Entgiftung

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Mir träumte, ich müßte Abschied nehmen

von allen Dingen, die mich umstellt haben

und ihren Schatten werfen: die vielen besitzanzeigenden

Fürwörter. Abschied vom Inventar, dieser Liste

diverser Fundsachen. Abschied

von den ermüdenden Düften,

den Gerüchen, mich wachzuhalten, von der Süße,

der Bitternis, vom Sauren an sich

und von der hitzigen Schärfe des Pfefferkorns.

Abschied vom Ticken und Tacken der Zeit, vom Ärger am Montag,

dem schäbigen Mittwochsgewinn, vom Sonntag

und dessen Tücke, sobald Langeweile Platz nimmt.

Abschied von allen Terminen: was zukünftig

fällig sein soll.

Mir träumte, ich müßte von jeder Idee, ob tot

oder lebend geboren, vom Sinn, der den Sinn

hinterm Sinn sucht,

und von der Dauerläuferin Hoffnung auch

mich verabschieden. Abschied vom Zinseszins

der gespaltenen Wut, vom Erlös gespeicherter Träume,

von allem, was auf Papier steht, erinnert zum Gleichnis,

als Roß und Reiter Denkmal wurden. Abschied

von allen Bildern, die sich der Mensch gemacht hat.

Abschied vom Lied, dem gereimten Jammer, Abschied

von den geflochtenen Stimmen, vom Jubel sechschörig,

dem Eifer der Instrumente,

von Gott und Bach.

Mir träumte, ich müßte Abschied nehmen vom kahlen Geäst,

von den Wörtern Knospe, Blüte und Frucht,

von den Zeiten des Jahres, die ihre Stimmungen

satthaben und auf Abschied bestehen.

Frühnebel. Spätsommer. Wintermantel. April April rufen,

noch einmal Herbstzeitlose und Märzenbecher sagen,

Dürre Frost Schmelze.

Den Spuren im Schnee davonlaufen. Vielleicht

sind zum Abschied die Kirschen reif. Vielleicht

spielt der Kuckuck verrückt und ruft. Noch einmal

Erbsen aus Schoten grün springen lassen. Oder

die Pusteblume: jetzt erst begreife ich, was sie will.

Ich träumte, ich müßte von Tisch, Tür und Bett

Abschied nehmen und den Tisch, die Tür und das Bett

belasten, weit öffnen, zum Abschied erproben.

Mein letzter Schultag: ich buchstabiere die Namen

der Freunde und sage ihre Telefonnummern auf: Schulden

sind zu begleichen; ich schreibe zum Schluß meinen Feinden

ein Wort: Schwamm drüber – oder:

Es lohnte den Streit nicht.

Auf einmal habe ich Zeit.

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Ich schrieb obigen Text im Frühjahr 2015. In jener Zeit hielt mich die Arbeit am Musentempel schwer auf Trab und mein Hang zum Perfektionismus noch mehr. Seltsam wie das Virusviech den alten Traum zu einer Realität werden ließ. Und, dieser Tage jedenfalls, ich genieße die Zeit, die ich nun habe, so wie sie ist. Halten Sie mich gerne für pervers. Ich laß das mal so stehen. Also den Text oben. Später mal bearbeiten.

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PS: I’d like to thank my beloved wife for the kind permission to use the photograph above, she took in Bath (Somerset) in august 2017.

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Gemeinsame Trauer, Vorsicht, Furcht?

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Vielen Dank. Mir aus dem Herzen und dem Hirn gesprochen aka geschrieben, der Essay von Mark Siemons aus der FAS vom 27. Dezember 2020. Teile ich sehr gerne:

Das Jahr der Verdrängung

„Es war ein widersprüchliches Jahr in Deutschland. Auf der einen Seite sah es eine so große kollektive Bedrohung wie seit Generationen nicht mehr, mit so vielen Toten, so vielen Existenzängsten, so vielen außergewöhnlichen Eingriffen des Staates, auch so vielen staatlichen Schulden. Und auf der anderen Seite eine Öffentlichkeit, die von einem gemeinschaftlichen Erleben dieser Bedrohung, von einer gemeinsamen Trauer, Furcht, Vorsicht und Nachsicht nichts wissen zu wollen schien. Je länger das Jahr unter dem Eindruck der Pandemie andauerte, desto zersplitterter wurde dessen Wahrnehmung, aufgelöst in viele, oft gegeneinanderstehende Einzeldispute, die sich von dem Ausgangspunkt, der unerwarteten Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit, zunehmend entfernten.

Im März war die Anteilnahme über die vielen in Italien am Virus Verstorbenen noch groß; heute, da im eigenen Land schon höhere tägliche Todeszahlen erreicht sind, stößt das auf kaum Resonanz. Der schon vor Monaten geäußerte Vorschlag des Bundespräsidenten, in einem nationalen Akt der Opfer der Pandemie zu gedenken, wie dies so unterschiedliche Staaten wie China und Spanien getan haben, verhallte. Im Frühjahr wurde noch viel Empathie für das Krankenhauspersonal bekundet, dem die Seuche besonders viel abverlangt. Später verlor sich auch dieses Interesse. Andere Fragen wurden wichtiger: Wer darf sich wo mit wie vielen Menschen treffen, sind die Eindämmungsmaßnahmen überhaupt verhältnismäßig, welche Geschäfte dürfen sich systemrelevant nennen, sind Masken womöglich gesundheitsschädlich? Nicht, dass eine dieser Fragen unbedeutend wäre, aber in der Summe addieren sie sich zu einer im Rückblick fast monströs wirkenden Verdrängungsleistung – vor allem, da ihnen fast vollständig das Gegenüber fehlt, die Verständigung über die allen gemeinsame Verwundbarkeit.

Es ist, als klammere sich die Öffentlichkeit an ihre Debattenroutinen, an vertrautes Kommunikationsterrain, um sich mit dieser Verwundbarkeit und Ungewißheit nicht konfrontieren zu müssen. Jeder rhetorische Winkelzug schien dazu recht. Man stritt sich darüber, ob die Opfer „an“ oder doch nur „mit“ Corona gestorben seien, ob überhaupt von einer „Übersterblichkeit“ die Rede sein könne oder ob man die Diskussion nicht besser auf die „vulnerablen“ Gruppen konzentrieren solle, um die Mehrheit damit nicht weiter zu behelligen.

Selbst vorsichtige Formulierungen wie die der „neuen Normalität“, die Politiker wie Olaf Scholz am Ende des ersten Lockdowns wagten, um das fortdauernd Außergewöhnliche der Situation anzudeuten, wurden brüsk zurückgewiesen. „Wir wollen unsere alte Normalität zurück!“, hieß es trotzig in einem Kommentar. Diese Art Panzerung gegen die Realität hatte auch Folgen für die Wirksamkeit der Eindämmung des Virus. Da keine gemeinsame Sprache für die Bedrohung gefunden wurde, hatten es alle vorrauschauenden Maßnahmen, geschweige denn langfristige Strategien schwer, sich unter den Ministerpräsidenten durchzusetzen. Und selbst das Verhalten derer, die das Virus nicht für eine Erfindung halten, richtete sich weniger an der Gefährdungslage als an Verordnungen aus – die vielbeschworene Eigenverantwortung setzt offenbar erst dann ein, wenn die Wirklichkeit durch Gesetze oder andere Prinzipien beglaubigt ist.

Wahrscheinlich hat die Pandemie auf einer individuellen Ebene bei vielen das Bewußtsein dafür befördert, wie viel mehr das Leben wert ist als die Gewohnheiten, die es in ruhigen Zeiten ausfüllen und die jetzt so schmerzlich unterbrochen wurden. „Daß das Leben nicht gehortet, sondern gelebt sein will“, hielt der britische „Economist“, sonst nicht als Fachmagazin für solche Ergebnisse bekannt, als Lektion dieses Jahres fest. Die große Frage bleibt, warum sich dagegen das kollektive bewußtsein die Lebenserfahrung dieses Jahres so ausdauernd vom Leibe hält. Und was getan werden kann, damit sich das ändert.“

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Und: es sterben vor allem Mitglieder jener Generation, die dieses Land nach dem Krieg aufgebaut haben und auf dem Rücken derer Lebensleistung die Nachgeborenen ihren Wohlstand gefestigt haben. Nachdenkenswert, bevor man wieder das nächste Schlupfloch sucht. Dankbarkeit und so.

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bagatelle acht oder ein lob der naivität und ein lob des endes der naivität auch

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Sie nannten sich die Sahne und sangen

Vom Sonnenschein der Liebe bis alle Samen

Vertrocknet sind

Sie nannten sich der Bleierne Zeppelin und sangen

Von der Wiesovielliebe und davon alle Zitronen

Auszuquetschen

Sie nannten sich Tiefes Lila und sangen

Vom blinden Mann der schießt auf

Die Welt

Sie nannten sich Schwarzer Samstag Kirchenglocken und

Regen ließen sie singen

Und fragten wer ist der schwarze Mann der vor mir steht

Sie nannten sich zu Ehren der alten schwarzen Männer die

Ernteten ab die Baumwollfelder und sangen also

Von der Traurigkeit und den Steinen

Den rollenden

So nannten sie sich und sangen von der Thekenkönigin

Die ein Stockwerk höher erfüllte den Sänger mit Rock’n‘Roll

Und der Gott der Gitarren sang ein Lied für Josef

Ihm mitzuteilen daß er

Seine Frau niedergemäht habe

Nicht mit der Gitarre

Mit einer billigen Knarre nur

Geklaut damals als er diente dem Maschinengewehr

Und wir nahmen das ernst

Die Sänger der Lieder

Aber

hatten Spaß

An den Bagatellen

Als die Zeiten sich vermeintlich

Änderten

Der Zimmermann baute das Dach

Und dichtete es ab mit Worten

Wie fühlt sich das alles an

Heute da wir weniger lachen

denn einst

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nachtwanderungen revisited

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Manchmal ist man auf der Flucht. Vor sich. Vor dem Anderen. Vor einer Liebe. Man ist bereit eine ganze Welt auf den Müll zu werfen. Um zu fliegen ohne mit den Wimpern zu zucken. Dann, der Tank leert sich so langsam, muß man wieder landen. Warnblinker zuckten. In der Not halt eine nötige Notlandung. Man nennt sie dann freiwillig. Davon ein altes Lied.

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nachtwanderungen

der schlaf hat mich plötzlich und schwer umarmt und sich genauso plötzlich und schwer davongemacht. morgens um vier besuchen sie mich: deine, meine, unsere gespenster. nicht laut schreiend und wehklagend wie die tage zuvor, nein leise, ihre forderungen nur sachte an die wände malend. du hast ihnen einlass gewährt, hast ihnen nicht die begrenzte haltbarkeit deiner gastfreundschaft klargemacht. sie klagen und kratzen an den fenstern, sie huschen durchs dachgeschoß, daß ich betrete und fühle, dort oben wohne nicht ich, nicht wir, dort oben ist noch terra incognita, heimstatt eines schmerzlichen betruges. ich höre das ferne röcheln anderer wartender. gespenster haben eine fürchterliche eigenschaft. in jedes loch fehlender klarheit nisten sie sich ein und reiben ihrer stinkenden schwänze. und aus jedem qualvoll verspritzten tropfen erwacht ein neues noch größeres gespenst, eines dessen hohnlachen noch lauter und schneidender den schlaf erwürgt. oh du fata morgana, lichtspiegelung in der wasserwüste der liebe. draußen taumeln die seemänner und wollen an land, doch die nächtlichen schweren ketten rasseln vor einer hafeneinfahrt, welche gar nicht existiert. leuchttürme, in denen alte wächter mit rum gurgeln, versinken in der flut. heute nacht ist meine haut hart und glänzend, über meinen innereien liegt der panzer der erschöpfung und ich breche auf. was bist du, eine leinwand auf der aufgeregte leichtmatrosen ihre farbreste verkleckern, eine kneipe, in der vaterlose gesellen unter die tische pinkeln, die dornenhecke, in der liebeskranke troubadoure ihren rausch ausschlafen, um morgens das blut ihrer wunden in ihre weinkaraffen zu ergießen? oder bist du einer dieser spiegel, in die man hineingreift und plötzlich sein blutendes herz in den händen hält? ich erinnere mich nicht daran, daß von den zinnen deiner burg proviantpakete auf die singenden ritter hinabfielen, ich erinnere mich nur an das rasseln der skelette, über die ich stolperte und zu deren rhythmus ich neue lieder bastelte. in deinen gemächern stapeln sich nicht abgesandte worte, seidentücher, um die sich ganze bataillone duellieren würden. und dann schickst du dein kleines kind hinaus und weinend zucken die eben noch festen knie in den sand. das morgenlicht liebkost die wahnsinnigen und die eine rose, die du gabst, zerstreut sich in alle himmelsrichtungen, eine jede faust umklammert schwitzend ein blütenblatt. zuhause, in ihren jämmerlichen hütten sitzen die wallfahrer, alte kompendien wälzend, in der irren hoffnung ihre tränen und die leblosen säfte ihrer lenden erweckten das tote souvenir zu neuem leben. ich besteige mein armes altes pferd und rauchend machen wir es uns auf einer wegkreuzung bequem. die sonne leckt meine müdigkeit und traurig erwarte ich dein lächeln. der rosarote wind trägt mir entgegen, was ich verlor, den geruch deiner ewigkeit.

(notiert im januar 2001 für x)

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PS: Für obiges Bild danke ich „Professor“ Andreas M., einst Dresden, nun Berlin.

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Ab ins Grab mit Stinkefinger

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Es rutscht ein Jahr vom Teller

Und tut das immer schneller

So scheint es mit den Jahren

Buttermilch statt Bier und Wein

Zu allen Menschen freundlich sein

Den Vorsatz kannst Du sparen

Dir und allen anderen auch

Den dieser alte Vornehmbrauch

Trägt schneller Bärte als man denkt

So hat man sich umsonst verrenkt

Und bald zu viel versprochen

Was schneller noch gebrochen

Das neue Jahr in ganzer Leere

Gibt unbeschriftet sich die Ehre

So sollt man es bewahren

Und sich den Vorsatz sparen

Bis lediglich auf einen

Edel, hilfreich und auch gut

Vor dem Jammern auf der Hut

Wenig falsche Töne singen

Der Frau ans Bett den Kaffee bringen

Huch schon sind es mehr geworden

Sich selbst verliehen dieser Orden

Rasch spül ich noch den Teller

Auf daß das leere, neue Jahr

Darauf lieget wunderbar

TOI TOI TOI rufen die Geister

Das letzte Jahr war Scheibenkleister

Wie immer

Diesmal aber schlimmer

Was soll man da auch machen

Um die Wette lachen

Denn gar nichts ist umsonst

Von Teller rutschte es ins Grab

Winkend schauten wir hinab

Mit einem Stinkefinger

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Das Graue(n) lernen von Lot’s Weib

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Man dreht sich um, schaut zurück, mit Verve und Wucht ganz besonders in diesen Tagen ‚zwischen den Jahren‘, wie man vollkommen sinnbefreit die langen Stunden zwischen der Christmette und der Böllerei (fällt gerne aus!) bezeichnet. Ob man auf dieses Ritual nach diesem Jahr verzichten sollte? Fragen wir Lot’s Weib. Der tat das gar nicht gut, dieses Zurückblicken.

Zwischen den Jahren bleibt uns eigentlich nicht mal eine einzige Sekunde. Der Butler stolpert über den Tigerkopf. Mag er nun dem altem Jahr in das Schlafgemach folgen? So besoffen, wie er’s gerne wär‘, es aber nur spielt?

Vor wenigen Tagen sah ich im Fernsehapparat das „Werk ohne Autor.“ Müsste eigentlich heißen „Werk ohne Regie“. Was Baron von und zu Hunderteuro da verbrochen hat ist ein historisierender Softporno, schlimmer noch als das andere Leben der Anderen. Keine Farben. Eine dumme Denke in Schwarz / Weiß. Der Arsch der Beer. Das Fell des Richters. Ein Uecker, verkleidet als Mister Universum, nagelt blau blaue Nägel. Die DDR nichts als eine computerbearbeitete Sepialandschaft. Ich dachte an Christof Hein und seine Wut. Nur Oliver Masucci als Beuys beruhigte mich ein bisserl. Schlimm das alles. Dennoch blieb ein Grund für eine Erinnerung.

Eine Ausstellung einst in Köln. Oder Düsseldorf. Weiß nicht mehr genau. Die grauen Bilder von Gerhard Richter. Das Grauen im Grau. Heute fand ich im Netz ein Zitat des Künstlers. Man könne mit dem Grau „wenig falsch machen, es hat etwas von Vollkommenheit. Alles, was wir tun, kann ja zur Hälfte falsch sein. Das Falsch-Tun gehört ja zu uns. Und die Illusion zu haben, dass das mal überwunden werden könnte. Oder in dem ganzen Wust von scheiß Bildern, die man heute sieht – es wird ja immer schlimmer, das sind ja nur noch Berge von Elend“. Soviel heute am Abend noch zum jetzt entfleuchendem Jahr.

Anschließend dachte ich an Gerhard Richters Fenster im Dom zu Kölle. Ich stand gerne darunter und ließ mich beregnen vom Licht der Zuversicht.

Mein Wunsch für das neue Jahr? „Not to be wounded in hatred“

„And i know my song well before i start singin‘.“ Diese Textzettel hätte ich gerne aufgefangen, die Frau Smith ins Publikum warf. Nächstes Jahr dann.

Wird schon werden. Jammern ist keine Option. Ab jetzt Karl Geiger. Zieeeh!

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Wenn der Mond im siebten Hause steht

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Glaube ich dem Deutschlandfunk Kultur, den ich eben hörte, treten wir heute ein ins Zeitalter des Wassermanns. Dachte stets das hätten wir schon mal erlebt, aber ein Astrologe oder Astronom sagte eben, ab heute werde es richtig ernst und ante porta stellarium warte eine Aera der Harmonie und des Friedens. Und ich beginne zu verstehen.

Seit Wochen hat sich eine Horde Raben, die täglich anwächst, zwei kahle Bäume schräg gegenüber unseres Schlafzimmerfensters zur nächtlichen Ruhestatt auserkoren. Mit Einbruch der Dämmerung und lautem Geschrei über die Lahn in die verödete Innenstadt einfallen, dann die mit Lebensmittelresten überquellenden Müllbehälter plündern, eine anarchische Deko hinterlassen und ab in den Baum, aber nicht nur zum Schlaf. Durch die Ausgangssperre wohl so richtig angestachelt, gilt es nun einiges zu bereden. Zum Beispiel warum, obwohl da unten weniger Humanoide als sonst rumhuschen, der Tisch reicher gedeckt ist denn je, ob man die Tauben vor dem Schlafen gehen nochmal jagen sollte und wer weckt morgen und wann.

Der Rabe, ein mir symphatisches Tier – werde bald hier eine kleine Geschichte aus meiner frühesten Musentempelzeit hinterlegen – ist seit je her der Barde des Vergehenden, der Sänger der Entschwundenen, der Troubadour des Todes. Und er ist nicht schwarz, nein, in sein Gefieder hat der Schöpfer ein metallisch glitzerndes Blau eingewoben, als spiegelte sich darin ein letztes Mal die davoneilende Seele der Besungenen. Und er hat ihm vor allem ein Organ geschenkt, das Steine spalten kann und krächzen wie Tom Waits. Ein musisch begabtes, gescheites Tier. Besonders mag ich es zu beobachten, wenn die räuberischen Sängesbrüder oben auf einer Ampel sitzen, eine Nuss im Schnabel – eben schweigt er der Rabe! – und die, kaum sprang die Ampel auf Rot, aus großer Höhe auf den Asphalt klatschen lassen. Guten Appetit!

Zurück zum erhöhten nächtlichen Gesprächsbedarf der Horde vor unserem Fenster. Vielleicht liegt es ja daran, daß sie als Troubadoure des Todes zurzeit überbeschäftigt sind und das muß man sich nachts mal von der Seele reden. Kenne ich sehr gut. Siehe oben: einst im Musentempel. Also wache ich immer wieder auf in den letzten Nächten, ob es die Raben vor dem Fenster oder jene in meinem Kopp sind, die mich auf die Beine stellen, nichts ist gewiß, geistere ausdauernd und den Schlaf herbeisehnend durch die Wohnung, lauschend dem auf – und abschwellenden Gesang und blicke auf leere Blätter.

Morgens, meine Gattin verläßt früh um sieben das Haus gen Arbeit, die mich nährt, aufmerksam beäugt von den Barden, schwillt das Getratsche ein letztes Mal richtig an, einzelne Schreie verkünden den neuen Tag, vielleicht ist es ja der Weckbeauftragte, vielleicht wird die Tagesparole ausgegeben oder die Liste der in der Nacht Verstorbenen aktualisiert und – zack – brechen sie auf, ein letztes Getöse und Flügelschlagen und ich finde endlich noch etwas Schlaf.

Davor aber sehe ich aus dem Fenster und zähle die neu emanierten Sterne auf dem Pflaster. Der Rabe trägt keine Windel. Diese Sterne sind zwar aus Scheiße, sind jedoch trotzdem Sterne und in Sachen Hoffnung sollte man als Mensch derzeit nicht allzu wählerisch sein. Es ist die Dämmerung des Zeitalters des Wassermanns. Die Raben befinden sich in der Umschulung.

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Well, I’ve been to London and I’ve been to gay Paris

I’ve followed the river and I got to the sea

I’ve been down on the bottom of a world full of lies

I ain’t looking for nothing in anyone’s eyes

Sometimes my burden is more than I can bear

It’s not dark yet, but it’s getting there

(Bob Dylan)

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PS: Obiges Lied sang der Meister mir zu meinem vorletzten Geburtstag.

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Schaben fliehen w-einend

(Betreff einer Spam – Mail vom 19.12. 2020)

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Draußen angenehm gespenstische Leere. Deja vu. Kaum waren die Läden geschlossen, öffnete sich der trübe Himmel und die kalte Sonne erhellt freie Parkplätze. Subjektives Empfinden oder zynische Erleichterung eines Innenstadtbewohners? Lassen Sie sich das Wort Parkplatzsuchverkehr auf der belegten Zunge zergehen, zerkauen Sie es bis man die Belästigung schmecken kann und spucken Sie alles dann aus neben einem der überquellenden Mülleimer. Pizzakartons. Kaffeebecher. Nudelboxen. Bubbleteatassen. Undefinierbares. Masken und Masken. Spritzen. Der rote Bulle, der nicht fliegt. In Knitterdosen. Zum Gehen oder hier? Obsolet diese Frage. Gibt eh nur noch „zum Gehen!“ Schaben fliehen w-einend. Die kümmerlich asphaltierten Plätze, „schwarzer Beton der sonst dient als Laufsteg eines käuflichen Niemandsvolkes“ (frei nach Wolfgang Hilbig), atmet glühweinbefreit Möglichkeiten. Luft. Die eigenen Schritte sind zu hören, die Stille gebrochen nur vom hastigen Trippeln der Paketboten. Man selber hetzt nicht wie die armen Lieferschweine. Der Atem pocht ruhig hinter der Maske, der Bart wird feucht. Von den Titelseiten der Zeitungen brüllen leis‘ die Klagen. Liest sowieso keiner. Stiller Tag und Stille Nächte. Schaben fliehen w-einend. Ratten kollabieren auf Dönerresteentzug. Im Schaufenster einer geschlossenen Eisdiele sitzen drei Schlümpfe. Sie sind guten Mutes. Ich heute auch. Ist dies nun Traum, Alptraum, das wahre Leben oder nur der Zustand eines vorüberhuschenden Heute? Und was soll man davon berichten und wo einfach lediglich schweigen? Poesiealben sind seit März im Sonderangebot. Bundesweit. Deutschland funkt Kultur.

Zuhause dann – die Heizung ist noch kein einziges Mal ausgefallen und der Kühlschrank immer noch ausreichend gefüllt – lese ich in einer Biographie über Wolfgang Hilbig, der meine Gedanken dieser Tage mit Beschlag belegt, eine paar Sätze aus einem Vortrag über Lyrik, den Hilbig 1992 in den USA gehalten hatte: „Das sogenannte ‚wahre Leben‘, wie es von Gott und aller Welt institutionalisiert werden soll, erweist sich schon durch den Zusatz ‚wahr‘, den es benötigt, als ein Zustand, dessen Existenz jeden Zweifel verdient. Ein Mehr oder Weniger an Wahrheit kann es für eine Wirklichkeit nicht geben, sonst wäre dieser Begriff der Sprache falsch.“

Dann noch dieses: „In der Regel ist das Neinsagen der Beginn dieses Ich – Empfindens. Ein Dichter, der sich nicht mit der vorgefundenen Wirklichkeit zufrieden geben will oder kann – der sich also nicht als bloßer Barde des Bestehenden begreift: wenn hier von Begreifen überhaupt die Rede sein kann – wird auf eine bestimmte Art immer in einer Lage sein, in der er das Leben, oder die Welt, oder Teile davon, neu und von vorn beginnen muß, und selbst, wenn er dies im Rückblick, im Erinnern kann. (…) Wenn es dieses Ideal gibt, oder geben soll, diese immer wieder am Anfang stehende Weltsprache der modernen Poesie, so wird in dieser das Wörtchen ‚ich‘ mit dem Wörtchen ‚nein‘ übersetzt.“

Das Viele, es fehlt mir nicht. Das Wenige, es reicht dieser Tage. Und es ist nicht das Wenige von Gestern. Es ist von heut‘. Schaben fliehen w-einend.

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KEINER WEINE

Rosen, gottweißwoher so schön,

in grünen Himmeln die Stadt

abends

in der Vergänglichkeit der Jahre!

Mit welcher Sehnsucht gedenke ich der Zeit,

wo mir eine Mark dreißig lebenswichtig waren,

ja, notgedrungen, ich sie zählte,

meine Tage ihnen anpassen mußte,

was sage ich Tage: Wochen, mit Brot und Pflaumenmus

aus irdenen Töpfen

vom heimatlichen Dorf mitgenommen,

noch von häuslicher Armut beschienen,

wie weh war alles, wie schön und zitternd!

Was soll der Glanz der europäischen Auguren,

der großen Namen,

der Pour le mérite,

die auf sich sehn und weiter schaffen,

ach, nur Vergehendes ist schön,

rückblickend die Armut,

sowie das Dumpfe, das sich nicht erkennt,

schluchzt und stempeln geht,

wunderbar dieser Hades,

der das Dumpfe nimmt

wie die Auguren –

keiner weine,

keiner sage: ich, so allein.

(Gottfried Benn)

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