In the Bordertowns of Despair / Two

…..

Bob Dylan / Shanghai

…..

2

Es gibt jene Stunden, es gibt diese Nächte, in denen sich irgendetwas zusammenbraut, jene langen Minuten, in denen Gott Goldfische in ein Glas steckt, sie mit Schnaps begießt und den Pürierstab hineinhält und grinst. Es sind jene Stunden, diese Nächte, in denen Gott sich langweilt oder einfach nur den Beweis führen will: “Was ich erschuf ist ein Haufen Scheiße und ich kann nichts dafür.“ Und wenn es ihm Spaß gemacht hat, malt er ein großes X an seine Zimmertür. „Empfänger unauffindbar verzogen!“ Wer Gott schon mal besucht hat, weiß: diese Türe ist verdammt groß.

In dieser Nacht träumte sie wie sie einen Zug bestieg. Der Zug verließ den Bahnhof und an den Fenstern rauschte etwas vorbei was aussah wie eine friedliche Landschaft, grüne Wiesen, alte Bäume an denen kleine harte und saure Jungäpfel glitzerten. Ein feuchtes, Regen ankündigendes Sommerlicht, nicht sonderlich beunruhigend. Eine ihrer Angewohnheiten war es alle zehn Minuten die im Zug ausliegenden Fahrpläne zu studieren. Sicher ist sicher und wer weiß was schon. Auch Züge können abbiegen. Weichenlos. Plötzlich forderte die Stimme des ersten Zugbegleiters sie auf den Zug unverzüglich zu verlassen. Sie tat wie geheißen. Sie stand auf der grünen Wiese. Und erwachte verwirrt. Diesmal hatte sie noch nicht geschrien.

Er fasste sich und den Telefonhörer und hörte warme Worte, versuchte sich aufzurichten, packte seinen Koffer und brach auf um nach Hause zu fahren. Die Straßenbahn weigerte sich in die Haltestelle einzufahren, mehr und mehr Menschen drängelten sich aneinander. Es war ein Samstag. Wer möchte da nicht in den Fußgängerzonen zerquetscht werden? Die Verkehrsbetriebe seiner alten Stadt sprachen zu den Wartenden: „Auf Grund eines entgleisten Zuges ist auf den Linien x, x und x mit Verspätungen bis zu einer halben Stunde zu rechnen. Wir bitten um ihr Verständnis.“ Vor dem Fahrkartenautomaten bildeten sich verständnislose Schlangen und zwei junge Mädchen, die die Jugendherberge soeben ausgespuckt hatte, boten ihm an ihn unter der Bedingung, er möge ihnen zeigen, wo der Dom steht, zum Bahnhof mitzunehmen. Er willigte ein. Und fluchte in sich hinein, wie er es immer tat, wenn die Welt sich nicht in seinem Tempo bewegte. Und heute?

Sie erwachte. Sie hatte keinen Kater. Weil sie es nicht will? Weil sie es nicht kann?

*

(Mainz / Oktober 2000)

…..

In the Bordertowns of Despair / One

…..

Bob Dylan / Carbondale Motel

…..

1

Es genügte ihm. Einmal aufwachen, Tränen und Bescheid zu wissen. In der Wohnung seiner Schwester hatte er genächtigt und der alte dicke Kater saß zu seinen Füssen und hatte ihn angeblickt. Auch der wusste: es ist vorbei. Die Luft über der Stadt hatte sich früher als erwartet und erhofft in die Arme des Herbstes gelegt. Dieses Jahr, geizig wie seine Liebste, hatte keine Sekunde zu viel des Sommers rausgerückt. Die Menschen waren nervös und von seltsam trauriger Aggressivität befeuert. Ein paar Zeitungen unter den Arm geklemmt quetschte er sich an den Tresen eines Stehcafes. Dieser war knappe drei Zentimeter breit. Seine Tasse taumelte hin und her und das belegte Brötchen verwandelte sich zu trockenem Brei zwischen seinen Zähnen. Da stand er, würgte und wußte: etwas stirbt. Wenn die Sportseite vor deinen Augen verschwimmt, ist es Zeit nachzudenken. Wenn die Geldstücke im Portemonnaie kleben bleiben und die Schalterdame in der letzten Vorortpostfiliale blickt, als hätte sie den Leibhaftigen geküsst, ist etwas geschehen, dessen Wucht dir das Genick brechen wird.

Schon der gestrige Abend trug Keime des Verfalls in sich. Die Vorstellung, von einer ominösen Stahlfirma gekauft, mit Haut und allen Haaren, begann einfach nicht. Etliche Reden wurden gehalten, es wurde der verstorbenen Firmenmitglieder gedacht und die Pause dauerte solange bis auch der Portier des Unternehmens sein siebtes Sektglas durchgegurgelt hatte. Die Kollegen trugen ihre Worte mit gebührender Distanz über die Bühne und einmal strich eine Hand über seinen Kopf : „Bist du traurig?“. Warum ist man manchmal in der Lage zu verneinen? Als der Zug zurück in die Domstadt sich eine halbe Stunde vor Ankunft auf den Gleisen festfraß und nicht mehr weiterbewegte, wuchs die Zeichenvielfalt ins Unerträgliche. Personenschaden. Er wußte von nichts. Er wußte alles. Er fuhr in den wartenden Abgrund.

In der neuen Stadt hatte sie sich betrunken. Ein Portugiese hatte um die Ecke aufgemacht und keine Stunde länger hätte sie es ausgehalten. Mit ihm. Ohne jenen. Es hatte sie etwas in den Hals gebissen, was sie so nicht kannte. Ihre Augen zogen sich zusammen und mit den letzten Resten ihres instinktsicheren Verstandes ergriff sie die Flucht. Dorthin wollte sie. Das Telefon schwirrte über ihrem toten Schlaf und heute noch ist sie sich nicht sicher, ob sie noch etwas hören konnte oder schon nicht mehr wollte.

In der neuen Stadt geht in jener Nacht der Andere Zigaretten holen und wird blind im Bier. „Come as you are!“ singt er vor sich hin und bricht ein Versprechen. Ein zweites Mal geht er Zigaretten holen, wieder und wieder greift er zum Streichholz und atmet ein den erlösenden Rauch und tänzelt, siegessicher und zitternd wie Espenlaub. Wir wissen nicht, ob er unter ihrem Fenster stand. Wir wissen lediglich: er heißt Curt. Nicht Kurt, nein, sondern: Cörd, wie dieses weggeblasene Gehirn hinter der Polizeiabsperrung an einen kalten Herbsttag in Seattle.

Sie schläft. In dieser Nacht begann der Herbst. Meteorologisch.

*

(Mainz / Oktober 2000)

…..

It was twenty years ago today …

…..

…..

… als nicht etwa Leutnant Pfeffer seiner Combo die Flötentöne beibrachte, sondern mein Telefon klingelte, eine Stimme mich – ja! – anschrie, ich solle sofort den Fernseher einschalten und zehn, hundert, tausendmal flog ein Flugzeug in den zweiten Turm. Die Abendprobe fiel aus.

*

Ich lebte seit ein paar Wochen, da wo ich heute noch lebe, in einer noch nicht komplett renovierten Wohnung, zwischen Pappkarton und Gyros und der Tod hatte mich umzingelt. Die Stimme am Telefon gehörte zu meiner damaligen Liaison, wir beide schwer verwundet noch von fiesen Trennungen (Alle Trennungen sind fies! Schönen Gruß vom Säzzer!) und so auf eine nächste Trennung zustürmend. Die Frau war Pneumologin und begleitete in ihrer Klinik vor allem am Kaposi – Sarkom erkrankte HIV – Positive auf die andere Seite. An manchen Abenden half nur viel Wein.  In meiner Geburtsstadt lag mein Bruder auf der Intensivstation. Ein Arzt, der später freiwillig den Planet verlassen sollte, hatte ihm das Leben gerettet. Knapper als knapp. Hatte ich mehr als 24 Stunden probenfrei rauschte ich in den Süden. Ich sprach, als eine Art Familienältester, ein / zweimal mit diesem Arzt. Beeindruckende Persönlichkeit. In Flur der Klinik stehend rauchte jeder von uns in einer halben Stunde ein halbes Dutzend Gauloises bleu weg. Die Pneumologin tröstete mich mit den Worten: „Christian, das härteste für uns Ärzte sind die nahen Angehörigen und die Ungeduld!“

*

Zu dieser Zeit spielte ich – meine erste Rolle hier – einen dem Tod geweihten alten Familientyrann, der die Hochzeit seiner Tochter mit einem Künstler und Freigeist mit allen Mittel verhindern wollte. Racine, der Vorgänger und Wegbereiter von Moliere hatte diese Geschichte verfasst. Der Regisseur kam aus dem Osten und ließ mich zu einem über Hundertjährigen, der über die Bühne humpelte, mit Krückstöcken um sich schlagend, schminken. So zwanzig Minuten war ich auf der Bühne, jedoch neunzig Minuten – manchmal sogar länger – in der Maske. Jedes Mal, blickte ich nach der Prozedur in den Spiegel, sah ich Dustin Hoffman am Anfang von „Little Big Man“ oder schlimmer noch, ich erblickte meinen Vater im offenen Sarg damals.

*

Ich saß vor der Glotze, telefonierte, dieses sei doch einer jener spekulativen Weltuntergangsblockbuster mit denen Hollywood seit ein paar Jahren die Kinos dieser Welt penetriere, so das hilflose Gestammel. Die Stimmen der Kommentatoren, anfangs von fassungsloser Ungläubigkeit, wechselten binnen weniger Stunden in kieferknirschende Racheschwüre. Die Geburtsminuten von Guantanamo und Abu Ghraib. Das alte Prinzip eben, die Menschenverachtung mit der Menschenverachtung zu bekämpfen. Und die Vorbereitung einer weiteren schrecklichen Niederlage unserer Befreier. (Tja, der Blutzoll der Roten Armee wird gerne vergessen! Noch e‘ Grüßle vom Säzzer!) Man komme bloß nicht auf die Idee gegenzurechnen.

*

Am nächsten Tag saßen wir schon um elf Uhr morgens im Burghof, direkt gegenüber vom Theater, damals Kantine, Debattierclub und Rettungsanker bis nachts um drei. Grazie, Maestro Parisi! E molto grazie Donna Parisi naturalamente! Axel, der Regisseur wollte hinschmeißen. „In diesen Zeiten kann ich doch keine Scheißkomödie auf die Bühne stellen!“ Wir waren erst ratlos, dann betrunken. Zuhause rief mich die Ärztin an. Ihr Chef schicke sie per Flugzeug in die USA. Ich weiß nicht mehr, was ich in den Hörer brüllte. Ein paar Tage später flog sie tatsächlich los. Die Premiere fand dann doch statt. Die Trennung folgte auf den Fuß. Mein Bruder überlebte.

*

Ich weiß nicht, wer es erfunden hat. Vielleicht die frühen Italiener in San Gimingiano oder Bologna? Oder die Bewohner auf diesem wilden Finger des Peloponnes, der Mani? Um den Nachbarn, der gerne auch der Feind ist, zu beeindrucken und zu zeigen, wo der Hammer hängt, baut man den höchsten Turm im Dorf. Und die Antwort folgt sogleich, der Nachbar rüstet nach beziehungsweise auf. Ständerpolitik. Pimmelarchitektur. Karl Heinz Stockhausen – ach welcher Schrei der Empörung damals – hatte recht, als er davon sprach, was für eine wirkmächtige Inszenierung dieser Anschlag auf das großkotzige Symbol des Siegers der Geschichte vulgo Kapitalismus doch gewesen war. Er erschrak, kaum waren die Worte über seine Lippen gerutscht. Man kennt sie diese Reflexe. Es wird nicht gerne gesehen, wenn Du den Fluß überqueren willst. Die höchsten Türme der Menschheit bauen heute die alten Förderer der Piloten vom 11. September. (Danke dafür nicht 9 / 11 wiedergekäut zu haben. Der heute etwas geschwätzige Säzzer!) Deren einstige Förderer wiederum, es lebe die Vergeßlichkeit, waren die Erbauer der eingestürzten Türme. Davon berichtete schon Tolkien. Bände 3 & 4.

*

Dem anderen den Krieg zu erklären, selbst in verständlichster Verzweiflung, zerstört letztlich Dich selbst. Dieses in die Wege zu leiten sei einem jeden gestattet. Aber die Strecke, die der Jäger nach der Genugtuung hinterlassen hat, sie ist immer eine viel zu lange. Da hilft auch kein Halali!

*

Als Rio obiges Lied – meine Lieblingsstelle, wenn Rio ein Solo des Gitarristen mit einem herzhaften ‚Lanrue‘ einruft! – sang, regierte die sogenannte Heimstatt der Tapferen (Hähähä von wegen tapfer! Agent Orange und Drohnenkrieg! Etz halt ich die Gosch! Der Säzzer!) ein Sternenkrieger und Tarzandarsteller. Wir dachten, schlimmer geht es nicht. Das war aber erst der Anfang. Ronald MC Donald! Dig it, Stupid! Hinterher ist man meist nicht klüger, sondern macht einfach weiter. Die Rechnungen bezahlen eh die anderen. Davon gehen wir gerne aus. Schaun mer mal!

*

Ach so, die Lichtgestalt hat heute Geburtstag und Herr Zimmermann veröffentlichte vor zwanzig Jahren sein Album „Liebe und Diebstahl!“ Sang von den brechenden Dämmen. New Orleans knows about it. Schon wieder.

…..

…..

Von der Zweisamkeit eines Elefanten

…..

…..

Die Einsamkeit des Elefanten

Nicht mal seine Mütter kannten

Später dann die Väter

*

In einer allzu sehr gefüllten Schüssel

Rieb freudig nachts er mal den Rüssel

Vergaß so was er aß

*

Es wedelten seine großen Ohren

Die Orientierung ward verloren

Im Krater der schreckliche Kater

*

Des Elefanten Einsamkeit

Währt schon eine Ewigkeit

Die Lenden aber enden

*

Man sah den Elefanten steppen

Mitten in den kargen Steppen

Doch nah dem Wasserloch

Das trocken ward gefallen

Trotz allem

*

(Wiesbaden / 1999)

…..

bagatelle vierundvierzig

…..

…..

vor dem nächtlichen balkon

unserer ersten reise

lagen schafe dösend in dürrem gras

ich sprach sie an

sie gaben antwort

schliefen weiter dann

wie du

die du mich geweckt hattest

auf dem nächtlichen balkon

zweimal

jan ullrich fuhr ins gelbe trikot

am nächsten tag

und mir gehörte die welt

sekunden

*

(Thassos / 1997)

…..

bagatelle einundvierzig / pere lachaise

…..

…..

Bevor ich in den großen Schlaf sinken werde

Möchte ich daß Du den Schrei eines

Schmetterlings hörst

Sagte ich zu ihr

Die mich begleitete

Jene angebetete Schaustellerin der Liebe

Die stand irritiert vom Leben jenseits der Bühnen

Mit mir am Grab des Sängers

Der zu schön war für den Rock’n’Roll

Und in einer Badewanne landete

Als er den Blues entdeckte

Um einzuschlafen für immer

In der Stadt der Liebe

Die ich suchte festzuhalten dort

Vergebens und hörte wie

Alle Schmetterlinge entflohen meiner Brust als ich sah

Ihr gelangweiltes Gesicht

Ob meiner kindischen Freude

Und ihre Gewißheit den Sänger im eigenen Bett

Empfangen zu dürfen

Hätte sie nur wollen dürfen

Zwischen ihren überschminkten Augen glaubte ich

Dies zu lesen

Vor dem Friedhof in einem Bistro

Trank ich drei Pernod

Sie schwieg eisern

Wie mein schmerzendes Herz

*

(Paris / Frühjahr 1998)

…..

PS: Zum fünfzigsten Todestag. Weiß immer noch nicht, was ich von ihm halten soll. Dieses Lied mochte ich immer sehr.

…..

PS2: Das Photo oben hat mir Mick Jagger zur Verfügung gestellt.

…..

Mit Dylan durch ein Leben latschen / 6

…..

…..

Eimer randvoll geregnet

Eimer voller Tränen

Manchmal quellen meine Eimer mir aus den Ohren raus

Eimer voller Mondstrahlen in meiner Hand

Ich trage soviel Liebe mit mir rum, Liebste

Das hältst du nicht aus

*

Ich war sanftmütig

Ich war hart wie Eichenholz

Ich sah Schöne und Reiche sich in Rauch auflösen

Freunde werden ankommen, Freunde werden verschwinden

Wenn du mich willst, Liebste

Ich werde da sein

*

Ich liebe dein Lächeln

Deine Fingerspitzen

Ich liebe die Art und Weise wie du deine Lippen schürzt

Ich liebe wie du mich geringschätzig anblickst

Alles an dir bringt mir

Schweren Kummer

*

Kleine rote Kutsche

Ein kleines rotes Fahrrad

Ich bin kein Zirkusaffe aber ich weiß was mir gefällt

Ich liebe es wenn du mich stark und langsam liebst

Ich werde dich mitnehmen, Liebste

Wenn ich dann gehe

*

Das Leben ist traurig

Das Leben ist eine einzige Pleite

Alles was du tun kannst ist tu was du zu tun hast

Tu was du zu tun hast und tu es richtig

Ich tu das alles für dich, Liebste

Das weißt du schon

…..

Der Mann, der mich als Sänger, Musiker und Dichter ein Leben lang begleitete, lebt noch. Er wird bald 80 Jahre alt werden. Deshalb ein kleiner Countdown to Zimmermann`s Birthday. Noch 5 Tage. Get prepared!

…..

bagatelle siebenundzwanzig / slubice 2

…..

…..

wütend

müde

mütend

einen nagel in den pudding gehämmert

passt wackelt keine luft

dein duft irrt immer noch

rum in den

vernachlässigbarkeiten

gestern stolperte ich

über das vergessen

blieb liegen

heute graupelschauer

der winter winkt mir hinterher

herzensmuskelkater

ein lied meine bagatelle

ein lied noch erinnernd

immer und hin

…..

(frankfurt an der oder / 1999)

…..