Manchmal, vor allem in den ersten zwei Jahren der Ausbildung, bekam der Provinzler Besuch aus der alten Heimat. Pflichtprogramm war dann eine ausgiebige Kneipentour. Euphorie und Stolz: auch ich nun in einer Großen Stadt. Immer ein Muß auf der Tour: das BLUE SHELL. Eine Erinnerung: Frühes Nachmittagskölsch. Mehrere. Die Eingangstüre, Doppeltüre, schwingt sich auf, herein fährt „De Plaat“ aka Onkel Jürgen aka Zeltinger auf einem Minimotorrad. Parkt am Tresen rechterhand des Eingangs. Bestellt lauthals Getränke und ruft dann in den noch recht leeren Saal – mit Blick auf seine feingliedrigen Jungs, die meist in seinem Schlepptau auftauchten – außerdem hätte er noch gerne was zum f….! Sofort! Meiner Begleitung fiel die süddeutsche Kinnlade runter. Mir auch, aber als neugeborener Ex – Provinzler tat ich professionell unüberrascht. Mochte diesen Laden sehr. Noch eine Erinnerung: saß hier oft mit C., die sich dort wohler fühlte als in den Kaschemmen der Südstadt, die meist die 70er nicht hinter sich lassen wollten oder konnten.
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C. war in meiner Schauspielschulklasse. Sie spielte im Speckhut mit. Die jüngste Prostituierte. Wir schlichen eine Zeitlang um einander herum, waren beide liiert, so fest, wie man das damals halt war. In diesem Sommer, auch über die hitzigen Proben, fanden wir zusammen und blieben es fast sechs Jahren lang im steten Auf und ab. Nach wenigen Wochen war sie schwanger. Von wem? Wohl ich. Hoffentlich. Gemeinsam entschieden wir den Abbruch. Ich war dabei. Hielt Hand, als das kleine blutige Ding entsorgt wurde. War es vor oder nach der Premiere, ich weiß nicht mehr. C., zäh wie sie war, stand wenig später wieder auf der Bühne. Die Sommerferien verbrachten wir getrennt. Mißverständnisse. Wir hatten den Verlust nicht verarbeiten können. Sprachlos jenseits der Bühne. Im Herbst, kurz vor Beginn des nächsten Semesters steht sie vor meiner Tür. Wieder schwanger. Ich? Möglich. Ich reagiere arschlöchrig. Zwei Tage später gehen wir durch den Park des Klinikums in Porz. Ich war nicht mehr miteingebunden in die Entscheidung. Selber schuld. Idiot!
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Ich hatte schon vor den Ferien am Schauspiel Köln begonnen für Edvard Bonds „Gerettet“ zu proben. Ich spielte – u.a. zusammen mit dem schwarzen M. – einen der Jugendlichen, welche ein Baby in einen Kinderwagen zu Tode steinigen. Regie führte A., eine der Hauptfiguren im oben erwähnten Buch von Ike über den „Speckhutsommer“. Es war ihre erste Regie und potenzierte ihre eh schon vorhandene Verbissenheit. Erst heute, beim Niederschreiben, stehen diese ständigen Begegnung mit dem Tod, auf der Bühne und im Leben, so plastisch vor meinem erinnernden Aug`.
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Wir nahmen die Proben am Speckhut wieder auf. Es war schwierig. Nicht nur da ich, der Halbstarke in „Gerettet“ trug natürlich Skinheadkopp, den Erzähler nun mit einer extra für mich von der Maske des Schauspiels angefertigten Perücke spielen mußte. Meine erste Perücke. Ein Fremdkörper. Kastriert wie Samson hielt ich das Herz in der Hand. Der intensive Sommer glimmte nur noch nach. Das alte Spielfeuer loderte müde und rauchte stinkend vor sich hin. Das Erinnern fiel allen schwer und es wurde mehr debattiert als ausprobiert. Profis waren wir noch lange nicht. Aber wir mussten noch einige Aufführungen – das war der Deal mit dem Verlag – in der Schlosserei des Schauspiel Köln spielen. Davon als nächstes.
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In diesem Herbst zog ich mir eine Entzündung zu, die ich nicht weiter ernst nahm. Jahre später sollte ich erfahren, daß dies der Grund dafür war, daß ich alle Gedanken an Vaterschaft vergessen mußte. Die Wegweisungen dieses langen Sommers.
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Wie schrieb O. uns ins Programmheft? Sie verwechseln das Theater mit dem Leben und das Leben mit dem Theater? Oder andersrum? Er hatte mir geraten um das Kind zu kämpfen. Ich war zu feige. Oder einfach nur zu wirr.
Bei der Lektüre fremder, eigener, ungeschriebener, geplanter Texte überliest man gerne das sehr häufig verwandte, wenn nicht am meisten geschriebene, getippte, angedachte kleine Wörtlein mit den drei Buchstaben. Und nimmt es als gottgegeben. Aus therapeutischen Gründen nun ersetze ich das Wörtlein im Folgenden mal. Frei nach Murakamis neuen Erzählband. Noch nicht gelesen, aber zumindest bestellt. Beim lokalen Buchdealer! Gelle!
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Natürlich kann Erste Person Singular letztlich nur von dem berichten, was Erste Person Singular als mein Leben bezeichne. Auch wenn Erste Person Singular versuche aus dem Fenster zu blicken und Erste Person Singular versuche zu beschreiben, was Erste Person Singular dort sehe, schon beim Niedertippen dieser wenigen Worte sage Erste Person Singular mir, weshalb Erste Person Singular solche Sätze ertrage, in denen sich das Wörtlein Erste Person Singular dermaßen stapelt, nur weil dort die drei Buchstaben Erste Person Singular zu lesen sind und nicht der aus Neunzehn Buchstaben bestehende auf drei Worte aufgeteilte Begriff „Erste Person Singular“ steht. Da ist doch seltsam, stelle Erste Person Singular fest. Da müssen Erste Person Plural reden von gewaltigem, eventuell vorhandenem Einsparpotential.
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Jetzt gehe Erste Person Singular raus in den Schnee und sage Reflexivpronomen Dativ, daß der Schnee weder für Reflexivpronomen Akkusativ noch gegen Reflexivpronomen Akkusativ vom Himmel fiel. Sondern weil es Gott so gefällt. Heute zumindest.
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Ich blicke, bevor Erste Person Singular aufstehe, unter meinen Schreibtisch und da liegen sie rum die eben aus dem Text Verbannten … Psst, Ihr kleinen vorlauten Säcke! … Singen wir lieber ein Lied und blasen den Kopp frei vom ERSTE PERSON SINGULAR! … Bereit?
Seit drei Wochen jeden Sonntag ein Blick in den Himmel im Kopf. Stelle mir vor, ich begebe mich in den Winterschlaf wie ein Bär. Erwache erst, wenn der ganze Mist vorüber. Träume mich durch alte Lieder. Ab und an hebe ich ein Augenlid, blicke in den Himmel und schaue nach, ob es sich lohnt, mich wieder zu bewegen. Jeden Sonntag. Seit drei Wochen.
Teilzeit – Vaqueros waren wir in diesen Tagen. Keine Prinzen aus Dänemark oder dem Staube Brandenburgs, keine strahlenden Ritter unterm Holderbusch, verliebt ja wie ein Käfer und keine vatermeuchelnden Söhne, nein, wir lebten in der Welt imaginierter Rinderhirten aus dem Sertao, den kargen Steppen im armen Nordwesten Brasiliens. Vaquero, wieviel stolzer klang dies als das Kaugummi kauende Cowboy. Don’t fence me in. Alles schien möglich. Reine Toren. Betonung auf rein. Nicht sauber, aber rein.
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Während dem Rinderhirte, so die Erzählung, der Hang zur Wortkargheit eigen ist, quatschten und quasselten wir ohne Unterlaß. Wenn nicht auf den Proben, den Nachbereitungen derselben oder den häufigen Vollversammlungen – gerne inklusive Gebrüll und Tränen und Pathos – geschah dies, schon allein um Gebrüll und Tränen und Pathos aufzuarbeiten, in den Kneipen. Drei waren innert zwei Minuten fußläufig erreichbar. Die kleinste rechterhand der Toreinfahrt zu unserer Schule. Hier stand der beste Flipper, also der, der am großzügigsten Freispiele ausspuckte und nicht so schnell tilte. An der Ecke zum Luxemburger Wall eine typisch kölsche Eckkneipe, vor allem zum Fußballschauen genutzt, war ja schließlich WM in Spanien in jenem Jahr. Da sahen wir wie der aufsteigende Stern Maradona einem Brasilianer in den Magen trat und bevor der Schiedsrichter Rot zücken konnte, schon vom Platz marschiert war, wir sahen dort die Schande von Gijón, schämten uns und feierten die starke kölsche Fraktion in der Nationalmannschaft, die sich am sogenannten Schlucksee gewissenhaft auf das Turnier vorbereitet hatte. Ein Kölsch geht noch. Dann Proben oder Unterricht oder auch mal Bürodienst oder Treppenhaus putzen. Diente alles der Ausbildung. Tatsächlich. Abends dann zu Kitty, dem Hauptsitzungsort. Auch mit gutem Flipper ausgestattet. Und soviel mehr.
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Der schwarze M. – es gab noch den blonden M., damals liiert mit K. aus unserer Klasse – sowie T., damals noch K. und ich pflegten in diesen Sommer ein Ritual: Mittagsessen beim weltbekannten Bullettenschnellbrater am Barbarossaplatz. Dort lag Toni „Der Tünn“ Schumacher quer in der Luft und rief uns zu: „Fang Dir den BIG MÄC.“ Machten wir gerne. Mehrmals die Woche. Danach noch zum Büdchen: süßen Krempel kaufen. Mit den Duplobildchen garnierten wir später die Rückseite des Bühnenbilds. Kindsköppe. Apropos Flippern, der schwaate M., leider allzu früh vom Krebs abberufen, war in unserer Truppe der kaum schlagbare Pinball Wizard. Er sollte, für mich das größte Talent der Gruppe, nach seinem ersten Engagement den noch frischen Beruf an den Nagel hängen. Zu viel Stress. Sagte er, erbte und wurde Privatier.
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Zu Kitty. Sie hieß nicht so, war aber blond und resolut und ich glaube man hatte sie nach der Saloondame in ‚Rauchende Colts‘ so genannt. Sie schmiß die Theke dieser wunderbaren Nachbarschaftskneipe. Ihr Mann, ein Studierter, was man ihm nicht ansah, stand in der Küche und briet die besten Frikas in Town. Dazu Äadäppelschlott und Erbsen mit Möhrchen. „Schmälchen, Du musst wat essen. Du fällst ja vom Fleische.“ Kitty kümmerte sich. Ich war damals wirklich ein Hungerhaken. Dort saßen wir, die Theatermäxchen und das eigentliche Publikum ließ sich von uns nicht weiter stören. Und wir redeten die Welt auseinander und quatschen sie wieder zusammen. Mit oder ohne unsere Lehrkräfte. Meistens mit. Noch eine Runde. Kritik mit Kölsch und umgekehrt. Manchmal, wenn die letzte Frika verzehrt, zog der Mann von Kitty – Hieß er Ernst? Weiß nicht mehr! – die Decke von seiner Hammondorgel und spielte und sang. Freddy, Kölsches, aber auch mal Brecht und Weill. Da staunten wir, die kleinen Haie ohne Zähne. Letzte Runde. Ne Schabau noch.
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Wir sangen mehr als das wir schliefen in jenem Sommer. Alles war so bedeutsam, aufgeladen, freundlich und wurde so heiß gegessen wie es gekocht wurde oder gestrickt war. Und dann war da ja auch noch die Liebe, jene jenseits der Bühne. Helter Skelter. Davon später. Waren die Vaqueros müde und trunken, verabschiedeten sie auf dem Heimweg in die Südstadt mit frisch ausgebildeter Sangesstimme gerne mal den alten Tag. Oder grüßten den Neuen. War natürlich gelogen, was wir krakeelten, außer von meinem Freund T., wie er nun hieß. Aber eine schöne Lüge war dieses Lied: