Gestern, Sonntag, weniger Regen, aber noch weniger Sonne, saßen wir in Heuchelheim an einer Bushaltestelle. Was länger. Bus verpasst, der am Wochenende nur stündlich verkehrt in Richtung Metropole Gießen. Warten. Langeweile. Müde und traurig. Warum kann der BVB keine wichtigen Tore schießen? Wir hatten nach unserem Gemüse geschaut, oben Auf der Hardt. Haben die jungen Tomaten die Güsse überlebt? Was macht der Rest? Wir sitzen und gucken. Es rollen die Automobile ohn‘ Unterlaß gen „Zentrum“. Warum? Es ist doch Sonntag. Langweilen die sich eigentlich noch schlimmer als wir an der Bushaltestelle? Man feiert wohl da was. Irgendwas. Was schon? Sich selbst? Wird schon wer Kohle machen, wenn die Langeweile der Umgebung sich in die Kleinstadt ergießt. Dann erfinden wir ein blödes Spiel. Wer zuerst ein Auto sieht, in dem mehr als ein einsamer Mensch sitzt, hat gewonnen. Wurde richtig schwer. Sonst? Es wird gerade der Süden des Landes geflutet. Ich guck immer die aktuellen Pegelstände da unten nach, wo die Familie wohnt. An Mittelhessen rauscht es – noch – vorbei. Schade, aber unsere Tomaten freut es. Trotzdem sehen die richtig Scheiße aus. Der Bach namens Lahn wird diese Stadt kaum beeinträchtigen. Die Hirne der Anwohner schon gar nicht. Empathie ist ein Fremdwort vor Ort. Gerne aber gesungen in Gazetten und Netzen. Lehne ich mich mal so aus dem Fenster raus. Der Bus kommt. Voll. Gut, ab jetzt ganz und noch vorsichtiger getippt: da sitzen nicht die Kimmichs drin. Wir steigen an der Schützenstrasse aus und dachten noch darüber nach dieses seltsame Lahnfest wenigstens mal zu betrachten. Oh Gott. Der erste Meter Hüpfburg an Hüpfburg. Gegenüber kann man seine Krankenkasse fragen, ob das Herz ersetzt werden kann. Ist aber nicht so billig. Oh Gott, bewahre mich vor jeglicher mentaler Verwahrlosung. Und der Besserwisserei. Sonst gehen nicht nur die Clowns schlafen. Siehe unten. Heute scheint mehr Sonne.
Die Schlaflosigkeit ist ein böses Tier und kennt etliche Ursachen. Neue Schmerzen. Alte Schmerzen. Drinnen wie draußen. Geld. Liebe. Wetter. Rheuma. Rücken. Das eigene Schnarchen, an dem man gelegentlich meint ersticken zu müssen. Die unruhige Ermahnung des Menschen neben dir, der sich nach Nachtruhe sehnt. Das Absinken des täglichen Pegels in Richtung neues Verlangen. Karussellfahrten. Reue und Trotz. Genetisch eingepflanzte Wut. Wetterwechsel. Wieder trommelt der Regen gegen das Fenster. Die Angst um die frisch gepflanzten Tomaten. Menschen, die nicht mehr in der Lage sind zu antworten. Oder nicht mehr wollen. Türme der Erwartungen, von denen nicht mehr regnet hinab Rapunzels Haar. Alte Matratzen. Alte längst verschorfte Wunden, welche die erneute Nacht wieder aufkratzt.
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Die letzten Nächte boten einen großartigen Mix aus allen Zutaten. Die Cocktailbar des Grauens. So könnte man übertreiben wollen. Des Nachts.
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Heute in der Nacht fiel mir eine Erinnerung vor die schlaflosen Füße. Zufällig. Großes ungarisches Ehrenwort. Warum auch immer. Einer meiner, wenn nicht der Lieblingsfilm, lag neben mir im Bett und ich stand auf und googelte. Lange. Auf einem ungarischen Portal fand ich ihn und schaute an.
„So, the car is kaputt and your girlfriend is gone and dein haus is sold!“
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Und Bruno S. antwortet darauf: „Hier sind meine letzten drei Dollar!“ Und fährt weiter im Kreis herum. Nennt man wohl Leben.
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Wenn dann alles weg ist, kann man einschlafen. Dann jedoch dräut die nächste Nacht. Oder schlimmer noch ein neuer Morgen. Ein bisserl mehr kann man stets noch verlieren im Nachgang. Singt der Meister. Weiter!
Wer am längsten auf der Tanzfläche bleibt! / Bist du froh und zufrieden?
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Douglas Lloyd „Doug“ Ingle ist verstorben. Da fallen die Erinnerungen aus dem Herzen wie der Regen dieser Tage aus dem Maienhimmel. Viel mehr als nur In A Gadda Da Vida. Jedoch, wer diesen Song, gerne unter Zuhilfenahme rezeptfreier Dopingmittel, die kompletten 17 Minuten auf der Tanzfläche durchhielt, gehörte zu den Geweihten. In der damaligen „Katakombe“ (kurz d‘ Kombe) gelang mir dies das eine oder andere Mal. Ausdruckstanz würde man es heutzutage nennen. Ein Mitglied der schlagenden Jungrocker, die das Tanzlokal einst beehrten, um die „Hippies“ und „Terrorischte“ ein bisserl zu erschrecken, sagte mal zu mir, ob jetzt ernst gemeint oder nicht, wieso ich nicht gleich zum Theater ginge. Habe ich ja dann gemacht. Das dauerte zwar entschieden länger als 17 Minuten, fühlte sich aber oft genau so an, wie in diesen unendlichen Minuten nach dem Drumsolo, welches wir alle auswendig buchstabieren konnten. Am End‘ war man fix und foxi.
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Das immer von großem Drama erfüllte Timbre von Doug Ingles Gesang berührte mich ab dem ersten Hören. Wie man heute so sagt: Gänsehaut. Heute noch. Vor allem wenn er vom anderen Geschlecht sang. Oder mich mit einem meiner Lieblingssongs unvermittelt anbrüllte und mich fragte, ob ich glücklich sei. Was sollte ich da antworten? Beschwerdefrei glücklich war ich nie in meinem Leben. Der geerbte Schwarze Hund lief stets neben mir kläffend. Wenn es mir besser ging, vielleicht ein paar Meter hinter mir. Schwanzwedelnd wie ein folgsamer Gatte. Es dauert Jahre, Jahrzehnte bis ich den Gefährten als Schwarzen Hund erkannte. Glück ist vielleicht die Abwesenheit von Insomnia und Schulden. Wenn ich mich glücklich gab, war ich meist zu laut, zu überdreht, zu bedröhnt, viel zu selbstbesoffen.
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1978 in Freiburg schrie das Glück nur so aus mir raus. Ich hatte eine junge, sehr junge Frau kennengelernt. Ich 21, sie 16 und schon in den Armen des Teufels H durch das Leben tanzend. Nie wieder hat mich eine „Frau“ dermaßen in der Gegend rumgeschickt. Besorg das. Färb dir die Haare. Sing nicht so. Nachts strolchte ich vor Aufregung zitternd durch Freiburg. Klaute für sie Rosen aus Vorgärten, einen Bierkasten aus dem Supermarkt, ein Fahrrad und Zigaretten überall. Und in meinen Kopf in Dauerschleife ein euphorisches Lied. Tage später schmiß ich auf ihren Wunsch Mister H ins Clo, spülte ihn runter. Wir trampten nach Amsterdam. Paris. Sie hielt den Daumen hoch. Ich mußte ins Gebüsch. Die Autos hielten ohne groß zu überlegen und sie redete mich auf den Beifahrersitz und uns so durch Deutschland, Osnabrück, Holland, Frankreich. Immer wenn es dir schlecht geht, sagte sie noch in Amsterdam, singst du vor dich hin. Sie hatte recht.
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Wieder in Freiburg, ich hatte alten Konschtanzer Freunden versprochen zu dritt nach Marokko zu hitchhiken, räumte ich etwas überhastet den Platz an ihrer Seite. Mister H freute sich nach mehrwöchiger Abwesenheit und übernahm wieder das Regiment. Ich hatte die Reiseroute geplant und ihr die Postämter einiger Halteorte aufgeschrieben. Dort könne sie im Notfall Briefe hinsenden. Poste restante. Obwohl wir auf dem Hinweg sehr langsam vorankamen, keine Post auf Nachfrage in den vereinbarten Postämtern. Es war eine seltsame Reise. Eine eigene Geschichte wert. Zurück in Freiburg. Alles klebrig. Bitter. Hast du keine Post gekriegt? Nein. Arschloch! Aber ich hab‘ doch. Fass mich nicht an. Sing mir ein Lied. Und dann fuhren wir beide ganz weit weg. Sie mit dem Teufel nach Berlin und wurde ein Stück des Berliner Untergrunds. Ich brach mein Studium der Literatur und Politik ab, ich war extra wegen uns von Konstanz nach Freiburg gewechselt, und ging wenig später auf die Schauspielschule. Erst in den USA und dann in Köln.
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Ich war dabei meine Sachen zu packen, da rief mich ein guter Freund an, bei dem ich zeitweise gemeldet war in Freiburg, er habe einen Packen Briefe entgegengenommen für mich. Briefe. Briefe die zurückgesandt. Aus Avignon. Barcelona. Malaga. Algeciras. Tanger. Marrakesch. Hilfeschreie. Malende Tintenfüllerschrift. Riesige violette Buchstabenkringel. Und nach Monaten noch waren die Reste des unvermeidlich heftigen Patschulis zu riechen, mit dem die Briefe besprüht wurden. Blieb die Luftspiegelung.
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Alle paar Jahre haben wir mal miteinander telefoniert. Aus heiterem oder düsterem Himmel. Sie sang mir ihre neuesten Lieder in den Hörer. Hielt mir – clean – inzwischen Vorträge über Nüchternheit und daß der Alkohol auch ein mieser Teufel. Fast hätte ich meine Kölner Schauspielausbildung abgebrochen und wäre gen Berlin gepilgert. Später wurde sie eine Zen-Nonne und ihr Leben ward in Teilen verfilmt. Da war ich dann schon in Gießen. Mittelhessen war nie das gewesen, was ich wollte. Aber es ist auch gut so. Geworden. Sehr sogar. Gelegentlich. Auch die nächsten langen 17 Minuten. Durchhaltern und sich dabei freuen. Lebt sie noch? Altersfragen.