Man dreht sich um, schaut zurück, mit Verve und Wucht ganz besonders in diesen Tagen ‚zwischen den Jahren‘, wie man vollkommen sinnbefreit die langen Stunden zwischen der Christmette und der Böllerei (fällt gerne aus!) bezeichnet. Ob man auf dieses Ritual nach diesem Jahr verzichten sollte? Fragen wir Lot’s Weib. Der tat das gar nicht gut, dieses Zurückblicken.
Zwischen den Jahren bleibt uns eigentlich nicht mal eine einzige Sekunde. Der Butler stolpert über den Tigerkopf. Mag er nun dem altem Jahr in das Schlafgemach folgen? So besoffen, wie er’s gerne wär‘, es aber nur spielt?
Vor wenigen Tagen sah ich im Fernsehapparat das „Werk ohne Autor.“ Müsste eigentlich heißen „Werk ohne Regie“. Was Baron von und zu Hunderteuro da verbrochen hat ist ein historisierender Softporno, schlimmer noch als das andere Leben der Anderen. Keine Farben. Eine dumme Denke in Schwarz / Weiß. Der Arsch der Beer. Das Fell des Richters. Ein Uecker, verkleidet als Mister Universum, nagelt blau blaue Nägel. Die DDR nichts als eine computerbearbeitete Sepialandschaft. Ich dachte an Christof Hein und seine Wut. Nur Oliver Masucci als Beuys beruhigte mich ein bisserl. Schlimm das alles. Dennoch blieb ein Grund für eine Erinnerung.
Eine Ausstellung einst in Köln. Oder Düsseldorf. Weiß nicht mehr genau. Die grauen Bilder von Gerhard Richter. Das Grauen im Grau. Heute fand ich im Netz ein Zitat des Künstlers. Man könne mit dem Grau „wenig falsch machen, es hat etwas von Vollkommenheit. Alles, was wir tun, kann ja zur Hälfte falsch sein. Das Falsch-Tun gehört ja zu uns. Und die Illusion zu haben, dass das mal überwunden werden könnte. Oder in dem ganzen Wust von scheiß Bildern, die man heute sieht – es wird ja immer schlimmer, das sind ja nur noch Berge von Elend“. Soviel heute am Abend noch zum jetzt entfleuchendem Jahr.
Anschließend dachte ich an Gerhard Richters Fenster im Dom zu Kölle. Ich stand gerne darunter und ließ mich beregnen vom Licht der Zuversicht.
PS: Lektion zum Algorithmus und dem eingebauten Zynismus. Ich verlinke ein Lied von Victor Jara, der mit tausenden Anderen im Fußballstadion von Santiago de Chile gefoltert und getötet wurde. Und der Algorithmus von You Tube liest nur Estado, also Fußballstadion und zeigt blöd wie ein Meter Feldweg im folgenden nur Fußballspiele. Ich kotze. Dann schießen mir Tränen in die Augen. Hört das.
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Für obiges Foto danke ich dem Mensch an meiner Seite.
Zeit zu Lesen war ausreichend dieses Jahr. Kein dienstliches Lesenmüssen, kein in irgendeine Richtung sammelndes Lesen, nein, ziellos in der Gegend rumlesen, Zufälle, sich beschenken lassen, sogar ab und zu diese nun allüberall hängenden öffentlichen Büchertauschschränke durchsuchen.
Ein Buch hat mich besonders beglückt, weil es den Nagel auf den Kopf von eben Erlebtem traf: Thilo Krauses „Elbwärts“. Ich las eine Besprechung und dachte ja und her damit. Im Juni, als wir nach dem ersten Schließrunter wieder die Nase in etwas weiter entfernte Luft stecken durften, hatten wir eine Woche Urlaub in einer Ferienwohnung im Erzgebirge gebucht, wanderten viel, fuhren in der Gegend rum: Glashütte. Königstein. Bad Schandau. Teplice. Bärenfels. Rechenberg. Usti nad Labem. Mückenberg. Und mehr. Gute Tage, sehr gute Tage. Auch deshalb bestellte ich das Buch.
Ich war eben vom Bodensee zurückgekehrt, ein alter Freund hat mir ein Zimmerchen mit Blick über den See gen Meersburg, separatem Eingang und, wenn gewollt, bestmöglicher Versorgung zur Verfügung gestellt. Ich hatte mir einen Motorroller geliehen, um den Bodanrück zu erfahren. Dummerweise war der Verleiherkerle einer der Chefnichtdenker der Virenleugner / Ortsgruppe KN. Aber des isch ä ganz andre Schtorie. Ich hüpfte jeden Morgen um achte am legendären Hörnle in den See und traf einige alte Weggefährten mit denen ich jene schwerelosen Jahre zwischen Abitur und bis es beruflich ernst wurde verbracht und verfeiert hatte. Nach langer, langer Zeit mal wieder sprachen wir mitenand. Es schrumpfte die Zwischenzeit zu alter Nähe. Gute Tage, sehr gute Tage. Ich versöhnte mich mit der Gegend da unten mit der ich schon ä weng auf Kriegsfuß stand und steh und war fast schon bereit die Heimatliebe in mir aufkeimen zu lassen, als mich wieder die gute alte linke Gerade aus Konschtanz traf, unerwartet diesmal aber wie noch selten. Dies geschah an einem der Tage, als das kürzlich bestellte Buch sich auf dem Postweg befand.
Ich nahm das Buch aus der Hand des Paketwoyzecks entgegen, packte es aus, schlug es auf und las die Widmung: ein Zitat des guten Gundi. Dann den Rest der Geschichte am Stück. Von der ersten Seite an packte mich die karge, poetische Sprache. Ich wußte nicht – die nächste Empfehlung – daß der Autor als Lyriker begonnen hatte. Keine Ausschweifungen, keine Bordüren. Kein lineares Runtererzählen einer Geschichte. Sprünge. Bilder. Assoziationen. Ich konnte die Wälder riechen, die wir im Juni durchwandert hatten. Fein. Und natürlich traf mich die Geschichte über den Versuch einer Heimkehr auf dem oben erwähnten von linker Gerade noch immer blauem Aug‘. Ich habe mich per Mail beim Autor für das Buch bedankt und er hat mir freundlichst geantwortet. Das ist selten und daher schön. Kaufen. Lesen. Und verschenken. Hier ein Gedicht von ihm. Ich hoffe, ich darf das.
Neunzehnhundertachtzig zog ich nach Köln, um Schauspieler zu lernen. An einem der ersten Tage dort stand ich mit einem neuen Klassenkollegen, der bald einer meiner besten Freunde werden sollte, vor der Schlosserei des Schauspiels und wir lauschten einer damals nur in Köln bekannten Drei – Buchstaben – Beatband. „Sag mal, Karl, sind das Holländer? Was singen die denn da?“ „Kölsch, Du Drisskopp!“ Ich war in einer Stadt gelandet in der das heimische Bier und der Dialekt, der fast eine eigene „Sprooch“ war, denselben Namen trugen. Das gefiel mir. Als ich später dann von trink – und sangesfesten Fachfeierbiestern in den Straßen – und Kneipenkarneval eingeführt wurde, inklusive intensivem Textstudium der mitzusingenden Standardhymnen, vor allem von den „Fööss“, war es um mich geschehen und ich war verliebt. Kölle, Du ming Stadt am Rhing. Und ich konnte die Tränen des freundlichen und pausenlos redenden (Kölle !!!) Autofahrers– ich trampte übers Wochenende oft an den Bodensee zur Freundin oder Familie und zurück , ja, das ging damals problemfrei und pünktlich – die ihm auf der Rodenkirchner Autobahnbrücke nach ewig langer Abwesenheit beim ersten Anblick des Domes in die Augen schossen, mitweinen.
Erste Risse wurden dieser Liebe zugemutet, als in den zunehmend selbstverliebter werdenden 80ern etliche Nachfolgebarden der Black Fööss Stolz und Heimatliebe als eine Art Geschäftsidee entdeckten und ein permanentes „Viva und Heil Dir, oh mein Kölle“ aus den Boxen schallte. Den alten Hymnen waren Ironie und Sentiment ausgetrieben und es war ein einziges Gröhlen und Kassenklingeln und besoffen durstige Karawanen, die durch das Vringsveedel torkelten. Ich nenne es gerne die Verhöhnerisierung der eigenen Herkunft. (Danke, gw!) Zur Strafe wurde der FC Kölle dann zur Fahrstuhlmannschaft degradiert. Doch die Sehnsucht nach diesem ganz besonderen Menschengemisch blieb und selbst als ich schon länger in der kleinen hessischen Provinzstadt lebte, verbrachte ich noch regelmäßig etliche Wochenenden oben am Rhing und feierte manchen Karneval, aber „et Hätz schlug nit mie Kölsch“. Too much Monkey Business.
Jetzt hat – es begann wohl vor vier oder fünf Jahren mit weit über zwanzigjähriger Verspätung, was schnell ist für Gießen – die Verhöhnerisierung der eigenen Herkunft auch meinen derzeitigen Wohnort erreicht. Man findet doch tatsächlich 111 sehenswerte Orte hier indem man jede überquellende Mülltonne oder eine das Stadtbild (Welches Stadtbild bitte?) verhunzende Fußgängerbrücke zu Kulturdenkmälern erklärt, jeden Viertelpromi, der hier mehr als drei Semester studiert hat, einfach mal eingemeindet oder die 100 Gründe in die Tasten haut, weshalb man seinen Geburtsort so ganz arg lieb hat, wobei ich vermute, daß neben der wohlfeilen Geschäftsidee, etwa 92,5 % der Gründe der Psyche einer Kleinstadt zuzuschreiben wären, sprich das ständige Pendeln zwischen Mittelmäßigkeit frei nach Büchner und dezenten Anfällen von Großmann*genderstern*frausucht. Ich möchte nicht der Weihnachtsbaum sein müssen unter dem diese Werke als Geschenk rumliegen.
Und noch so eine Buchkrankheit ist, auch hier liegen die Wurzeln in Kölle, Manuel Claus Achim Andrack (sic!), der Sidekick von Harald Schmidt started the fire, die grassierende Wander- und Waldbucheritis. Seit ich denken kann, mein Vater kannte da keine Gnade und ich erbte dies gerne, latsche ich an den Wochenenden durch Wälder, egal wo ich lebte oder arbeitete. Und es tut gut. Fertig! Nie aber käme ich auf die Idee davon zu radebrechen, wie der Wald meine Seele reinigt, das Wandern mich zu mir selbst und alle Probleme dann so klein und wie so ein gekochtes Ei in der freien Natur und dann diese Aussicht, also, diese Aussicht und das Bier danach, es perlt, ach und all die wohlfeilen Textbausteine, während die Harvester todbringend die Bäume umarmen und ich das dann auch noch tun und davon sprechen muß ohn‘ End? Die Vöglein schweigen im Walde, dichtete schon der Geheimrat.
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PS: Es halten die Touristeninfos, die Bahn und die Verkehrsverbünde seit eh und je wunderbare und kostenfreie Wanderführer bereit. Leider halt ohne Bildstrecken, welche die Verfasser beim „In – Wäldern – Posen“ zeigen.
PS2: Man sollte der Heimat nicht die Schmerzen, Irrtümer und vor allem nicht die Ambivalenzen austreiben. Geht auch anders. Siehe Gundermann.
PS: Alle Fotos auf dieser Seite sind von vom Autor selbst geschossen . Für obiges Foto danke ich aber ausdrücklich und rechtlich Freund Ulrich M. aus Staad.