Die Zivilisation ist ein dünner Firnis, darunter brodelt die Barbarei (27.1.1945)

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Verfall

Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,

Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,

Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,

Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten

Träum ich nach ihren helleren Geschicken

Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.

So folg ich über Wolken ihren Fahrten.

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.

Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.

Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,

Indes wie blasser Kinder Todesreigen

Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,

Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.

(Georg Trakl)

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Der Firnis namens Zivilisation ist doch recht dünn und rissig. Auch 76 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee der damaligen Sowjetunion schadet gelegentliche Erinnerung nicht. Ach, nötiger denn je ist sie. Genau so wenig schadet uns die Selbstbefragung. Es ist nie zu früh in den Spiegel zu blicken.

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„Du kannst tun, was du willst, du kommst von Auschwitz nicht mehr los

Gesetzt, du wärst nach Auschwitz kommandiert worden, was hättest du dort getan? Nein, sage nicht, die Frage sei unsinnig, da du ja eben nicht dort gewesen bist …

Und es brauchte ja nicht Auschwitz zu sein, nur eine Handvoll Morde, und auch gar nicht im Krieg, nur in der Kristallnacht, und auch nicht eine Handvoll – ein einziger

„Aber ein Kind hätte ich nie getötet …“ Du siehst dich mit einer großen Gebärde vorm Ofen stehen und einen Befehl verweigern und dich in die Flammen stürzen … So träumen Zwölfjährige von Heldentaten …

In diesem „Ich nicht! – Ich nie!“ schaudert die Menschheit in dir, und ihr Schaudern ist auch dein bestes Teil. Doch mit ihm allein kommst du nicht weiter, denn dieses Schaudern schließt dich nicht ein

In diesem „Ich nicht! – Ich nie!“ brüllt der Andere auf, daß er nie dieser Eine gewesen sei, und in dieser Form ist er dieser Eine ja auch nicht gewesen. Ohne dieses „Ich nicht!“ könnte der Andere nicht leben; aber mit diesem „Ich nicht!“ kann er den Einen nicht erkennen und also auch nicht überwinden

Dieses „Ich nicht! – Ich nie!“ ist ein menschliches Grundrecht, und wer es nie gestammelt, wäre ein Stein. Aber in diesem „Ich nicht! – Ich nie!“ lebt auch die romantische Auffassung vom geistig – moralisch souveränen Individuum fort, und damit sind die Bewegungen dieses Jahrhunderts nicht erfaßbar … Nicht das ist der Faschismus: daß irgendwo ein Rauch nach Menschenfleisch riecht, sondern daß die Vergaser auswechselbar sind“

(aus Franz Fühmann Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens)

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Untergang

Ueber den weißen Weiher

Sind die wilden Vögel fortgezogen

Am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind

Ueber unsere Gräber

Beugt sich die zerbrochene Stirne der Nacht,

Unter Palmen schaukeln wir auf einem silbernen Kahn.

Immer klingen die weißen Mauern der Stadt.

Unter Dornenbogen

O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht

(Georg Trakl)

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