Der Wahrheit nachsinnen / – viel Schmerz (Georg Trakl)

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„Wer sich seiner Geschichte nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ George Santayana

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Das was man früher „der Westen“ nannte, befindet sich seit einiger Zeit in einem Zustand virulenter Amnesie und / oder Geschichtsvergessenheit. Egal was geschieht, Capitol, verschärfter „Schließrunter“, Scheitern in Afghanistan, Moria, Waldbrände, Schnee in Madrid, Trainerentlassungen und eigene Krankheit, es wird oft nur aus dem Moment heraus bewertet, kommentiert und eingeordnet, meist garniert mit Entrüstung und auf alle Fälle kategorisch oder wie man es gerne nennt: meinungsstark. Man blickt auf die Geschehnisse als sei man selbst nicht Teil der Welt, sondern lediglich Beobachter. Wie und auf welchen Wegen eine Gesellschaft und so man selbst an diesen Punkt geraten ist, wird selten ins Kalkül gezogen. Keine Zeit oder man könnte ja unangenehm verstrickt gewesen sein.

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Ich lese viel, zur Zeit noch mehr. Mir fiel auf, daß in den letzten Wochen hauptsächlich Werke ostdeutsch sozialisierter Schriftsteller auf meinen Nachttisch lagen. Wolfgang Hilbig vor allem, Christoph Hein, Günter Bruyn, Brigitte Reimann, Peter Richter, Durs Grünbein, Thilo Krause. Was ich – generalisierend – an deren Werken schätze, daß sie nicht das Hohelied der Selbstverwirklichung singen oder vom Mythos des freien Individuums, sondern ihre Figuren und sich selbst stets in einem Geflecht von Abhängigkeiten, Ambivalenzen, historisch verebter Schuld, den Versuchen dieser zu entfliehen oder sich ihr zu stellen, ansiedeln. Ein Menschenleben erzählt sich mir eher in Reibung mit den Zeitläuften und nicht nur aus familiären Zusammenhängen heraus. Familie ist kein ahistorischer Raum. Diese Herangehensweise erfordert Wühlarbeit und eine gewisse Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber.

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Wie der Maulwurf / der sich gräbt wühlt ackert / unermüdlich unerschrocken unerbittlich / durch das Bergwerk / die Stollengänge seines Lebens / dessen getrübtes Auge nicht sieht den Stiefel / einmal nur die Sonne auf seinem Fell, einmal nur / Tereisias ach Tereisias / der Stiefel des Bauern / fährt nieder / einmal nur die Sonne auf seinem Fell wollte er / der Schädel bricht / die Sonne auf seinem Fell / als er schob seinen Schädel hinaus ins Licht

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Obiges schrieb ich, als ich im Sommer 2014 mit dem Fahrrad nach Märkisch – Buchholz „pilgerte“, um das Grab von Franz Fühmann zu besuchen. Fühmann – Jesuitenschüler, dann glühender Nazi, glücklicherweise – für ihn – von den Sowjets nur gefangen genommen, Umerziehungslager, später Jubelstalinist, Staatsschriftsteller, langsam wachsender Zweifel, alkoholkrank, schließlich Dämmerung, Wandlung, die Trakl – Erfahrung, Sturz des Engels, Biermann, Alkohol wieder, noch ein Entzug, radikale Askese, schließlich bis zum Tode sich aufreibend in der Auseinandersetzung mit dem einst verehrten Staat – ist der gnadenloseste literarische „In – sich – und – der – Welt – Wühler“, der mir je begegnete, übertroffen nur von seinem Ziehsohn Wolfgang Hilbig. („Das Provisorium“) Die letzten Jahre seines Lebens saß Fühmann meist in seiner Garage in Märkisch – Buchholz und arbeitet dort an einem nie vollendeten Werk, fuhr täglich ein in sein Bergwerk.

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„Ich grüße alle jungen Kollegen, die sich als obersten Wert ihres Schreibens, die Wahrheit erwählt haben.“ (Grabinschrift Franz Fühmann)

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Was immer das sei: die Wahrheit. Wesentlich scheint mir die Bereitschaft, sich auf die Suche zu begeben. Ausdauernd.

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PS: Ich hatte im Jahre 2014 schon – unterstützt vom neugierigen Denkbär Archibald Mahler – von der kleinen „Pilgerreise“ berichtet. Da und dann hier und schließlich dort!“

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Am Hang der eig’nen Nichtigkeit

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Lebenslang nur Lobgesang

Wieg‘ Dich nicht in Sicherheit

Schon schläft und schnarcht der Schaffensdrang

Sonnt sich in Selbstgefälligkeit

Der Pflichten Liste ellenlang

Jenseits der Begehrlichkeit

Ein halbwegs aufgerichtet’ Gang

Auch auf dem Weg zur Örtlichkeit

`S ist von Belang nur Stetigkeit

Ansonsten saust der Bumerang

Und donnert Dir direktemang

Ans Hirn Oh Überheblichkeit

Da hilft auch keine Trunkenheit

Ein Hoch auf die Vergänglichkeit

Aus tausend Kehlen Abgesang

Verriegelt ist der Notausgang

Und dies schon lang seit seinerzeit

Am Hang der eig’nen Nichtigkeit

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(frühsommer 2015)

Was mache ich hier eigentlich?

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Seit einen Monat existiert dieser Blog. Es macht Spaß. Es ist mir als sei der – auch durch zu viel Alkohol – verstopfte Gedankenabfluß wieder freigelegt. Dennoch: was mache ich hier? Mentale Luftgitarre spielen? In einen abgedunkelten Raum Ideen hineinschießen, welche mir um die Ohren fliegen wie Squashbälle? Oder betrachte ich nur die Schatten an der Wand wie John Lennon in seinen regungslosen Jahren im Dakota – Building?

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bagatelle 12

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Die abgehäuteten abgehangenen Momente

Im Rückspiegel

Gelagert in Schubladen Zettelkästen

Verzettelkästen eingefroren

Die erhitzten Erinnerungen durchgegart

Gewürzt mit Arabesken versuche

Ich zu drücken durch ein Sieb

Montiere dazu die Butter

Der leichten Übertreibung

Und versuche wie einst als Junge

An der Bushaltestelle wartend auf

Den Bus zur Schule zwischen den

Brettern der Wartebank hindurch zu spucken

Das zu treffen was gewesen sein mag

Kein Paradies diese Erinnerung

Auch nicht Bagatelle aber

Tauschen mochte ich nie

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PS: Oben 2018 auf dem Markt in Kalamata. Portionieren muß man selbst.

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wassertage zwei

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Ein stiller Spiegel.

Tief bohrt sich in das rastende Herz –

das Rascheln eines Blattes.

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Flüchtiger Anblick.

Der Kranich stolziert im Teich.

War es nicht gestern?

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Singende Frösche.

Nehmt Euch einfach, was da ist.

Ich teile das Schilf.

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Diese Nacht wandelte ich

um den Teich. Es führte mich die Stille.

Einsamer Mond.

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Erquickendes Licht.

Zwischen Schleierwolken die frühe Sonne

bescheint den Teich.

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(Juni 2010 / zu Ehren des Meister Basho)

Rio Reiser würde 71 (nachträglich)

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Alles verändert sich, wenn du es veränderst.

Doch du kannst nicht gewinnen, solange du allein bist!

Alles verändert sich, wenn du es veränderst.

Doch du kannst nicht gewinnen, solange du allein bist!

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Ein Baum kann nicht blühen, wenn keine Sonne scheint.

Und es gibt keinen Fluß, wenn kein Regen fällt.

Und es gibt keine Wahrheit, wenn wir sie nicht suchen.

Und es gibt keine Freiheit, wenn wir sie nicht nehmen.

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PS 1: Letzten Samstag wäre Rio Reiser 71 geworden. Gerade noch dran gedacht. Er fehlt.

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PS 2: Für die beiden Fotos vom „König von Deutschland“ danke ich mit liebem Gruß Udo Herbster, dem genialen Bühnenbildner seinerzeit. Oben Bühnenbildmodell, unten Beleuchtungsprobe. Das waren die guten Tage.

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wassertage eins

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Verehrenswerter Morgen.

Frische Gräser – sanfter Fluß.

Von Sonnenstrahlen durchglänzt!

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Eilendes Wasser.

Die Fische steigen bergauf.

Mein Magen, er knurrt.

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Der siebente Tag.

Schon die Luft dieses Morgens.

Ganz anders schmeckt sie.

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Nahender Sommer.

Milder Wind spielt mit den Halmen.

Wer hatte gerufen?

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Für eine ganze Weile

an den Ufern geborgen.

Es bleiben Ziele.

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(Juni 2010 / zu Ehren des Meister Basho)

bagatelle elf

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Gerädert tief gerändert aufgerissen die

Augen seine Hände mir unter die Nase gehalten

Der ich gegenüber sitze dem Mimen in der

Garderobe und höre versuche zu verstehen versuche

Es zu greifen was nach mir

Greift und krampft und weiß nicht wie den

Druck tu es weg ich sag das Glänzen das Wollen das

Ich will aber gut sein und ich kann es nicht ertragen wenn

Doch du laß das Publikum schauen hören und

Sagen braucht mir keiner was und mein Körper

Nenn es nicht Bagatelle das Beackern und

Abwägen der Worte des Buches

Auftrag Aufgabe Gedanke

Das Anstrengende nichts Versprechende und

Suchen ich kann jetzt noch nicht sagen wie

Sagen braucht mir der Regisseur nur wo das

Licht in dem ich stehen soll sagte mir

Der Mime in der Garderobe wo ich saß ihm gegenüber

Saßen noch meine staunenden Ohren die matten Augen

Müde vom Hinschauen Zuschauen Entscheiden und meine

Haut die Hülle aus der Zeit

Gefallen aber

Ich war schon gegangen

Von außen noch blickte ich auf

Die alte Liebe sie runzelte

Meine Stirn und ich begann sie

Zu siezen

(November 2019)

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Das Pferdestück

Oder

Der Blumenspaziergänger

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Gestern fuhr ich – 12 km und mit dem Bus, gelle! – ins Umland, ein bisserl Schnee suchen. Ich fand ihn, lief los und der Mann mit dem Pferd begegnete mir. Es lebe die Coincidentia. Weiter lief ich. Auf einer kleinen Hochebene namens Gesprächskopf (sic!) hat ein rühriger Heimatverein Holztafeln mit den ehemaligen Bezeichnungen der Äcker, Wiesen und Parzellen aufgestellt. Ich las vom Gänseacker, dem Kreuzacker, dem Kreuzackerkopf, der Wingertseite, von Schmittsweide und hatte meine Freude an der Sprache der Altvorderen. Schließlich stand ich vor dem ehemaligen „Pferdestück“ und dachte, deformation professionelle, wie hätte ein Theaterstück, welches ich unter diesem Titel zu verfassen hätte, auszusehen. Hätte es zu tun mit dem Zurückblicken, der Sehnsucht, dem ewigen Bedauern, in einem Alter, wo man immer seltener in der Führerkabine des Zuges mit dem Namen „Mein Leben“ steht, sondern meist auf der Aussichtsplattform des letzten Waggons? Man sieht, wehmütig oder zugetan, die Landschaft, die Städte, den Himmel vor seinem trüber oder auch hellsichtiger werdenden Auge entschwinden. Mir fiel ein eine Meldung vom letzten Sommer. Ein alter Mann aus Thüringen irrte mit Blumenkübeln in der Hand über die Autobahn vor den Toren meiner Wohnstadt. Alt? 66 Jahre? Bitte? Ich werde dieses Jahr FÜNFUNDSECHZIG.

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Wenn ich Freunden und Bekannten meiner Altersgruppe gegenüber erwähne, daß wir ja jetzt – Keith Richards hin oder her – wohl alt sind, steht etlichen von ihnen sofort der Angstschweiß des Protestes auf der Stirn. Alt? Wir doch nicht, eine Generation die schon immer den Mitgliedsausweis der Jugendberufsfeuerwehr in der Tasche trug, mit lebenslanger Gültigkeit, meine Damen und Herren!

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Schon beim ersten Lesen der Geschichte des – so nenne ich ihn mal – Blumenspaziergängers dachte ich: Theaterstück. Werde nächste Woche beginnen daran zu arbeiten und hier ab und an kleine Vorschausätze reinstellen. Unten das Haus, wo die Geschichte beginnen könnte. In der Straße des Friedens. Ach ich vergaß, die letzte Tafel vor der ich stehenblieb: der Christenstrauch. Auch schön!

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