In the Bordertowns of Despair / Six

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Bob Dylan / Woman in Red Lion Pub

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6

Löwenmähne dachte er, Löwenmähne. Ihre Löwenmähne, eine gewaltiger wirrer lockender Haarwasserfall, den sie in seiner Gegenwart meistens streng zusammengefasst hatte, doch jeder Regisseur, jede Kostümbildnerin bat sie und meist mit Erfolg, ihr Haar zu öffnen und über die Bühne direkt in die Herzen und Hosen der Männer fliegen zu lassen. Sie liebt es hart, knapp und abgehackt zu spielen, jedes Wort behauen, ziseliert, Kontrolle bis in den kleinsten Finger, nur eines flog und wogte wild, jenseits aller Kontrolle: die Löwenmähne. An der Löwenmähne über die Bühne geschleift schrie das Tier Marie und der gelbe Schweiß des Woyzeck Franz benetzte ihre Haut. Haare, lachte er, da will sich einer die Haare abschneiden, um seine Unschuld zu beweisen. Der Fußballer lachte mit und meinte er lese die Spielberichte gar nicht mehr. Oh doch, er liebte es Kritiken zu lesen, sie selber schon mehrfach vorformuliert habend, mit unmäßiger Heraushebung der eigenen Leistung und dann dieser kleine allmonatliche Schock, wenn da so oft steht nichts, einfach nichts. Der Fotograf plusterte sich auf und sprach von den Großen vor seiner Linse. Der Kellner brachte Weißbier um Weißbier und zum ersten Mal verpasste er die Loreley, denn sie fuhren auf ihrer Seite. Es war ihm zum grässlichen Ritual geworden. Vor etwas mehr als drei Jahren, als er sich für sie entschied, nach langen Monaten des Werbens, Wartens, Gehens, Kommens, war er noch ein verheirateter Mann gewesen. Wenige Tage vor dem Geburtstag seiner Gattin hatte er die legendären Nägel mit Kopfen eingeschlagen, die, die er wollte, hatte ein lautes „Ich will dich doch auch!“ in den verräterischen nachmittäglichen Kissenkampf geschrien, er hat die Nacht durchgetrunken und sich morgens seiner Gattin offenbart. Sein Geburtstagsgeschenk hätte sein sollen: ein Rheinfahrt. Sie taten dies auch, nun verziert mit dem Bändel der Grausamkeit. Und so standen sie auf der Loreley, die Gattin weinte und weinte und weinte aus ihren riesengroßen waidwunden Augen und ihm war kein Umweg zu schade, kein Trick zu billig, um nicht sagen zu müssen: ich liebe: eine andere: nicht: dich. Und jedes Mal auf der Fahrt von seiner in ihre Stadt riss irgendetwas sein Auge aus der Zeitung, dem Text oder der Bierbüchse und er sah hinauf zum Felsen und trauerte, triumphierte oder es war ihm gleich. Es war wie ein kleines Wettspiel mit seinen Instinkten. Diese gewannen immer. Er war auf dem Weg zu einem neuen Denkmal. Ich weiß nicht was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin.

Der Andere war einer von uns. Warten sei die wahre Zeit, sagen wir, lässig die Zigarette in der Hand, lass dir Zeit, siegesgewiß und warm, es kommt wie es kommen muss, das Herz geht dahin, wo es muss und schon greifen wir das Telefon und schmeißen es ins angebetete Glashaus. Jedes kleine Hihi, ich denk an dich, ist eine Nagel. Unsere Wände, sie sind drapiert mit angenagelten Hoffnungen. Wir nageln sie. Wir nehmen sie. Wir belagern. Wir bleiben Ritter. Wir rennen gegen die Wände. Unser Lieblingswort ist der Schrei. Das aufgerissene getriebene himmelsmächtige Maul. Möge Gott der Herr Schwänze hineinstopfen. Ich werde sie malen, ich habe sie geformt, sie ist hart, klar, gnadenlos. Sie ist schön. Das sprach der Andere vor sich hin. Er drückt ihr sein Mantra ins Ohr. Auch er riecht, hier steht ein Burgfräulein auf den Zinnen. Die Luft sirrte von den Handygeschossen, diesen imaginären Sicherungsseilen virtueller Bergbesteiger in einer trostlos flachen Welt. Seine Form war die knappe, der Schmetterball. Er ahnte nicht welch offenes Tor er berannte. Manche wünschen die Uhren liefen rückwärts, er trat dem Stundenzeiger ins Kreuz. Sein Mädchen war pinkeln, das reicht ihm.

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Five

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Bob Dylan / Manhattan Bridge

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5

Er erschrak, als er den Bahnsteig betrat. Es gab Tage, an denen er durch Menschenmassen tänzelte wie ein venezianischer Kellner. Heute jedoch nahm ihm die Wochendendfröhlichkeit der Menschen den Atem und er floh in den Speisewagen. Seinen Tisch teilten ein Fußballprofi eines frisch abgestiegenen Vereins und ein Bildreporter aus einer großen Stadt im Osten, in der er im Frühjahr gearbeitet hatte, den Geist gespielt hatte, der stets das Böse will und … lesen sie ihre Standardwerke doch selber. Kaum hatte der Zug den Fluss überquert und die wehmütigen Türme der großen Kathedrale der alten Stadt waren im Hintergrund verschwunden, hielt der Zug und wurde später umgeleitet. Kinder hatten auf den Gleisen gespielt. Sie hatten. Die drei Vielreiser hatten ihr Thema. Zerfetztes Fleisch zwischen Bahngleisen. Möge der Lokführer seine Träume in den Griff bekommen. Er freute sich zu hören, dass Fußballnationalspieler nachts um 4 betrunken durch die Gassen der Dunkelbierstadt laufen und dumme Lieder singen. Erich Ribbeck saß vor dem Fernseher und polierte derweilen weinend seine Big Bertha. Der Zug hatte die Flußseite gewechselt und er schaute zurück, nach drüben, dorthin wo er noch grüßen sollte, der Schatten des Doms. Es fiel ihm nicht auf, daß er dort nicht mehr zu sehen war. Auf dem Rhein trieb eine Eisscholle vorbei. Der Fußballer sprach von den Spitzen des Eisberges. Sie bestellten noch ein Bier.

„Ja! Ja!“, sagt sie sich immer wieder, „Ich bin eine schöne Frau! Ich bin die Kröte, die sich jeden Morgen selber küsst.“ Heute öffnet sich etwas anderes in ihr als das gute alte Loch. Etwas anderes als dieses ewige Nichts, welches sie seit Jahr und Tag auszufüllen versuchte mit all ihren Sammlungen, den überquellenden Kleiderschränken, nur mit Gewalt zu öffnenden Schubladen voller Ringe, Ketten, Stifte, Broschüren, Frauenzeitschriften, Briefen, ungeöffneten Kontoauszügen, den Tüten voller Schokoladenkekse, die Schuhberge. Jeder Bügel trägt acht Mäntel, zehn Kleider, zwanzig Blusen. Ja, das kann sie: Dinge falten. Sie kann Dinge zusammenlegen. Sie schafft es zehn BHs in einem Briefumschlag unterzubringen. Er hatte ihr geschrieben:

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du verwaltest die liebe wie deinen kleiderschrank.

ein modell, mehrfach erstanden,

in allen farben und schattierungen,

fein säuberlich gestapelt,

warm und wartend,

bereit gelegentlich von dir ausgeführt zu werden,

oder beim nächsten umzug

durch die erinnernd seufzenden hände zu gleiten.

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Natürlich hatte er recht, er hat immer recht. Sie ertrug ihn nicht mehr. Seine ständig ausgefahrenen Krallen. Heute kann sie über ihn lachen. Etwas ist in ihr, das sie wärmt, ihren Schritt befeuchtet. Etwas was ihr panische Angst bereitet. Ja, sie ist schön. Sie ist nicht mehr alleine. „Like a Bridge over troubled water!“ Die Morgensonne scheint in die Küche und hat keine Chance gegen ihr Leuchten. Ich werde ihn nicht umarmen, nein, meine Andere, sie wird es tun. Sie studiert ihre Rolle. Sie schreibt sich ein Drehbuch. Das Handy klingelt. Egon Schiele fragt an, ob er sie zeichnen darf. Sie nickt ein leises JA. Ein Knall, der alle Tauben der Stadt davonfliegen lässt.

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Four

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Bob Dylan / The Bridge

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4

Auch der andere betrat einen Bahnhof, den Bahnhof der neuen Stadt. Seine Freundin reiste an zur morgigen Premiere, ein junges hübsches verhuschtes Mädchen aus dem tiefen Süden, gefärbte Härte, ‚taff‘, wie man so sagt, diese Sorte Mädels, die damals in der großen Pause im Schulhof auf dem Erdboden saßen, Beine über Kreuz, selbstgedrehte Zigaretten rauchten und eben nicht auf Cat Stevens, sondern schon mal auf AC / DC standen, es gibt sie und immer noch und immer wieder. Er gibt den verhuscht mürrisch Verkaterten, sie kennt das und freut sich da zu sein. Auf dem Weg zum Theater plappert er adrenalingetränkt über Egon Schiele, diese morbid bettlakenzerwühlenden Schönheit seiner Mädchenportraits und über das Scheitern. Sie liebt ihn dafür. Er raucht.

Jetzt konnte sie sich sehen. Ihre zweiten Augen klebten auf ihrer Netzhaut. Sie war ein Maulwurf, eine Höhlenbewohnerin. Ihr Vater, er war ein junger gutaussehender – adrett hat das wohl damals geheißen – Schauspieler am Theater seines Intendantenvaters, jener, ein strenger harter gnadenloser Mann, aus dem Krieg hervor gekrochen, bis in die Seele verwundet, gemantelt in den Kokon preußischer Disziplin und Gnadenlosigkeit, hatte in jenem Sommer, den man in San Francisco als den Sommer der Liebe besungen hatte, sich im Schoss einer kleinen Tänzerin verloren und wollte sich, die Unterhose noch in der Hand, davonmachen. Doch die lästige Frucht war da und verbiss sich im Uterus der Mutter. Der Intendantenvater ergriff den flüchtenden Sohn und prügelte, ja prügelte ihn vor den Traualtar. Ein Foto gibt es noch, abgegriffen verweint in einer der vielen ihrer Kisten. Sie sammelt alles. Davon wird noch zu erzählen sein. Man sieht zwei junge Menschen lachend, das verzweifelte Lachen von Todgeweihten, Eingesperrten. Das Maulwurfskind wühlte sich ans Licht der Welt und strahlte klein dunkel pummelig, dem Vater aus dem Gesicht geschnitten, nur die spitze Nase hatte sie von ihrer Mutter mitgenommen. Sie gaben dem Kind einen russischen Männernamen, der zweite Name jedoch war Maria. Die Zeit raste dahin und der Vater war nicht aufzuhalten. Er ging. Es gab so viele Frauen. Er war so jung. Er war so schön. Er war so charmant und er konnte noch nach einer Flasche Whisky eregieren, sagt man. Die kleine Tänzerin holt das Maulwurfskind aus dem Bettchen und es lief ungebremst gegen die Wand. Es hatte über Nacht auf einem Auge 70%, auf dem anderen 30% seiner Sehkraft verloren. Aus den Augen aus dem Sinn. So sagen die Alten. Wenn ich dich nicht mehr sehen darf, will ich nur noch mich spüren. Dort draußen bist du, außerhalb meiner, da draußen weit weit weg und dort muss es auch sein, das Böse, daß dich geholt hat. Du bist nur da, wenn ich es will. Ich sehe dich nicht mehr. Nicht weil du weg bist, ich kann ja nicht sehen. Ich rieche dich. Nachdem ich Dich rief. Sie blickte in den Spiegel und hatte keinen Plan. Ihre Masken lagen im Kleiderschrank und immer noch nicht hatte sie geschrien. Die gute alte Schlange Lüge räkelte sich in ihrem Waschbecken. Ich bin Maria und habe unbefleckt empfangen.

Der andere betritt den Probenraum setzt sich und atmet ihren Duft, der in dem kleinen Theater  hängt, betritt ihre Garderobe und berührt ihre Kostüme, vergräbt sein Gesicht in ihren Rock und erleichtert sich auf der Toilette. „All apologies. Married. Buried.“ Auf dem Weg zurück kommt er an einem alten Theaterplakat vorbei. Ein dicker, schwitzender, jungenhafter Schauspieler blickt ihn an. Woher soll der Andere auch wissen, dass jener vor wenigen Wochen den Leib besessen hatte, den er nun ergreifen wollte. Er habe so schön bitte gesagt. Hatte sie gesagt. Doch dies tut nichts zur Sache. Der Andere tänzelte auf der Probebühne herum, siegestrunken und bereit zuzuschlagen. Sanft streichelte er ihr Foto, welches er seit Wochen mit sich trug. Er hatte sie fotographiert. Auf dem Weg zur Probe. Heimlich. Sie strahlte. Eine SMS verlässt den Raum. Die Liebesbriefe der Armseligen, aus der Hüfte geschossen, Zelebration des intensiven Moments. Sein kleiner schwuler Assistent überreichte ihm einen Kaffee und war ernsthaft und schlank. Er mochte seinen Chef. Er verehrte sie.

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Three

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Bob Dylan / Bicycle

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3

Er war damals geflohen. Nach Kreta. Einer seiner ältesten Freunde hatte sich dort ein Haus gebaut. Ganz im Süden. Eine der letzten Ecken, welche noch keine Teerstraße erreicht hatte. Stolz saßen sie dort: die Lehrer, die Sozialarbeiter, die arbeitslosen Traumtänzer, die davon lebten Oktopusse aus dem Meer zu harpunieren und jene ewig betrunkenen Witwen, die versuchten ihren Söhnen zu erklären, das Sucht kein Ausweg ist, das Weinglas in der Hand haltend. Vor der Kneipe, in welcher sich alles traf, die Illusion und das Elend, das Warten und die freundliche Euphorie stand eine Telefonzelle. Hat jemand jemals die Erfindung der Telekommunikation verflucht? Telefonkarte um Telefonkarte fraß sich in den Schlitz, um aus weiter Ferne eine eiskalte Stimme erklingen zu lassen. „Lieber Anrufer, ich tue Dinge, die sinnvoll sind und Spaß machen.“ Warmes holländisches Bier ran durch seine zittrigen Hände und er verstand einfach nichts, nur das Rauschen in seinen Ohren. Sein alter Freund staunte ihn an.

Sie hatte sich damals in Auflösung befunden. Ihre Regisseurin, eine hagere engelhafte Diva, vom Tode gekennzeichnet, der sie wenige Wochen nach der Premiere ereilen sollte, jagte sie über die Bühne, ihre nackten Brüste schleiften über den Bühnenboden, sie betete und barmte, aber keine Träne floss aus ihrem Auge. Ein kleiner blonder Junge stand neben ihr. Er trug seinen Namen, der auch der Name ihres Vaters war.

Die Bahnhofshalle brummte, der ortsansässige Bundesligaverein, gerade wieder aufgestiegen, empfing den ewigen Meister. Mit stolzgeschwellter Brust, melancholisch und maßlos wie es das Naturell der Bewohner dieser Stadt nun mal war, strebten sie einer sicheren Niederlage entgegen. Er wanderte durch ein Meer von Watte. Gott sei Dank war er im Besitz einer Fahrkarte. Es gibt ja Tage, an denen man seine eigenen Hände nicht findet, wenn man sich kratzen will. Heute war ein guter Tag um eine Niederlage zu feiern, ja, zu feiern.

Sie betrat das Bad, blickte in den Spiegel, schrie nicht, nein schrie nicht, sondern begann zu bauen, zu formen, zu gestalten, was sie sein wollte, sollte, musste in den nächsten Tagen, Stunden. Geheimnisvoll, strahlend und bewundernswert. Bodenlos einnehmend. Sich selbst in alle erdenklichen Formen gießen. Das Bad ist ihre Heimat. Sie wusste, er erwartete ihren Anruf. Auf der Hinteren Bleiche klingelte ein Fahrrad.

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Two

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Bob Dylan / Shanghai

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2

Es gibt jene Stunden, es gibt diese Nächte, in denen sich irgendetwas zusammenbraut, jene langen Minuten, in denen Gott Goldfische in ein Glas steckt, sie mit Schnaps begießt und den Pürierstab hineinhält und grinst. Es sind jene Stunden, diese Nächte, in denen Gott sich langweilt oder einfach nur den Beweis führen will: “Was ich erschuf ist ein Haufen Scheiße und ich kann nichts dafür.“ Und wenn es ihm Spaß gemacht hat, malt er ein großes X an seine Zimmertür. „Empfänger unauffindbar verzogen!“ Wer Gott schon mal besucht hat, weiß: diese Türe ist verdammt groß.

In dieser Nacht träumte sie wie sie einen Zug bestieg. Der Zug verließ den Bahnhof und an den Fenstern rauschte etwas vorbei was aussah wie eine friedliche Landschaft, grüne Wiesen, alte Bäume an denen kleine harte und saure Jungäpfel glitzerten. Ein feuchtes, Regen ankündigendes Sommerlicht, nicht sonderlich beunruhigend. Eine ihrer Angewohnheiten war es alle zehn Minuten die im Zug ausliegenden Fahrpläne zu studieren. Sicher ist sicher und wer weiß was schon. Auch Züge können abbiegen. Weichenlos. Plötzlich forderte die Stimme des ersten Zugbegleiters sie auf den Zug unverzüglich zu verlassen. Sie tat wie geheißen. Sie stand auf der grünen Wiese. Und erwachte verwirrt. Diesmal hatte sie noch nicht geschrien.

Er fasste sich und den Telefonhörer und hörte warme Worte, versuchte sich aufzurichten, packte seinen Koffer und brach auf um nach Hause zu fahren. Die Straßenbahn weigerte sich in die Haltestelle einzufahren, mehr und mehr Menschen drängelten sich aneinander. Es war ein Samstag. Wer möchte da nicht in den Fußgängerzonen zerquetscht werden? Die Verkehrsbetriebe seiner alten Stadt sprachen zu den Wartenden: „Auf Grund eines entgleisten Zuges ist auf den Linien x, x und x mit Verspätungen bis zu einer halben Stunde zu rechnen. Wir bitten um ihr Verständnis.“ Vor dem Fahrkartenautomaten bildeten sich verständnislose Schlangen und zwei junge Mädchen, die die Jugendherberge soeben ausgespuckt hatte, boten ihm an ihn unter der Bedingung, er möge ihnen zeigen, wo der Dom steht, zum Bahnhof mitzunehmen. Er willigte ein. Und fluchte in sich hinein, wie er es immer tat, wenn die Welt sich nicht in seinem Tempo bewegte. Und heute?

Sie erwachte. Sie hatte keinen Kater. Weil sie es nicht will? Weil sie es nicht kann?

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / One

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Bob Dylan / Carbondale Motel

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1

Es genügte ihm. Einmal aufwachen, Tränen und Bescheid zu wissen. In der Wohnung seiner Schwester hatte er genächtigt und der alte dicke Kater saß zu seinen Füssen und hatte ihn angeblickt. Auch der wusste: es ist vorbei. Die Luft über der Stadt hatte sich früher als erwartet und erhofft in die Arme des Herbstes gelegt. Dieses Jahr, geizig wie seine Liebste, hatte keine Sekunde zu viel des Sommers rausgerückt. Die Menschen waren nervös und von seltsam trauriger Aggressivität befeuert. Ein paar Zeitungen unter den Arm geklemmt quetschte er sich an den Tresen eines Stehcafes. Dieser war knappe drei Zentimeter breit. Seine Tasse taumelte hin und her und das belegte Brötchen verwandelte sich zu trockenem Brei zwischen seinen Zähnen. Da stand er, würgte und wußte: etwas stirbt. Wenn die Sportseite vor deinen Augen verschwimmt, ist es Zeit nachzudenken. Wenn die Geldstücke im Portemonnaie kleben bleiben und die Schalterdame in der letzten Vorortpostfiliale blickt, als hätte sie den Leibhaftigen geküsst, ist etwas geschehen, dessen Wucht dir das Genick brechen wird.

Schon der gestrige Abend trug Keime des Verfalls in sich. Die Vorstellung, von einer ominösen Stahlfirma gekauft, mit Haut und allen Haaren, begann einfach nicht. Etliche Reden wurden gehalten, es wurde der verstorbenen Firmenmitglieder gedacht und die Pause dauerte solange bis auch der Portier des Unternehmens sein siebtes Sektglas durchgegurgelt hatte. Die Kollegen trugen ihre Worte mit gebührender Distanz über die Bühne und einmal strich eine Hand über seinen Kopf : „Bist du traurig?“. Warum ist man manchmal in der Lage zu verneinen? Als der Zug zurück in die Domstadt sich eine halbe Stunde vor Ankunft auf den Gleisen festfraß und nicht mehr weiterbewegte, wuchs die Zeichenvielfalt ins Unerträgliche. Personenschaden. Er wußte von nichts. Er wußte alles. Er fuhr in den wartenden Abgrund.

In der neuen Stadt hatte sie sich betrunken. Ein Portugiese hatte um die Ecke aufgemacht und keine Stunde länger hätte sie es ausgehalten. Mit ihm. Ohne jenen. Es hatte sie etwas in den Hals gebissen, was sie so nicht kannte. Ihre Augen zogen sich zusammen und mit den letzten Resten ihres instinktsicheren Verstandes ergriff sie die Flucht. Dorthin wollte sie. Das Telefon schwirrte über ihrem toten Schlaf und heute noch ist sie sich nicht sicher, ob sie noch etwas hören konnte oder schon nicht mehr wollte.

In der neuen Stadt geht in jener Nacht der Andere Zigaretten holen und wird blind im Bier. „Come as you are!“ singt er vor sich hin und bricht ein Versprechen. Ein zweites Mal geht er Zigaretten holen, wieder und wieder greift er zum Streichholz und atmet ein den erlösenden Rauch und tänzelt, siegessicher und zitternd wie Espenlaub. Wir wissen nicht, ob er unter ihrem Fenster stand. Wir wissen lediglich: er heißt Curt. Nicht Kurt, nein, sondern: Cörd, wie dieses weggeblasene Gehirn hinter der Polizeiabsperrung an einen kalten Herbsttag in Seattle.

Sie schläft. In dieser Nacht begann der Herbst. Meteorologisch.

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(Mainz / Oktober 2000)

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Auch die Pause gehört zur Musik / Zitat

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Hier kehrt nun wieder Ruhe ein. (Zitat oben ist von Stefan Zweig entliehen.) Nicht das mir nichts mehr einfiele, eher im Gegenteil, aber gelegentlich sollte man die Füße länger stillhalten im Öffentlichen und in der Stube still sitzen, nun da der Herbst usw und sofort.

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Hauptgrund aber, das erste Mal nach knapp zwei Jahren – damals die Gundermann – Premiere und meine letzte Arbeit am örtlichen Theaterbau – werde ich wieder in meinem Hauptberuf als Regisseur arbeiten dürfen. Zwei Arbeiten oben an der Förde bis kurz vor Weihnachten. Endlich ans Meer und mal wieder länger absteigen von mittelhessischen Karussellen.

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Ob es noch geht? Die Vorbereitungen fallen mir dieser Tage sehr schwer. Die Selbstverständlichkeiten alter Tage scheinen perdu. Und nichts ist mir unangenehmer als ständige Wiederbekäung meiner selbst. Vermeiden lässt es sich dennoch sehr schwer. Dies sollte aber vermieden werden. Nun denn!

*

Also dann bis nächstes Jahr!

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PS: Eine kleine Tastenruhe erspart mir auch Kommentare zu bevorstehenden Wahlergebnissen. Jedoch: in der Hinterhand lauert hinterhältig mein Freund Archibald Mahler plus Gefährte. Wohlsein! Stößchen! Und Gesundheit auch!

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Ein kleines Überbrückungslied!

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Immer wieder Sonntags …

… ein kleines Stück Dylan zum Frühstück

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Seit ein paar Wochen jeden Sonntag – ok, fast jeden Sonntag und wenn ich Lust und Zeit habe und nicht meinen Gemüsegarten gießen muß – ein kleines Stückchen Bob Dylan zum Frühstück. Oder Abendessen. Frisch verwurstete Texte. Oder altes Material. Eigener Mist. Fremder Mist. Fundstücke. Auch das alte Brot muß man essen können ohne zu würgen. Auf geht’s. Fast jeden Sonntag. Fast ist mehr als nüscht. Heute ist Samstag.

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Mein Ding

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Alles rast auf Mauern zu

Die Hoffnung ist nur Selbstbetrug

Kein Lied erkauft sich Änderung

Ich sitz‘ in diesem anderen Zug

Ein halbes Wort ist kein ganzer Satz

Es ist die Uhr mit der ich ring

Auch Du, Du bist schon lange fort

Ich denke dieses ist mein Ding

*

Ich hätte nie gedacht, daß ich tue was ich tu

Daß ich lüge glücklich zweigeteilt

Daß es möglich ist so falsch zu sein

Daß mir jegliche Vernunft enteilt

Daß ich wiedermal dem eig’nen Spiegelbild

Ein letztes Ständchen sing

Daß ich nicht mehr weiß, wen ich zuletzt geküßt

Ich glaub auch dieses ist mein Ding

*

Der Zug kriecht aus dem Bahnhof raus

Der Mandelstrauch verblüht

Ich schrei dem Rücklicht hinter her

Das in der Ferne verglüht

Ich pisse an den nächsten Baum

Polier den Ehering

Ich wache auf wie frisch gefoltert

Ich schätz auch dieses ist mein Ding

*

Du warst voll Angst Deine Mauern hoch

Ich wollte sie zerbröckeln seh’n

Ich wollte, daß auf Deinen Wangen

Nur meine Lenden glüh’n

Nachdem ein Sieg errungen war

Die Fahne windstill hing

Geb‘ ich Dir Deine Haut zurück

Auch das ist jetzt mein Ding

*

Ich seh‘ Dich immer wieder geh’n

Es zerfetzt mir mein Gedärm

Ich würde Dir so gerne folgen

Solang ich Deine Füße wärm‘

Ich blieb nie vor Deiner Türe steh’n

Weil dort ein Hinweis hing

Daß wer heimlich kommt ein Verbrecher ist

Auch dieses bleibt mein Ding

*

Das Einzige was mich mit Stolz erfüllt

Ich half Dir auf das Pferd zurück

Als Du erschöpft von einer Ohnmacht warst

Ging ich mit Dir ein kleines Stück

Ob ich ein Heuchler bin oder nur ein Narr

Gar Dein Herzensschmetterling

Abgebroch’ne Flügel wachsen nach

Auch dieses ist vielleicht mein Ding

*

Ich traf mich in Dir, Du fielst in mich

Bin ich denn alles was Du brauchst

Ich höre unser „Ja ich will!“

Auch wenn Du es zu leise hauchst

Laute Angst schnürt uns die Kehlen zu

Wenn die Liebe uns zusammen zwingt

Und Du bewegst Dich lieber nicht

Ich denk‘ auch dieses bleibt mein Ding

*

Noch ist die Rechnung nicht an uns verschickt

Noch lieben wir in Dunkelheit

Doch die ersten Glocken läuten schon

Der Tag der Rache ist nicht weit

Wenn das letzte Blatt gefressen ist

Zerplatzt der Engerling

Ob er sich dann in die Luft erhebt

Auch dieses bleibt mein Ding

*

Gestern Nacht ging ich alleine aus

Ich trank kein einziges Bier

Frauen sprangen mir ins Gesicht

Ich verzehrte mich nach Dir

Ich warte seit Tagen, daß Du Dich rührst

Ich befrage das I – Ging

Weil der Berg nicht zum Propheten kommt

Auch dieses ist mein Ding

*

In Deinem Badezimmer schwimmt eine Flaschenpost

Gib sie weiter, wenn Du kannst

Morgen schau ich Dir lachend zu

Wenn Du aus meinem Leben tanzt

Dreh Dich nicht um, wenn ich den Tränenwust

Aus meinem Auge wring‘

Der Rest wird keinem Mensch erzählt

Auch dieses ist mein Ding

*

Ihr Buben und ihr Mädels

Ihr spielt das Spiel nicht schlecht

Ich sehe uns beim Lügen zu

Mein Herz behackt ein Specht

Du warst niemals mein Eigentum

Auch wenn ich meine Ketten schwing

Einer von uns muß den Abflug machen

Auch dieses wird mein Ding

*

Selbst wenn wir uns nie wieder seh’n

Mein Herz erinner‘ Dich

Wie dies Lied Dich einst gestreichelt hat

Dir in Deine Seele schlich

Ich halt‘ mich an der Gitarre fest

Wenn ich noch leise für Dich sing

Niemand anders als Du kennt diese Melodie

Denn dieses war nur mein Ding

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(Zwischen Neuss und Köln im Herbst 1996 nachgedichtet)

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PS: Alles sehr irritierend in Sachen Dylan zur Zeit. Bis das geklärt ist – was es vielleicht nie sein wird – schweigt diese Rubrik.

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