Encore: Wie Dylan meine Geburtsstadt beehrte, Schweiß von der Decke tropfte und wir die Jugend verabschiedeten

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Nachdem ich heute das Obige bei meinen Geburtstagsrecherchen in Sachen Bob Dylan entdeckt habe, gibt es eine Zugabe. Kann nicht anders.

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„Hosch scho ghört, dä Dillen kummt nach Konschtanz!“ Ungläubiges Staunen am anderen Ende der Leitung in Köln – Nippes. „Awa! Blödsinn!“, antwortete ich. Es war keine Ente. Robert Allen Zimmermann beehrte das noch recht junge Konstanzer Zeltfestival. Im Juli 1996. Ich war damals eh ohne Engagement, also runter an den See. Ein Gewährsmann da unten hatte einen größeren Set Karten besorgt und die Veranstalter waren alte Bekannte und Freunde aus den – nicht nur für mich – schwer bewegten 70ern in KN. „s` beese Miggle“ – Die böse Mücke –  hieß die Kneipe jener schwäbisch – bayrischen Studentengang aus der später die Veranstalter dieses historischen Konzertes hervorgehen sollten. Etliche Jahre war das ‚Miggle‘ unser Stammlokal, von wo aus wir in die langen und längeren Nächte starteten. Wir, das war die konschtanzweit weltbekannte Markgrafenstrasse 8a. Davon später mal mehr Geschichten.

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Viele Wiedersehen vor dem kleinen Zirkuszelt. 16 Jahre nachdem ich die Heimat verlassen hatte. Kaum einer fehlte. Die ganze damalige Szene sehr präsent vertreten und ein extrem gut gelaunter und für seine Verhältnisse staubtrocken rockender Dylan. Es war ein heißer Tag und nach kürzester Zeit tropfte der kondensierte Schweiß vom Zeltdach zurück auf die vom ersten Song an feiernde Menge. Klassentreffen. Homecoming. Anekdoten. A`s dröhnende Lache. HJ`s euphorische Pfiffe. Y`s beschlagene Brillengläser. R`s ewiges Grinsen. J´s esoterische Tänze. T., der nicht begriff, was da vor sich ging, aber ständig labberte. Mein Bruder, der den ganzen Nachmittag auf „Like a Rolling Stone“ wartete, vergebens. Und der große B., der stand wie ein Denkmal und sich lediglich den Bart kraulte. Anerkennend. „It schlecht, der Kerle!“ Ausgestreckter Finger nach ganz oben für ihn.

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Die Ratespiele am Anfang jeden Songs. Ein Ritual bei jedem Dylan – Konzert. Mein Ehrgeiz: stets der Erste zu sein, welcher den angespielten Song erkennt. Es gelang mir recht häufig, nicht immer. Übung für den Meister macht es. Ein großer Nachmittag. Man meinte sich später sogar daran zu erinnern, der Bobby habe, angesteckt von dieser unglaublichen Euphorie, den Bodensee gelobt. „Great place!“ Oder so ähnlich. Schöne Legende. Was er tatsächlich sagte: „Alright so … We gotta go now… we got places to be and things to do.“

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Es war mit das intensivste und beste der vielen Konzerte, die ich seither besucht habe. Danach hockten wir noch in großen Runden und tranken Bier und als ich ging, mit meiner damaligen, der ersten Gattin, sehr wehmütig, schien es mir als hätte Dylan für uns, die wir alle so um die vierzig Jahre alt waren, zum endgültigen Abschied von unser aller Jugend ein gutgelauntes Ständchen gegeben. Gut. Wir müssen gehen. Es gibt genügend Orte, die auf uns warten. Und wir haben noch einiges zu erledigen. Hatte er das gesagt?

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Wie man es nimmt. Ein paar Monate später wurde ich vierzig und kurz danach verließ ich die Ehe. Es folgte über Jahre eine wilde emotionale Achterbahnfahrt, Höhen und Tiefen in Sachen Herzeleid, die man eigentlich in diesem Alter überwunden zu haben glaubte. Nein, weitere zehn Jahre dauerte es bis ich zur Ruhe kam. Und es hält an. Ein stabiles Azorenhoch in Sachen Liebe.

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Will ich mal wieder etwas Achterbahn fahren – oder war es doch eine Geisterbahn? – greife ich zu dem ein oder anderen Lied des Meisters.  Und da Dylan seit 2006 mehrere Kreativitätsschübe hatte und immer noch hat, gibt es sie nun mehr und mehr die Lieder des Alterns, die Lieder von der Fahrt über eine ruhige See. Wobei, bei ihm darf man sich nie sicher sein, ob nicht vielleicht doch Moby Dick vor dir auftaucht oder dein Boot auf Grund läuft. Never be too sure. Wir sind nur Menschen. Nicht immer die Hellsten. Also weitermachen. Das hilft. Gerade in Zeiten der Pandemie. It’s not over.

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Wie Dylan in Dresden seinen 59ten feierte, ich Gundis Geist nicht erkannte und die Marie sich vom Acker machte

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Im Frühsommer 2000 arbeitete ich im damals noch recht neuem Osten in einem sehr obskuren freien „FAUST – Projekt“ mit. Financier war eine Schweizer Großbank. Ich spielte den Mephisto, genauer einen bei Tom Waits „Magic Bullets“ entlehnten Peg Leg. Untergebracht war ich in einen kleinen Ort im Süden von Leipzig. Die Regisseurin bewohnte dort mit ihren Pferden, vielen Katzen und ihrem Mann eine alte Fabrikantenvilla auf dem Gelände eines abgewickelten VEB. Schuhe wurden dort einst produziert. Vor dem zweiten Weltkrieg. Nach dem zweiten Weltkrieg. Nun nicht mehr. Die Wende halt. Wir probten in den Stallungen, die zu der Villa gehörten oder im Ratshauskeller des Ortes. Ansonsten saßen wir im großen Garten, grillten, kochten, machten Musik, tranken, quatschten und ich zog eine kleine kranke Katze groß. Und die Nachbarn schauten auch gerne mal vorbei. Oder luden uns zu ihren Dorffeierlichkeiten ein.

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N., der Mann der Regisseurin, war Schweizer, so um die fünfzig und immer noch ein bekennender Kiffer. Eines Tages hielt er mir die Leipziger Volkszeitung unter die Nase. „Hier, Dein Dylan spielt in Dresden in zwei Wochen.“ „Fährst Du mich hin? Ich lad‘ Dich ein!“  Auf der Hinfahrt rollte ich auf der Klappe des Handschuhfachs des alten Volvos einige Kräuterzigaretten für den Chauffeur. Das verlernt man nie. Wir erreichten die Freilichtbühne „Junge Garde“ beseelt. Es war N.‘s erster Bob live.

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Damals hatte sich Dylan wieder mal musikalisch in die „Grand Ole Opry“ begeben. Es niddelte, slidete, mandolinte und nashvillte vor sich, daß es eine Freude war. Ich mag diese Phase seines Schaffens sehr. Nach dem fünften Lied – Immer noch kein „Like a Rolling Stone“? Das macht den Laien ungeduldig! – fragte mich N.: „Warum ist der so unfreundlich? Der spricht gar nicht zu seinen Fans!“ „Erstens bin ich kein Fan, sondern verfolge sein Schaffen. Und zum zweiten sprechen seine Lieder!“ „Du bisch en genauso arroganter Sirch wie seller!“ „Ist das jetzt ein Kompliment? Halt die Gosch. I sollt jetzt lose! Und, häsch mir noch ä Ziggi?“

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Das schätze ich an Dylans Arbeit vor Publikum. Er schleudert den Menschen kein dämliches „Hämbörg, how are you?“ oder „Do you fell allright, Treysden?“ entgegen. Er singt, spielt seine Instrumente, atmet in die Harp ein und wieder aus, fertig. Ab und zu stellt er seine großartige Band vor. Selbst das unterlässt er gelegentlich. Man kann so unter vielen sehr schön allein sein. Nur zuhören sollte man. Muß man auch, weil auf jeder Tour eine leicht veränderte Stimme zu hören ist, neue Arrangements, veränderte Setlist. Oft überraschend, seltener ärgerlich. Und je kleiner die Bühne, desto mehr Freude an der Arbeit hat er. Die „Junge Garde“ war eine kleine Bühne. (Gibt es sie noch, frage ich mich eben.) Stimmt schon, so manches Dylan – Konzert ist von einer seltsam andächtigen Stimmung überlagert. „Gottesdienst, oder was?“ hörte ich so manchen lästern. Nun gut, warum nicht? Gott ist nicht die dümmste Erfindung der Menschheit. Wir reden nicht von der Kirche, Genossen!

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Das Konzert in Dresden war tatsächlich ein Gottesdienst. Viele – oft einsame Männer – in Dylans Alter im Publikum, eindeutig Bürger Ost, ergriffen, wissend um die Bedeutung, die die Lieder einst für sie hatten. Ich weiß von manchem Kollegen, was der Erwerb einer Originalpressung bedeutete, einst hinter dem antifaschistischen Schutzwall. Der Applaus zwischen den Songs war meist kurz und artig, fast gerührt. Irgendwann öffnete auch N. sein Herz für Herrn Zimmermann, packte der doch mit den letzten sieben Songs des Sets alles aus, was so Grundwissen sein sollte in Sachen „His Bobness“. (Ein grauenhafter Begriff, der sich irgendwann bei den Schreiberlingen nachplappernd eingebürgert hat. Einmal tippen wollte ich ihn aber doch. I got blisters on my fingers.) Am Schluß des Konzerts flogen Geburtstagsgeschenke auf die Bühne. Blumen. Bilder. Ein Billbox – Hat und ein mit Blumen geschmückter Rolling – Thunder – Borsalino. Dann geschah das „Unfassbare“. Dylan, von seiner Band an die Rampe geschoben, sprach zum ihn feiernden Publikum. „Thank you! I will remember this birthday for a while.“ N. und ich, wir umarmten uns. Kurz.

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Auf der neuen Autobahn Richtung Leipzig, eben hatte wir die Stadtgrenzen von Dresden passiert, überholten uns – N. fuhr nicht gerade langsam – zwei schwarze Busse. Beat the Street stand in fetten Lettern auf den Seiten der Geschosse. In dem einem saß der Chef, im anderen die Band. Die Rücklichter tauchten ein in die noch glühende Nacht und verschwanden, heading for another joint. „Bleibt dran! Gib Gas!“ „Häsch Du sie noch älle?“ Wir konnten ihnen nicht folgen.

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„Roll mir noch einen, dann zeig ich Dir mal was! Revanche!“, sagte N. und verließ die Autobahn. Nach einigen Kilometern auf alten DDR – Betonplatten stoppten wir am Rande eines noch aktiven Tagebaus. Nachtschicht. Aus dem gigantischen schwarzen Loch drang zu uns hinauf das Knirschen der sich in die Kohle wühlenden Schaufelradbagger, das Scheppern der Eimerkettenbagger, das Brummen der Großmuldenkipper, ein ständiges Summen und Grummeln, beleuchtete Wesenheiten aus einer anderen Welt kreuzten durch die Nacht. Fasziniert blickten wir hinab. Ein großes Schauspiel, befördert von unseren Räuschen. So gegen Mitternacht winkte ein kleiner Mann mit einer großen Brille, blonden strähnigen Haaren, die unter seinem Helm hervorzauselten, mir zu und rief: „Nu? Wie woar ern heute so, do Zimmermänn. Isch woar ja och mal sein Vormusikant!“ Ich dachte, was will der Kerl von mir. „Ich komme jetzt drei Sekunden zu dir raus, nur bleiben kann ich nicht!“, sang er daraufhin, um am Ende des Liedes in das Cockpit seines 293 zu klettern. „Wer bist du?“, schrie ich ins beleuchtete Dunkel da unten. „Maschinist für Tagebaugroßgeräte und Volkssänger!“ Das war seine Antwort. Falls ich mich recht erinnere. Was war das? Ich verstand kein Wort! Halluzinationen? Ich hatte doch nur gesoffen, mein Kompagnon hatte doch ausdauernd gekifft. Ich schüttelte mich und schnorrte noch eine Kippe von N., bevor der einschlief, öffnete die letzte Büchse Lübzer und wir fuhren heeme.

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Es war der Geist von Gundermann, der nach mir gerufen hatte. Ich benötigte 18 Jahre, um zu antworten. „Ja, Gundi. Er war gut der Zimmermann, damals in Dresd‘ne. Richtig, richtig gut. Und jetzt zu dir!“

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In jener Nacht schlief Marie mit dem Tambourmajor. Davon sollte ich ein paar Tage später erfahren. Franz weilte im Osten.

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PS 1: Für die Nobelpreisrede – Leonard Cohen bemerkte anläßlich der Verleihung kurz und knapp: „Für mich ist das in etwa so, als würde man ein Schild vor dem Mount Everest errichten, auf dem ‚höchster Berg der Welt‘ steht.“ – kann man sich gern die achtundzwanzig Minuten Zeit lassen. Der Text läuft unten mit. Ansonsten hoffe ich darauf nach dem Ende der Pandemie noch einmal den Meister live erleben zu dürfen. Ich gratuliere hiermit und höre weiterhin einfach zu.

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PS 2: Die Nachdichtung der Texte in den letzten zehn Tagen hat sehr viel Spaß gemacht und war erhellend. Vielleicht mache ich damit weiter. Etwa so: „Mein Dylan zum Sonntag.“  Oder : „Hallo, hier ist Ihr Monatsbob!“

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