der Schauspielschule angefangen, sah ich im Schauspiel Köln Flimms Inszenierung des „Käthchen von Heilbronn“. Die junge Thalbach eine Explosion der Darstellungskunst. Tief beeindruckt. Damals verstummte Brasch eine längere Zeit lang, zumindest öffentlich, und besoff und bedröhnte sich, wenig beeindruckt vom „Versprechen West“. Der Grenzgang, das Faszinosum Euphorie, war mir nie fremd gewesen. Früher noch mit etwas mehr Glitzern versehen. Heute gelegentlich erschreckend banal mit dem eigenen Untergang jonglierend. Nie vergessen werde ich den Schluß des Theaterabend zu Kölle. Die Rückwand der Bühne öffnete sich, man sieht die nächtliche Krebsgasse. Kalt zieht und sieht es in den Zuschauerraum hinein. Draußen stehen die Schauspieler und glotzen zurück. Ein Poem von Brasch?
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„Und wenn wir nicht am Leben sind
dann sterben wir noch heute.
Die Liebe stirbt, du lebst, mein Kind
Die Mädchen werden Bräute
Ach, wenn ihr mich gestorben habt,
lebt ihr mich weiter heute,
gemeinsam wird ein Land begrabt
und einsam sind die Leute.“
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(Brasch / Gedichtsammlung: Die nennen es Schrei)
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Der ewige Riß. Laut oder leise. Wie einst der Vorhang im Tempel zu Jerusalem. Die Welten werden weiterhin Pharisäer beheimaten, denen eine gezielte Beerdigung ihres Landes am Schrumpelhirn vorbeigeht. Man setzt lieber fremdes Eigentum am Roulettetisch namens Leben denn den eigenen Arsch. Brasch ging, wie man heute so gerne schwafelt „All in“. Das mochte ich stets und mag es noch, wissend um die Risiken. Und sie auch gerne negierend. Wissend negieren? Geht das? Vor den Vätern sterbend als Sohn, der man ewig bleiben muß, wenn kein Vater? Dann Gott? Anderer Vater?
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„DAS FÜRCHTEN NICHT UND NICHT DAS WÜNSCHEN
darf mir abhanden kommen, auch mein täglich sterben nicht
das seellos süchtig sein auf keinen fall
nur hirnlos reimen wie ein wicht muß beendet werden
da ist ein gott und setzt sich zwischen alle stühle
er sieht genauso aus wie ich mich fühle“
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(Brasch kurz vor seinem Tod 2001)
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Und nun welches Lied? Ich kann nicht begründen warum, glaube aber es passt. Verdammt. Neat übersetzt: sauber. War auch einmal ein höchschtes Lob. „Und wie isches? Sauber!“ Beachten Sie den Bassisten links im Bild!
Am Ende der Kontrollen oder ein Heimatgedicht (keine Gebrauchslyrik)
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Bei dem Versuch fallende Blätter zu fangen
Brach ich mir den Zeigefinger
Der Wind hatte kein Einsehen mit meiner blinden Not
Trieb das Laub vor mir her grinsend meine Wut entfachend
Und ich schlug gegen die schorfige Rinde des alten Baumes
Mit aller Wucht die ich zu erinnern suchte zittriger
Wer hatte mir erzählt man könne die Fallenden mit Tränenflüssigkeit
Wieder binden an die morschen Äste
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(Gießen / Draußen trudeln die bunten Blätter freudig erregt / Unkontrollierbar / Grinsen mich an / Froh drüber, keine Kolumne schreiben zu müssen in der Laubbläser oder der Lebkuchenpraecox vorkommen / Herbst nix für Weicheier)
In den letzten Tagen konnte man relativ gehaltvoll in die Glotze gucken. Herrhausen. Kati Witt. Auf Wiedersehen, Genosse Lenin. Und. Und. Und.
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Beeindruckend aber und selten solch eine Qualität gesehen in diesen Tagen: die Verfilmung von Christian Barons Roman „Ein Mann seiner Klasse“.
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Ich durfte Christian Baron vor zwei Jahren kurz kennenlernen. Ich hatte, kurzzeitig Lokalbetrachter, über seine Lesung zu berichten. Danach ein Bier getrunken in geselliger Runde. Später hier im Blog noch was nachbereitet.
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Man versieht Filme heute gerne öfters mit „Triggerwarnungen“. Eine Retraumatisierung scheint ständig ‚ante portas‘ zu lauern. Loriot? ‚Pappa‘?
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Vergleiche sind vermintes Gelände. Dennoch: In diesem Film gab es Momente, die mir, da in meinem Vater ebenso ungezählte Dämonen tobten, zwischen die Rippen fuhren. Messer. Würgen. Schläge. Schreie. Ohnmacht. Wie damit umgehen? Am nächsten Tag spazieren gehen. Drüber reden. Ohne Dramatisierung. Ohne Vergessen. Mit Mitgefühl. Es gab sie eben auch, die guten Tage. Welche Waagschale gewinnt? Es geht nicht um einen Sieg.
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Noch gewichtiger aber die anschließende Doku, welche davon berichtet, wie Baron seine alte Heimat wieder besucht. Heißer Sommer. Kein Fritz-Walter-Wetter. In seinen Händen hält er ein Tablet und sieht sich vor laufender Kamera Szenen aus der Verfilmung seiner Erinnerungen an. Messer. Würgen. Schläge. Schreie. Ohnmacht. Wie damit umgehen? Und sein Gesicht ist nicht nur eine Landkarte, sondern ein Atlas. Danke dafür.
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Man kann von Dingen schreiben. Man kann davon lesen. Wenn man daraus laufende Bilder baut oder bauen lässt, die Geschichten sichtbar werden: einige Erinnerungstonnen mehr. Deshalb – kurze Rückkehr in den eigenen Bauchnabel – ist der Zustand des Regisseurs nach Premieren stets prekär.
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Ich Prolet! Du Prolet! Aus dem Ehrentitel wurde irgendwann eine Beschimpfung. Der überdrehte Stolz von Barons Vater, als er der Familie geschenkte Lebensmittel vom Teller seiner Kinder in die Mülltonne schiebt, das ist die schlimmste Erinnerung. Der schreckliche, der so ohnmächtige Stolz. Da ist mir mein hilflos lauter Vater am lautesten erschienen. Ich wiederhole mich. Vergleiche sind vermintes Gelände. Grab. Kein Grabstein.
Gestern ein überraschendes Treffen von Menschen aus meinen sozialen Umgebungen erlebt. Menschen, die sich nicht alle untereinander kannten und dennoch nach kürzester Zeit seltsame Querverbindungen feststellen durften. Hat meine oft despektierliche Sicht auf Heimat aus den Fugen geruckelt. Heute nachdenken drüber. Morgen mehr. Solange ein Reim.
Kann man so sehen. Muss man nicht. Fremd bleibt dem bekennenden Fremden stets auch die Heimat. Spätestens nach jeder Abreise. Der Bahnsteig ist das Zuhause. Rollende Steine. Taumelkraut. Es ist 12 Uhr mittags. Das Fremde kommt zurück um die Heimaterzählung auf der Mainstreet zum Duell aufzufordern. Die Steppenhexen kugeln lachend herum. Ist es wichtig, ob sie von links oder von rechts ins Bild trudeln?
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Heute keine eigenen Worte. Ein Lied – unten der übersetzte Text – des Lieblingssängers einer Seelenheimat. Das einzige Lied, welches Leverkusen im Titel trägt. Falls Xavi Alonso nicht noch ein neues Kapitel schreiben will.
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Die Zeit hat ihre Höhen und Tiefen
Ich weiß auch nicht, wo ich bin
An Stränden, die zum Horizont passen
Oder in einfachen Gesprächen, die verrückt werden
Eine Nacht in Leverkusen
Direkt vor dem Bahnhof
Ich werde mich daran erinnern, wo du es mir gesagt hast
Hey Alter, ich liebe dich
So sehr ich will, verstecke ich mich
Es fällt mir schwer, es zu ertragen
Wie ich vermisse, was ich brauche
Um sich zu zerstreuen und zu schweigen
Eine Nacht in Leverkusen
Direkt vor dem Bahnhof
Ich werde mich daran erinnern, wo du es mir gesagt hast
Zurück nach Leverkusen oder Gießen. Über den Markt von Mires. Hinter Dingelsdorf abbiegen. Lechts oder rinks Richtung Thüringen. Morgen ein zaghafter Monologentwurf: Der Heimatabschaffeler und die Liebesreste.